Das Englische hat seine Tücken, erst recht an diesem grauen
Mittwochmorgen. Bestimmter und unbestimmter Artikel, welche Regeln gelten
dafür? Alexander Betz hat viele erhobene Arme vor sich, die 13 Jungen und
Mädchen seiner achten Klasse machen gut mit. Konzentriert blicken sie auf die
Übungssätze, die ein Beamer an die Wand wirft. Davor steht Betz an seinem
Laptop und hantiert mit der Fernbedienung. Er unterrichtet in einem
ungewöhnlichen Klassenzimmer in einer ungewöhnlichen Schule:
Beamer-Projektionen statt Wandtafel, Teppich statt Linoleum auf dem Boden,
etwas abseits steht ein Whiteboard. Auf dem steht unter anderem die Frage: «Wie
kann man die Situation der Proletarier verbessern?»
Mit einem Stift lassen sich komplexe Vorgänge besser festhalten, Bild: Sead Mujic
Das Ende der Tinte, Süddeutsche Zeitung, von Katrin Blawat
Der Satz springt ins Auge in Schloss Neubeuern, einem Internat nahe
Rosenheim, wo die Eltern 3175 Euro Gebühren im Monat bezahlen. Und wo
Digitalisierung die Antwort sein soll auf viele Fragen, die das Lernen und das
Leben überhaupt betreffen. Das betrifft auch eine Kulturtechnik, die bisher zur
Schule gehört wie Hausaufgaben und Pausengong: das Schreiben von Hand mit Stift
auf Papier. In Neubeuern haben sie den Willen und das nötige Geld, um mit
diesem Relikt der analogen Ära abzuschliessen.
Lehrer Betz führt die Achtklässler gerade an die sogenannte digitale
Tinte heran. Wer einen Satz mit dem korrekten Artikel ergänzt hat, geht vor zum
Laptop des Lehrers und schreibt die Lösung mit einem digitalen Stift auf. Er
ähnelt dem, mit dem man beim Paketboten unterschreibt. Manche Schüler malen die
Buchstaben noch recht unbeholfen auf die ungewohnte Schreiboberfläche, doch
Betz und seine Kollegen wissen, wie schnell sich die Jugendlichen umgewöhnen
werden.
Mit der digitalen Tinte – in Neubeuern benutzen sie nur den englischen
Ausdruck «inking» – will die Schule die Vorteile des Handschreibens mit denen
der digitalen Welt verbinden. Von der neunten Klasse an können sich die Schüler
dafür entscheiden, ganz auf Papier zu verzichten und nur noch mit dem digitalen
Stift zu schreiben. Längere Texte tippen sie auch, doch «mit der Tastatur
allein lässt sich Schule nicht abbilden», wie Jörg Müller sagt, der
Stiftungsvorstand des Internats. Auch deshalb nicht, weil das bayerische
Kultusministerium getippte Abiturklausuren verbietet, da die Schüler durch die
schnellere Schreibgeschwindigkeit einen Vorteil gegenüber anderen Prüflingen
hätten.
«Ohne Inking wird es kein digitales Konzept geben», sagt Müller. Zudem
habe man sich bewusst dafür entschieden, die «papierlose Schule» erst von der
neunten Klasse an einzuführen: «Für Fünftklässler wäre uns das zu scheuklappig
ausgerichtet.»
Die Handschrift wird zum Hobby
Was sich an diesem Vormittag in der Englischstunde abspielt, zeigt
womöglich eine Zukunft, die uns allen bevorsteht. So wie die Mädchen und Jungen
der achten Klasse in Schloss Neubeuern befindet sich die ganze Gesellschaft im
Übergang von Tintenfüller, Textmarker und Tipp-Ex (ja, das gibt es noch) zu
Tippen und digitaler Tinte. Wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart, die nur
noch in abgeschiedenen Ecken ihres einst ausgedehnten Lebensraums überlebt, so
behauptet sich auch das Handgeschriebene nur noch in wenigen Winkeln des
Alltags.
Der Einkaufszettel, ein gekritzeltes Post-it am Computerbildschirm und
vielleicht noch die Urlaubspostkarte an ältere Familienmitglieder erinnern an
die Zeit, in der jeder immerzu Stift und Zettel parat hatte. Oder in Kursen zum
Handlettering, der modernisierten Variante der Kalligrafie. Doch auch das ist
ein Symptom: Die Handschrift wird zum Hobby – oder zu einer
«Marketing-Entscheidung», wie Müller sagt. Er schickt ehemaligen Schülern,
viele von ihnen inzwischen im Rentenalter, handgeschriebene Geburtstagskarten:
«Weil sie das sehr schätzen.» Privat hingegen schreibe er keine drei Sätze im
Jahr von Hand.
Damit ist er nicht allein. Bereits im Jahr 2012 gab in einer Umfrage
unter 2000 Briten jeder Dritte an, im vergangenen halben Jahr nichts mit der
Hand geschrieben zu haben. Wer doch hin und wieder zum Stift gegriffen hatte,
wollte meist nur etwas notieren. Oder den Grosseltern entgegenkommen, die sich
mit E-Mails nicht anfreunden können.
Es liegt nahe, dem Handschreiben den Untergang zu prophezeien. Weniger
klar ist jedoch, was dieser Verlust bedeutet. Leidet nicht zumindest die
persönliche Note im Umgang, wenn kaum noch jemand mit Stift auf Papier
schreibt? «Wir Menschen sind mehr als Funktion. Das Schreiben von Hand hat eine
Wertigkeit, die ich nicht missen möchte», sagt etwa Christian Marquardt vom
Schreibmotorik-Institut in Heroldsberg bei Nürnberg.
Doch ob jemand ausladende oder zierliche Buchstaben aufs Papier setzt,
ob er jede Möglichkeit für einen Schnörkel nutzt oder Druckbuchstaben
nebeneinander reiht – solche Vorlieben gehören nicht mehr zu dem, was einen
Menschen ausmacht. Als Philip Hensher, Autor des Buches «The Missing Ink»,
bemerkte, dass er die Handschrift seines besten Freundes nicht erkennen würde,
fand er daran vor allem bemerkenswert, dass ihm dieser Umstand nie zuvor
aufgefallen war.
Und wenn schon, meinen andere Experten. Der Freund, der früher für seine
unleserliche Handschrift bekannt war, fällt jetzt vielleicht durch einen
kreativen Einsatz von Emojis auf. Die Zeiten ändern sich, die Technik auch –
warum der Handschrift hinterherweinen? Liesse sich nicht getrost verzichten auf
unleserliches Gekrakel, auf Tintenflecken und auf schmerzende Finger, die sich
in Klausuren stundenlang um einen Stift krampfen? Warum es sich schwer machen,
wenn es doch Tastaturen gibt?
«Was solls?», fragt auch Anne Trubek, Autorin des
Buches «The History and Uncertain Future of Handwriting». Sie sieht im
Niedergang der Handschrift zwar einen Verlust – jedoch einen, der sich
verschmerzen lasse. Die Debatte sei vor allem kulturell und ideologisch
motiviert: Die Alten kommen nicht damit klar, dass sich Zeit und Technik
ändern. Dabei habe die Menschheit schon ganz andere technologische Umwälzungen
überstanden. Man bedenke nur, wie selten die Leute heutzutage noch Wörter in
Steine ritzen oder Federn in Tintenfässer tauchen. Schon immer hätten die
Menschen schnellere Schreibtechniken angestrebt. «Warum also einen Schritt
zurückgehen?», fragt Trubek.
Und vielleicht gäbe es nach der Umstellung auf die Tastatur auch weniger
Opfer des sogenannten Handschriften-Effekts. Demnach schliessen Lehrer aus
einer schludrigen Handschrift auch auf inhaltliche Mängel des Textes. Wie der
Erziehungswissenschaftler Steve Graham von der Arizona State University in
Florida gezeigt hat, bewerten Lehrer denselben Aufsatz unterschiedlich – je
nachdem, ob sie ihn in sauberer oder hingeschmierter Schrift zu lesen bekommen.
Ein wichtiges Argument, wenn man bedenkt, dass sich nach einer Umfrage
des Schreibmotorik-Instituts jedes dritte Mädchen und jeder zweite Junge in
Deutschland schwertut mit dem Handschreiben.
Das Schriften-Wirrwarr
Die Debatte über das Für und Wider der Handschrift ist nicht wirklich
neu. Schon im Jahr 1965 beklagte der Schreiblehrer E. A. Enstrom aus
Pennsylvania den «Niedergang der Handschrift» in The Elementary School Journal.
Er kritisierte die «Laissez-faire-Haltung», die viele Schulen in den USA von
den 1930er-Jahren an gegenüber der Handschrift zeigten, und warnte vor einem
daraus folgenden «Bündel an Schwierigkeiten».
Selbst über die Art der Schreibschrift wurde und wird bis heute heftig
gestritten. In den USA galt die sogenannte Palmer-Methode mit ihrer effizient
anmutenden Schrift als passender für die Industrialisierung als die bis dahin
verbreitete geschwungene Spencer-Schrift. Nebenbei sollten Schüler mittels der
nüchternen Schrift gläubigere Christen, patriotischere Amerikaner und generell
bessere Menschen werden.
In Deutschland hingegen waren Schnörkel vor allem in der Mitte des
vergangenen Jahrhunderts hoch angesehen. Also lernten Kinder die sogenannte
Lateinische Ausgangsschrift – bis diese sich als motorisch zu kompliziert
herausstellte. Von den 1970er-Jahren an standen daher zwei Optionen auf dem
Stundenplan: in der DDR die «Schulausgangsschrift», im Westen die «Vereinfachte
Ausgangsschrift». Nach der Jahrtausendwende kam eine vierte Variante auf, die
Grundschrift. Bei ihr sind nur wenige Buchstaben miteinander verbunden. Ihren
Befürwortern gilt sie als leichter lernbar und ergonomischer. Daher hat sich
unter anderem der Deutsche Grundschulverband im Rahmen seiner Kampagne «Schluss
mit dem Schriften-Wirrwarr!» für die Grundschrift ausgesprochen. Kritiker
bemängeln das nüchterne Schriftbild, das wenig Raum für persönliche Entfaltung
lasse. Herauskam ein grosses Durcheinander: Jedes Bundesland entscheidet für
sich, wie Kinder schreiben lernen.
Zusammenspiel der Körperregionen
Neben solchen, manchmal eher ästhetischen Diskussionen, befürchten einige
Experten, dass mit dem Ende der Schreibschrift tatsächlich auch wichtige
Fertigkeiten verloren gehen könnten.
So fördert das Schreiben per Hand unumstritten die feinmotorischen
Fähigkeiten. Um einen Stift zu führen, müssen viele Körperregionen zusammenspielen.
Die End- und Mittelgelenke der Finger beugen und strecken sich, das Handgelenk
ermöglicht eine leichte Drehung, auch Arm und Schultergürtel sind beteiligt.
Sogar die Aufrichtung im Rumpf und der Muskeltonus im Oberkörper müssen
stimmen. Um flüssig schreiben zu können, spielt ausserdem der passende Stift
eine wichtige Rolle. Für Anfänger eignen sich dicke Stifte. Füller überfordern
anfangs viele Kinder, weil man sie nur sehr leicht aufsetzen darf.
Kugelschreiber bereiten das gegenteilige Problem, sie verlangen einen starken
Druck.
Handschreiben ist also Präzisionsarbeit, die sich wahrscheinlich sogar
auf den Geist auswirkt. Jean-Luc Velay und Marieke Longcamp von der
Aix-Marseille Université zufolge gilt das bereits für das Erlernen des
Alphabets. In einer Studie der beiden Forscher fiel es Kindern leichter, die
Buchstaben d und p sowie b und q auseinanderzuhalten, wenn sie
Buchstaben-Abfolgen mit der Hand schrieben statt sie zu tippen. Dies sei ein
Beleg dafür, dass von Hand Geschriebenes «plurimodal gespeichert» werde: Das
Gehirn verbindet die Bewegungen der Hand und das Gefühl, wie der Stift übers Papier
gleitet mit den erlernten Buchstaben. Damit sind diese mit physischen
Erfahrungen verknüpft – eine Art körperliche Eselsbrücke.
«Die physischen Bewegungen, die mit dem Handschreiben einhergehen, sind
Teil des Denkprozesses», argumentieren auch die britischen
Erziehungswissenschaftler Jane Medwell und Davis Wray in einer Übersichtsarbeit
aus dem vergangenen Jahr. Und wie Karin James und Laura Engelhardt in den
Trends of Neuroscience and Education berichten, aktivierte das Handschreiben
Bereiche in den Gehirnen ihrer jungen Probanden, die beim Tippen von Buchstaben
unbeteiligt blieben.
Gut abgestimmte Feinarbeit
Womöglich leidet sogar der schulische Erfolg insgesamt, wenn das
Training der Hand eingestellt wird. Das vermuten Laura Dinehart von der Florida
International University und Louis Manfra von der University of Missouri, die
feinmotorische Fähigkeiten und Schullaufbahnen von mehr als 3000 Kindern
untersucht haben. Demnach deutet eine saubere Handschrift in jungen Jahren auf
spätere schulische Erfolge.
Auch für andere feinmotorische Aktivitäten wie Zeichnen, exaktes
Ausschneiden und das Spielen mit Bauklötzchen fand sich dieser Zusammenhang.
Doch nirgendwo war er so stark ausgeprägt wie bei der Handschrift. Wer Probleme
mit dem Stift hatte, tat sich auch schwerer, längere Texte zu formulieren und
Gedanken klar zu artikulieren. Schön formulierte es die Jugendbuch-Autorin
Cornelia Funke: «Eine fliessende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliegen.»
Darüber hinaus fördert sie deren Struktur, wie eine Studie der
Psychologen Pam Mueller und Daniel Oppenheimer ergeben hat. Studenten der
Princeton University sahen ein Video mit einer halbstündigen Vorlesung. Eine
Gruppe sollte sich dabei von Hand Notizen machen, eine andere mit der Tastatur.
Die reinen Fakten konnten beide Gruppen hinterher gleichermassen wiedergeben.
Doch wer einen Stift benutzt hatte, dem fiel es leichter, komplexe
Zusammenhänge aus der Vorlesung zu erklären.
Vermutlich lag das an der Arbeit, die diese Probanden schon vor der
Niederschrift geleistet hatten: Da sich mit der Hand nicht jedes Wort
mitschreiben lässt, ist man gezwungen, das Wichtigste auszuwählen. Man muss den
Stoff zumindest grob durchdrungen haben. Wer hingegen in Sprechgeschwindigkeit
tippt, kann mitschreiben ohne mitzudenken. «Beruflich muss ich viel tippen»,
sagt der Psychologe Marquardt vom Schreibmotorik-Institut. Doch wenn er Ideen
sammeln oder sich in ein Thema einarbeiten will, setzt er auf handschriftliche
Skizzen. «Es ist verblüffend, wie das funktioniert. Die Ideen kommen mit der
Handbewegung beim Schreiben. Es strukturiert die Gedanken.»
Das sagt auch die Schülerin Carolin, die in Schloss Neubeuern lernt:
«Wenn ich mich auf Klausuren vorbereite, schreibe ich alles mit dem Stift auf
Zettel. Dann kann ich es mir besser merken.» In den Prüfungen selbst verzichtet
sie ebenfalls auf die digitale Variante – wie etwa die Hälfte der Schüler. «Was
auf Papier steht, bleibt ewig», sagt die Elftklässlerin.
Tradition oder Technik – immer wieder geht es um diese beiden Pole. Doch
vielleicht ist diese Polarisierung auch überholt. «Die Frage ist, wie sich die
Handschrift in ein digitales Umfeld einfügen wird», sagt Marquardt. «Da fehlt
uns heute vielleicht noch die Fantasie.» Jörg Müller aus Neubeuern hält zum
Beispiel auch Spracherkennungs-Systeme für eine mögliche Alltagslösung. Dann
wäre jegliches Schreiben überflüssig. Welche Technik sich schliesslich
durchsetzen wird, weiss auch Schülerin Carolin nicht. Doch für sie steht eine
Tatsache fest: «Der Mensch wählt immer den einfachsten Weg.»
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