Das Schulhaus Hirzenbach in
Zürich Schwamendingen ist ein flacher Betonbau zwischen hohen Wohnblöcken, wie
ein Kind unter Erwachsenen, ein paar hundert Meter von der Autobahn entfernt. Auf der anderen Seite des Zürichbergs
schmiegt sich das Schulhaus Fluntern an
den Hang, umgeben von Villen und einer Kirche. Hirzenbach–Fluntern: ein Spaziergang
durch den Wald oder dreissig Minuten Tramfahrt. Und doch zwei Welten.
Die Illusion der gleichen Chancen, NZZ, 11.3. von Giorgio Scherrer
Einzimmerwohnung für vier
Die Hirzenbacher Schulsozialarbeiterin Yvonne Christoph-Wyler sagt: «Chancengleichheit ist hier ganz weit weg.» Die Kinder seien nicht weniger intelligent als anderswo, aber das Leben verlange sehr viel von ihnen. Manche leben in einer Einzimmerwohnung für vier Personen, haben einen einzigen Tisch für Hausaufgaben, Essen und Kartoffelnrüsten, bekommen neue Turnschläppchen erst mit dem nächsten Lohn der Eltern. Yvonne Christoph-Wyler sagt: «Hier wird intellektuelles Potenzial nicht abgeholt – und das ist ein Verlust für die Gesellschaft.» Nur vier Prozent der Hirzenbacher Schüler gehen aufs Gymnasium.
In Fluntern sagt der Schulleiter Urs
Rechsteiner: «Das Umfeld ist hier sehr bildungsnah. Man kann viel mit den
Kindern machen.» Die Lehrer schicken den Eltern jedes Quartal eine Übersicht
mit dem kommenden Schulstoff für alle Fächer. Das Gymi ist früh ein Thema. Für
Kinder aus bildungsfernen Familien könne der Schulalltag am Zürichberg sehr
schwierig sein, sagt Rechsteiner. Auf dem Pausenplatz heisst es zuweilen wie
selbstverständlich: «Gäll, gasch dänn au emal is Gymi?» Tatsächlich tun das
hier bis zu sechzig Prozent eines Jahrgangs.
Bildung wird
vererbt, das ist in der ganzen Schweiz der Fall und durch Studien belegt. Kinder von Akademikern
besuchen laut dem Bundesamt für Statistik fast
siebenmal häufiger eine Universität als solche von Eltern mit nur
obligatorischer Schulbildung. Eine grosse Weichenstellung auf diesem Weg ist
die Gymiprüfung, die im Kanton Zürich kommenden Montag und Dienstag
stattfindet.
Die Schwamendinger Sozialarbeiterin
Yvonne Christoph-Wyler sagt, das Gymnasium werde üblicherweise als Schritt in
die Selbständigkeit verkauft. «Dabei werden die einen einfach zu Hause gecoacht
– und die anderen nicht.» Wer es trotzdem aufs Gymnasium schaffe, werde dort
alleingelassen, unabhängig von der Leistungsbereitschaft, findet
Christoph-Wyler. Solche Schüler verlassen das Gymi immer wieder vorzeitig, auch
nach bestandener Probezeit. Zu sehr ist es für sie eine andere Welt. Teure
Bücher, gepflegte Sprache, digitaler Schulalltag. Und keine Sozialarbeiterin.
Der Flunterner Schulleiter Urs
Rechsteiner beobachtet, dass es zwar immer mehr Eltern gibt, denen das
Wohlbefinden ihrer Kinder wichtiger ist als deren Noten. Aber es gibt auch
weiter Eltern, die ihre Kinder neben dem internen Vorbereitungskurs in ein
privates Lerninstitut schicken. Das überfordere die Schüler, sagt Rechsteiner.
«Wenn ein Kind derart stark gepusht werden muss, ist es dann wirklich bereit
fürs Gymi?»
Eine durchmischte Schule
Zwischen Hirzenbach und Fluntern,
neben kleinen Reihenhäusern und einer grossen Strasse, steht das Schulhaus Saatlen. In der
bunt durchmischten Primarschule lernen Kinder alteingesessener Handwerker,
gebildeter Expats und ehemaliger Flüchtlinge.
Ein Wintermorgen, die Sonne scheint in
ein buntes Geschrei aus Französischvokabeln. Der Lehrer sagt ein Wort auf
Französisch, schnippt mit den Fingern, die Schüler wiederholen es. Später
spielen sie «Schiffe versenken», bauen eine Briefwaage aus Magneten,
programmieren einen Roboter. Die Kinder sind motiviert und bei der Sache; fast
alle sprechen breiten Dialekt.
Soziale Unterschiede sind nicht sofort
sichtbar, aber können sich schnell im Gespräch offenbaren. Ein Fünftklässler
sagt, er wolle Anwalt werden. «Das git vil Geld und isch spannend.» Dann fragt
er, ob man dafür ins Gymi müsse. «Nomal sächs Jahr id Schuel? Scheisse!» Eine
Gruppe Mädchen hingegen hat konkretere Berufspläne: Ärztin, Forscherin,
Gerichtsmedizinerin. Sie alle wollen ins Gymi und kennen auch schon jemanden,
der es vor ihnen geschafft hat. Rund zehn Prozent der Saatler Schüler schaffen
die Prüfung.
Der Lehrer Carlos à Porta sagt,
weniger privilegierte Kinder hätten als Ziel nicht das Gymi, sondern einen Job,
der ihnen Spass mache und genügend Lohn zum Leben bringe. Aber auch hier gibt
es natürlich Ausnahmen. Die Tochter einer bosnischen Druckerin will unbedingt
Ärztin werden. Ihre Mutter hat ihr einen Hund versprochen, falls sie die
Gymiprüfung schafft. «Das wil ich ebe unbedingt», sagt sie: das Gymi und den
Hund.
Was helfen würde
Die Lehrer des Saatlen treffen sich
zum Mittagessen in der Pizzeria ums Eck. Fragt man sie, was die Quote des
Übertritts ans Gymi am meisten beeinflusse, zeigen sie auf den Zürichberg. «Man
muss nur auf die Sonnenseite», sagen sie. Auch für sie wäre es dort leichter.
Doch sie bleiben, wo sie mehr bewegen können.
Was hilft ihren Schülern beim
Bildungsaufstieg am meisten? Mehr Frühförderung, sagt
ein Lehrer. Wer schon mit Rückstand etwa bei der Sprache in die Schule komme,
hole nur schwer auf. Auch deshalb forderten kürzlich die Verbände der Zürcher
Kindergärtner und Lehrer mehr Klassenassistenten.
Eine andere Lehrerin wünscht sich,
dass mehr auf spätere Aufstiegsmöglichkeiten aufmerksam gemacht würde,
Stichwort Berufslehre und zweiter Bildungsweg. Eine Lehre bietet Anerkennung in
Form eines Lohns und im Lehrmeister eine eindeutige Bezugsperson. Gymis bieten
solch klare Strukturen nicht, auch wenn sich das Bild des Lehrerberufs auch
dort gewandelt hat.
Zwar gibt es einzelne Initiativen, die
den Übertritt ans Gymi für weniger privilegierte Kinder erleichtern:
fakultative Deutschkurse, Mathevorbereitung und
die Idee, das Kurzzeit- gegenüber dem Langzeitgymnasium zu stärken. Am
Kurzzeitgymnasium ist nämlich das Nichtbestehen der Probezeit weniger mit der Herkunft verknüpft.Doch
diese Massnahmen setzen bei Kindern an, die schon die Gymiprüfung geschafft
haben, nicht bei denen, die gar nicht erst antreten. Für sie gibt es von
staatlicher Seite nur die Gymivorbereitungskurse der Primarschulen, deren
Durchführung im Kanton nicht obligatorisch ist. Und
es gibt Programme, die ohne Fokus auf das Gymi Dinge wie Sprach- und Integrationsprobleme
angehen.
Dieser Fokus ist kein Zufall:
Einerseits sind die Schwierigkeiten dort offensichtlich. Andererseits sind das
Faktoren, die mehr mit Einzelnen zu tun haben als mit der Gesellschaft.
Grundlegende, unbequeme Fragen werden so gar nicht erst gestellt. Denn
Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft hat mehr mit der Gesellschaft
als Ganzes zu tun – mit Arbeitsbedingungen im Billiglohnsektor, mit Sozial- und
Wohnpolitik, der Haltung an Gymnasien.
Auch die vergleichsweise späte und
eher punktuelle Unterstützung von weniger privilegierten Kindern erst nach
bestandener Gymiprüfung ist politisch gewollt. Der Chef des Zürcher kantonalen
Mittelschulamts, Niklaus Schatzmann, sagt, es gebe einen breiten Konsens unter
Bildungspolitikern, dass der jetzige Anteil an Maturanden dem Bedarf der
Gesellschaft entspreche. «Viel mehr leistungsstarke Schüler mit speziellem
Hintergrund könnten zu einer höheren Maturaquote führen», sagt Schatzmann. Er
betont jedoch, beim Übertritt ans Gymi entscheide allein die Qualität über die
Noten.
Fakt ist jedenfalls: Wenn man die
Maturaquote nicht erhöhen will und zugleich Akademikereltern weiter ihre Kinder
ins Gymi drücken – dann bleibt für andere Kinder nicht viel Platz übrig.
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