11. März 2018

Zwei Welten mit 30 Minuten Tramfahrt

Das Schulhaus Hirzenbach in Zürich Schwamendingen ist ein flacher Betonbau zwischen hohen Wohnblöcken, wie ein Kind unter Erwachsenen, ein paar hundert Meter von der Autobahn entfernt. Auf der anderen Seite des Zürichbergs schmiegt sich das Schulhaus Fluntern an den Hang, umgeben von Villen und einer Kirche. Hirzenbach–Fluntern: ein Spaziergang durch den Wald oder dreissig Minuten Tramfahrt. Und doch zwei Welten.
Die Illusion der gleichen Chancen, NZZ, 11.3. von Giorgio Scherrer


Einzimmerwohnung für vier

Die Hirzenbacher Schulsozialarbeiterin Yvonne Christoph-Wyler sagt: «Chancengleichheit ist hier ganz weit weg.» Die Kinder seien nicht weniger intelligent als anderswo, aber das Leben verlange sehr viel von ihnen. Manche leben in einer Einzimmerwohnung für vier Personen, haben einen einzigen Tisch für Hausaufgaben, Essen und Kartoffelnrüsten, bekommen neue Turnschläppchen erst mit dem nächsten Lohn der Eltern. Yvonne Christoph-Wyler sagt: «Hier wird intellektuelles Potenzial nicht abgeholt – und das ist ein Verlust für die Gesellschaft.» Nur vier Prozent der Hirzenbacher Schüler gehen aufs Gymnasium.

In Fluntern sagt der Schulleiter Urs Rechsteiner: «Das Umfeld ist hier sehr bildungsnah. Man kann viel mit den Kindern machen.» Die Lehrer schicken den Eltern jedes Quartal eine Übersicht mit dem kommenden Schulstoff für alle Fächer. Das Gymi ist früh ein Thema. Für Kinder aus bildungsfernen Familien könne der Schulalltag am Zürichberg sehr schwierig sein, sagt Rechsteiner. Auf dem Pausenplatz heisst es zuweilen wie selbstverständlich: «Gäll, gasch dänn au emal is Gymi?» Tatsächlich tun das hier bis zu sechzig Prozent eines Jahrgangs.

Bildung wird vererbt, das ist in der ganzen Schweiz der Fall und durch Studien belegt. Kinder von Akademikern besuchen laut dem Bundesamt für Statistik fast siebenmal häufiger eine Universität als solche von Eltern mit nur obligatorischer Schulbildung. Eine grosse Weichenstellung auf diesem Weg ist die Gymiprüfung, die im Kanton Zürich kommenden Montag und Dienstag stattfindet.

Die Schwamendinger Sozialarbeiterin Yvonne Christoph-Wyler sagt, das Gymnasium werde üblicherweise als Schritt in die Selbständigkeit verkauft. «Dabei werden die einen einfach zu Hause gecoacht – und die anderen nicht.» Wer es trotzdem aufs Gymnasium schaffe, werde dort alleingelassen, unabhängig von der Leistungsbereitschaft, findet Christoph-Wyler. Solche Schüler verlassen das Gymi immer wieder vorzeitig, auch nach bestandener Probezeit. Zu sehr ist es für sie eine andere Welt. Teure Bücher, gepflegte Sprache, digitaler Schulalltag. Und keine Sozialarbeiterin.

Der Flunterner Schulleiter Urs Rechsteiner beobachtet, dass es zwar immer mehr Eltern gibt, denen das Wohlbefinden ihrer Kinder wichtiger ist als deren Noten. Aber es gibt auch weiter Eltern, die ihre Kinder neben dem internen Vorbereitungskurs in ein privates Lerninstitut schicken. Das überfordere die Schüler, sagt Rechsteiner. «Wenn ein Kind derart stark gepusht werden muss, ist es dann wirklich bereit fürs Gymi?»

Eine durchmischte Schule

Zwischen Hirzenbach und Fluntern, neben kleinen Reihenhäusern und einer grossen Strasse, steht das Schulhaus Saatlen. In der bunt durchmischten Primarschule lernen Kinder alteingesessener Handwerker, gebildeter Expats und ehemaliger Flüchtlinge.
Ein Wintermorgen, die Sonne scheint in ein buntes Geschrei aus Französischvokabeln. Der Lehrer sagt ein Wort auf Französisch, schnippt mit den Fingern, die Schüler wiederholen es. Später spielen sie «Schiffe versenken», bauen eine Briefwaage aus Magneten, programmieren einen Roboter. Die Kinder sind motiviert und bei der Sache; fast alle sprechen breiten Dialekt.

