Jetzt heisst
es: lernen, abliefern, zittern. Am Montag finden im Kanton Zürich die
Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium statt. Hunderte Buben und Mädchen versuchen,
den Sprung an die Mittelschule zu schaffen – und damit den Sprung in eine
goldene Zukunft. So denken zumindest viele Mütter und Väter. Gerade gut
situierte Eltern sehen ihren Nachwuchs gerne am Gymnasium. Dafür ist ihnen
selbst Bildungsdoping in Form von teuren Vorbereitungskursen recht.
Ein neues Auswahlsystem könnte das Problem der ungerechten Zuteilung ans Gymnasium verbessern, Bild: Gaetan Bally
Fördern Lehrer die falschen Kinder? Schweiz am Wochenende, 10.3. von Yannick Nock
An der
Goldküste schreibt mittlerweile jedes dritte Kind die Gymi-Aufnahmeprüfung. Am
Zürichberg ist es sogar jedes Zweite. Die nationale Maturitätsquote liegt bei
20,8 Prozent. Dabei sind Kinder aus gut situierten Verhältnissen nicht klüger,
nur die Voraussetzungen sind andere. Das Ergebnis: Nicht die begabtesten
Schüler gehen ans Gymnasium, sondern jene aus privilegierten Familien.
Eine neue,
bisher unveröffentlichte Studie des Schweizerischen Nationalfonds hält nun eine
Lösung für das Dilemma bereit. Entscheidend sei der Zeitpunkt des Übertritts in
eine höhere Stufe. «Je früher die Schüler separiert werden, desto eher werden
die falschen ausgesucht», heisst es in der Studie. Besonders betroffen sind
Kantone mit Langzeitgymnasium, da sie früher eine Auswahl treffen müssen. Doch
auch beim Übertritt in die Oberstufe sind die Probleme die gleichen. Wer Kinder
nach sechs Schuljahren in Real-, Sek- und Gymischüler aufteilt, begehe öfter
Fehler, heisst es. Fehler, welche die Schüler ein Leben lang verfolgen, denn
nur die wenigsten holen einen höheren Abschluss nach.
Lehrer mit verzerrtem Blick
Für
Studien-Autorin Katharina Maag Merki ist deshalb klar: «Die Selektion findet zu
früh statt.» Als Professorin für Theorie und Empirie schulischer
Bildungsprozesse an der Universität Zürich beschäftigt sich Maag Merki schon
länger mit dem Phänomen. Nach sechs Schuljahren sei meistens nicht die Leistung
das entscheidende Kriterium. Lehrer würden einer sozialen Verzerrung
unterliegen. «Kinder aus bildungsfernen Familien werden bei gleicher Leistung
oft schlechter benotet», sagt sie. Das passiere unbewusst. Die Lehrer glaubten,
dass die Eltern ihren Nachwuchs am Gymnasium nicht ausreichend unterstützen
könnten – und die Kinder deswegen ohnehin scheitern würden.
Doch nicht
nur die Lehrer sorgen für eine Verzerrung. Auch die Erziehungswissenschafterin
Margrit Stamm machte die Beobachtung, dass Büezer-Familien die akademische Welt
meist fremd ist und sie die Bildungsversessenheit der oberen Schichten ablehnen
würden. Ihren Nachwuchs hielten sie deshalb vom Gymnasium fern. Maag Merki
nennt ein weiteres Kriterium: «Der Weg an die Mittelschule ist für die Familie
ein finanzielles Risiko.» Die Jugendlichen blieben länger zu Hause als bei
einer Lehre. Zudem sei nicht klar, ob sie dem Druck standhalten. Wenn die
Kinder nach einem Jahr durchfallen, herrsche das Gefühl vor, Zeit und Geld
verloren zu haben.
Wie es die Skandinavier machen
Die
Professorin plädiert deshalb für eine deutlich spätere Selektion, am besten
erst nach neun Jahren. Einerseits könnten die Jugendlichen ihre Leistung dann
besser einschätzen und mitentscheiden. Andererseits seien die Eltern offener
für die Wünsche ihrer Kinder.
Kritiker
sehen in der Verzögerung allerdings eine Gefahr: Begabte Kinder würden so erst
viel zu spät entdeckt und gefördert, da die Klassen komplett durchmischt
bleiben. Gute wie schlechte Schüler sitzen jahrelang Pult an Pult. Maag Merki
sieht darin kein Problem: «Förderung hat nichts mit Selektion zu tun.» Anstatt
Kinder in Gruppen einzuteilen, sollten sie individuell unterstützt werden – und
das schon vor der Einschulung. «Die Schweiz hängt in der Frühförderung
hinterher.» Einige skandinavische Länder würden es vormachen: Schon vor dem
Kindergarten werden die Kleinen spielerisch unterstützt. Ausserdem teilen
Schulen die Kinder nicht nach sechs, sondern erst nach neun Jahren in
verschiedene Stufen auf – manchmal noch später. «Das ist ein besseres System
als in der Schweiz», sagt sie.
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