Soziale Unterschiede sind nicht sofort sichtbar, aber können sich schnell im Gespräch offenbaren. Ein Fünftklässler sagt, er wolle Anwalt werden. «Das git vil Geld und isch spannend.» Dann fragt er, ob man dafür ins Gymi müsse. «Nomal sächs Jahr id Schuel? Scheisse!» Eine Gruppe Mädchen hingegen hat konkretere Berufspläne: Ärztin, Forscherin, Gerichtsmedizinerin. Sie alle wollen ins Gymi und kennen auch schon jemanden, der es vor ihnen geschafft hat. Rund zehn Prozent der Saatler Schüler schaffen die Prüfung.
Der Lehrer Carlos à Porta sagt, weniger privilegierte Kinder hätten als Ziel nicht das Gymi, sondern einen Job, der ihnen Spass mache und genügend Lohn zum Leben bringe. Aber auch hier gibt es natürlich Ausnahmen. Die Tochter einer bosnischen Druckerin will unbedingt Ärztin werden. Ihre Mutter hat ihr einen Hund versprochen, falls sie die Gymiprüfung schafft. «Das wil ich ebe unbedingt», sagt sie: das Gymi und den Hund.

Was helfen würde

Die Lehrer des Saatlen treffen sich zum Mittagessen in der Pizzeria ums Eck. Fragt man sie, was die Quote des Übertritts ans Gymi am meisten beeinflusse, zeigen sie auf den Zürichberg. «Man muss nur auf die Sonnenseite», sagen sie. Auch für sie wäre es dort leichter. Doch sie bleiben, wo sie mehr bewegen können.

Was hilft ihren Schülern beim Bildungsaufstieg am meisten? Mehr Frühförderung, sagt ein Lehrer. Wer schon mit Rückstand etwa bei der Sprache in die Schule komme, hole nur schwer auf. Auch deshalb forderten kürzlich die Verbände der Zürcher Kindergärtner und Lehrer mehr Klassenassistenten.

Eine andere Lehrerin wünscht sich, dass mehr auf spätere Aufstiegsmöglichkeiten aufmerksam gemacht würde, Stichwort Berufslehre und zweiter Bildungsweg. Eine Lehre bietet Anerkennung in Form eines Lohns und im Lehrmeister eine eindeutige Bezugsperson. Gymis bieten solch klare Strukturen nicht, auch wenn sich das Bild des Lehrerberufs auch dort gewandelt hat.

Zwar gibt es einzelne Initiativen, die den Übertritt ans Gymi für weniger privilegierte Kinder erleichtern: fakultative Deutschkurse, Mathevorbereitung und die Idee, das Kurzzeit- gegenüber dem Langzeitgymnasium zu stärken. Am Kurzzeitgymnasium ist nämlich das Nichtbestehen der Probezeit weniger mit der Herkunft verknüpft.Doch diese Massnahmen setzen bei Kindern an, die schon die Gymiprüfung geschafft haben, nicht bei denen, die gar nicht erst antreten. Für sie gibt es von staatlicher Seite nur die Gymivorbereitungskurse der Primarschulen, deren Durchführung im Kanton nicht obligatorisch ist. Und es gibt Programme, die ohne Fokus auf das Gymi Dinge wie Sprach- und Integrationsprobleme angehen.

Dieser Fokus ist kein Zufall: Einerseits sind die Schwierigkeiten dort offensichtlich. Andererseits sind das Faktoren, die mehr mit Einzelnen zu tun haben als mit der Gesellschaft. Grundlegende, unbequeme Fragen werden so gar nicht erst gestellt. Denn Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft hat mehr mit der Gesellschaft als Ganzes zu tun – mit Arbeitsbedingungen im Billiglohnsektor, mit Sozial- und Wohnpolitik, der Haltung an Gymnasien.

Auch die vergleichsweise späte und eher punktuelle Unterstützung von weniger privilegierten Kindern erst nach bestandener Gymiprüfung ist politisch gewollt. Der Chef des Zürcher kantonalen Mittelschulamts, Niklaus Schatzmann, sagt, es gebe einen breiten Konsens unter Bildungspolitikern, dass der jetzige Anteil an Maturanden dem Bedarf der Gesellschaft entspreche. «Viel mehr leistungsstarke Schüler mit speziellem Hintergrund könnten zu einer höheren Maturaquote führen», sagt Schatzmann. Er betont jedoch, beim Übertritt ans Gymi entscheide allein die Qualität über die Noten.

Fakt ist jedenfalls: Wenn man die Maturaquote nicht erhöhen will und zugleich Akademikereltern weiter ihre Kinder ins Gymi drücken – dann bleibt für andere Kinder nicht viel Platz übrig.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen