26. März 2018

Handschrift ist Teil des Denkprozesses

Das Englische hat seine Tücken, erst recht an diesem grauen Mittwochmorgen. Bestimmter und unbestimmter Artikel, welche Regeln gelten dafür? Alexander Betz hat viele erhobene Arme vor sich, die 13 Jungen und Mädchen seiner achten Klasse machen gut mit. Konzentriert blicken sie auf die Übungssätze, die ein Beamer an die Wand wirft. Davor steht Betz an seinem Laptop und hantiert mit der Fernbedienung. Er unterrichtet in einem ungewöhnlichen Klassenzimmer in einer ungewöhnlichen Schule: Beamer-Projektionen statt Wandtafel, Teppich statt Linoleum auf dem Boden, etwas abseits steht ein Whiteboard. Auf dem steht unter anderem die Frage: «Wie kann man die Situation der Proletarier verbessern?»
Mit einem Stift lassen sich komplexe Vorgänge besser festhalten, Bild: Sead Mujic
Das Ende der Tinte, Süddeutsche Zeitung, von Katrin Blawat


Der Satz springt ins Auge in Schloss Neubeuern, einem Internat nahe Rosenheim, wo die Eltern 3175 Euro Gebühren im Monat bezahlen. Und wo Digitalisierung die Antwort sein soll auf viele Fragen, die das Lernen und das Leben überhaupt betreffen. Das betrifft auch eine Kulturtechnik, die bisher zur Schule gehört wie Hausaufgaben und Pausengong: das Schreiben von Hand mit Stift auf Papier. In Neubeuern haben sie den Willen und das nötige Geld, um mit diesem Relikt der analogen Ära abzuschliessen.

Lehrer Betz führt die Achtklässler gerade an die sogenannte digitale Tinte heran. Wer einen Satz mit dem korrekten Artikel ergänzt hat, geht vor zum Laptop des Lehrers und schreibt die Lösung mit einem digitalen Stift auf. Er ähnelt dem, mit dem man beim Paketboten unterschreibt. Manche Schüler malen die Buchstaben noch recht unbeholfen auf die ungewohnte Schreiboberfläche, doch Betz und seine Kollegen wissen, wie schnell sich die Jugendlichen umgewöhnen werden.

Mit der digitalen Tinte – in Neubeuern benutzen sie nur den englischen Ausdruck «inking» – will die Schule die Vorteile des Handschreibens mit denen der digitalen Welt verbinden. Von der neunten Klasse an können sich die Schüler dafür entscheiden, ganz auf Papier zu verzichten und nur noch mit dem digitalen Stift zu schreiben. Längere Texte tippen sie auch, doch «mit der Tastatur allein lässt sich Schule nicht abbilden», wie Jörg Müller sagt, der Stiftungsvorstand des Internats. Auch deshalb nicht, weil das bayerische Kultusministerium getippte Abiturklausuren verbietet, da die Schüler durch die schnellere Schreibgeschwindigkeit einen Vorteil gegenüber anderen Prüflingen hätten.

«Ohne Inking wird es kein digitales Konzept geben», sagt Müller. Zudem habe man sich bewusst dafür entschieden, die «papierlose Schule» erst von der neunten Klasse an einzuführen: «Für Fünftklässler wäre uns das zu scheuklappig ausgerichtet.»

Die Handschrift wird zum Hobby
Was sich an diesem Vormittag in der Englischstunde abspielt, zeigt womöglich eine Zukunft, die uns allen bevorsteht. So wie die Mädchen und Jungen der achten Klasse in Schloss Neubeuern befindet sich die ganze Gesellschaft im Übergang von Tintenfüller, Textmarker und Tipp-Ex (ja, das gibt es noch) zu Tippen und digitaler Tinte. Wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart, die nur noch in abgeschiedenen Ecken ihres einst ausgedehnten Lebensraums überlebt, so behauptet sich auch das Handgeschriebene nur noch in wenigen Winkeln des Alltags.

Der Einkaufszettel, ein gekritzeltes Post-it am Computerbildschirm und vielleicht noch die Urlaubspostkarte an ältere Familienmitglieder erinnern an die Zeit, in der jeder immerzu Stift und Zettel parat hatte. Oder in Kursen zum Handlettering, der modernisierten Variante der Kalligrafie. Doch auch das ist ein Symptom: Die Handschrift wird zum Hobby – oder zu einer «Marketing-Entscheidung», wie Müller sagt. Er schickt ehemaligen Schülern, viele von ihnen inzwischen im Rentenalter, handgeschriebene Geburtstagskarten: «Weil sie das sehr schätzen.» Privat hingegen schreibe er keine drei Sätze im Jahr von Hand.

Damit ist er nicht allein. Bereits im Jahr 2012 gab in einer Umfrage unter 2000 Briten jeder Dritte an, im vergangenen halben Jahr nichts mit der Hand geschrieben zu haben. Wer doch hin und wieder zum Stift gegriffen hatte, wollte meist nur etwas notieren. Oder den Grosseltern entgegenkommen, die sich mit E-Mails nicht anfreunden können.

Es liegt nahe, dem Handschreiben den Untergang zu prophezeien. Weniger klar ist jedoch, was dieser Verlust bedeutet. Leidet nicht zumindest die persönliche Note im Umgang, wenn kaum noch jemand mit Stift auf Papier schreibt? «Wir Menschen sind mehr als Funktion. Das Schreiben von Hand hat eine Wertigkeit, die ich nicht missen möchte», sagt etwa Christian Marquardt vom Schreibmotorik-Institut in Heroldsberg bei Nürnberg.

Doch ob jemand ausladende oder zierliche Buchstaben aufs Papier setzt, ob er jede Möglichkeit für einen Schnörkel nutzt oder Druckbuchstaben nebeneinander reiht – solche Vorlieben gehören nicht mehr zu dem, was einen Menschen ausmacht. Als Philip Hensher, Autor des Buches «The Missing Ink», bemerkte, dass er die Handschrift seines besten Freundes nicht erkennen würde, fand er daran vor allem bemerkenswert, dass ihm dieser Umstand nie zuvor aufgefallen war.

Und wenn schon, meinen andere Experten. Der Freund, der früher für seine unleserliche Handschrift bekannt war, fällt jetzt vielleicht durch einen kreativen Einsatz von Emojis auf. Die Zeiten ändern sich, die Technik auch – warum der Handschrift hinterherweinen? Liesse sich nicht getrost verzichten auf unleserliches Gekrakel, auf Tintenflecken und auf schmerzende Finger, die sich in Klausuren stundenlang um einen Stift krampfen? Warum es sich schwer machen, wenn es doch Tastaturen gibt?

«Was solls?», fragt auch Anne Trubek, Autorin des Buches «The History and Uncertain Future of Handwriting». Sie sieht im Niedergang der Handschrift zwar einen Verlust – jedoch einen, der sich verschmerzen lasse. Die Debatte sei vor allem kulturell und ideologisch motiviert: Die Alten kommen nicht damit klar, dass sich Zeit und Technik ändern. Dabei habe die Menschheit schon ganz andere technologische Umwälzungen überstanden. Man bedenke nur, wie selten die Leute heutzutage noch Wörter in Steine ritzen oder Federn in Tintenfässer tauchen. Schon immer hätten die Menschen schnellere Schreibtechniken angestrebt. «Warum also einen Schritt zurückgehen?», fragt Trubek.

Und vielleicht gäbe es nach der Umstellung auf die Tastatur auch weniger Opfer des sogenannten Handschriften-Effekts. Demnach schliessen Lehrer aus einer schludrigen Handschrift auch auf inhaltliche Mängel des Textes. Wie der Erziehungswissenschaftler Steve Graham von der Arizona State University in Florida gezeigt hat, bewerten Lehrer denselben Aufsatz unterschiedlich – je nachdem, ob sie ihn in sauberer oder hingeschmierter Schrift zu lesen bekommen.

Ein wichtiges Argument, wenn man bedenkt, dass sich nach einer Umfrage des Schreibmotorik-Instituts jedes dritte Mädchen und jeder zweite Junge in Deutschland schwertut mit dem Handschreiben.

Das Schriften-Wirrwarr
Die Debatte über das Für und Wider der Handschrift ist nicht wirklich neu. Schon im Jahr 1965 beklagte der Schreiblehrer E. A. Enstrom aus Pennsylvania den «Niedergang der Handschrift» in The Elementary School Journal. Er kritisierte die «Laissez-faire-Haltung», die viele Schulen in den USA von den 1930er-Jahren an gegenüber der Handschrift zeigten, und warnte vor einem daraus folgenden «Bündel an Schwierigkeiten».

Selbst über die Art der Schreibschrift wurde und wird bis heute heftig gestritten. In den USA galt die sogenannte Palmer-Methode mit ihrer effizient anmutenden Schrift als passender für die Industrialisierung als die bis dahin verbreitete geschwungene Spencer-Schrift. Nebenbei sollten Schüler mittels der nüchternen Schrift gläubigere Christen, patriotischere Amerikaner und generell bessere Menschen werden.

In Deutschland hingegen waren Schnörkel vor allem in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hoch angesehen. Also lernten Kinder die sogenannte Lateinische Ausgangsschrift – bis diese sich als motorisch zu kompliziert herausstellte. Von den 1970er-Jahren an standen daher zwei Optionen auf dem Stundenplan: in der DDR die «Schulausgangsschrift», im Westen die «Vereinfachte Ausgangsschrift». Nach der Jahrtausendwende kam eine vierte Variante auf, die Grundschrift. Bei ihr sind nur wenige Buchstaben miteinander verbunden. Ihren Befürwortern gilt sie als leichter lernbar und ergonomischer. Daher hat sich unter anderem der Deutsche Grundschulverband im Rahmen seiner Kampagne «Schluss mit dem Schriften-Wirrwarr!» für die Grundschrift ausgesprochen. Kritiker bemängeln das nüchterne Schriftbild, das wenig Raum für persönliche Entfaltung lasse. Herauskam ein grosses Durcheinander: Jedes Bundesland entscheidet für sich, wie Kinder schreiben lernen.

Zusammenspiel der Körperregionen
Neben solchen, manchmal eher ästhetischen Diskussionen, befürchten einige Experten, dass mit dem Ende der Schreibschrift tatsächlich auch wichtige Fertigkeiten verloren gehen könnten.

So fördert das Schreiben per Hand unumstritten die feinmotorischen Fähigkeiten. Um einen Stift zu führen, müssen viele Körperregionen zusammenspielen. Die End- und Mittelgelenke der Finger beugen und strecken sich, das Handgelenk ermöglicht eine leichte Drehung, auch Arm und Schultergürtel sind beteiligt. Sogar die Aufrichtung im Rumpf und der Muskeltonus im Oberkörper müssen stimmen. Um flüssig schreiben zu können, spielt ausserdem der passende Stift eine wichtige Rolle. Für Anfänger eignen sich dicke Stifte. Füller überfordern anfangs viele Kinder, weil man sie nur sehr leicht aufsetzen darf. Kugelschreiber bereiten das gegenteilige Problem, sie verlangen einen starken Druck.
Handschreiben ist also Präzisionsarbeit, die sich wahrscheinlich sogar auf den Geist auswirkt. Jean-Luc Velay und Marieke Longcamp von der Aix-Marseille Université zufolge gilt das bereits für das Erlernen des Alphabets. In einer Studie der beiden Forscher fiel es Kindern leichter, die Buchstaben d und p sowie b und q auseinanderzuhalten, wenn sie Buchstaben-Abfolgen mit der Hand schrieben statt sie zu tippen. Dies sei ein Beleg dafür, dass von Hand Geschriebenes «plurimodal gespeichert» werde: Das Gehirn verbindet die Bewegungen der Hand und das Gefühl, wie der Stift übers Papier gleitet mit den erlernten Buchstaben. Damit sind diese mit physischen Erfahrungen verknüpft – eine Art körperliche Eselsbrücke.

«Die physischen Bewegungen, die mit dem Handschreiben einhergehen, sind Teil des Denkprozesses», argumentieren auch die britischen Erziehungswissenschaftler Jane Medwell und Davis Wray in einer Übersichtsarbeit aus dem vergangenen Jahr. Und wie Karin James und Laura Engelhardt in den Trends of Neuroscience and Education berichten, aktivierte das Handschreiben Bereiche in den Gehirnen ihrer jungen Probanden, die beim Tippen von Buchstaben unbeteiligt blieben.

Gut abgestimmte Feinarbeit
Womöglich leidet sogar der schulische Erfolg insgesamt, wenn das Training der Hand eingestellt wird. Das vermuten Laura Dinehart von der Florida International University und Louis Manfra von der University of Missouri, die feinmotorische Fähigkeiten und Schullaufbahnen von mehr als 3000 Kindern untersucht haben. Demnach deutet eine saubere Handschrift in jungen Jahren auf spätere schulische Erfolge.

Auch für andere feinmotorische Aktivitäten wie Zeichnen, exaktes Ausschneiden und das Spielen mit Bauklötzchen fand sich dieser Zusammenhang. Doch nirgendwo war er so stark ausgeprägt wie bei der Handschrift. Wer Probleme mit dem Stift hatte, tat sich auch schwerer, längere Texte zu formulieren und Gedanken klar zu artikulieren. Schön formulierte es die Jugendbuch-Autorin Cornelia Funke: «Eine fliessende Handschrift bringt die Gedanken zum Fliegen.»

Darüber hinaus fördert sie deren Struktur, wie eine Studie der Psychologen Pam Mueller und Daniel Oppenheimer ergeben hat. Studenten der Princeton University sahen ein Video mit einer halbstündigen Vorlesung. Eine Gruppe sollte sich dabei von Hand Notizen machen, eine andere mit der Tastatur. Die reinen Fakten konnten beide Gruppen hinterher gleichermassen wiedergeben. Doch wer einen Stift benutzt hatte, dem fiel es leichter, komplexe Zusammenhänge aus der Vorlesung zu erklären.

Vermutlich lag das an der Arbeit, die diese Probanden schon vor der Niederschrift geleistet hatten: Da sich mit der Hand nicht jedes Wort mitschreiben lässt, ist man gezwungen, das Wichtigste auszuwählen. Man muss den Stoff zumindest grob durchdrungen haben. Wer hingegen in Sprechgeschwindigkeit tippt, kann mitschreiben ohne mitzudenken. «Beruflich muss ich viel tippen», sagt der Psychologe Marquardt vom Schreibmotorik-Institut. Doch wenn er Ideen sammeln oder sich in ein Thema einarbeiten will, setzt er auf handschriftliche Skizzen. «Es ist verblüffend, wie das funktioniert. Die Ideen kommen mit der Handbewegung beim Schreiben. Es strukturiert die Gedanken.»

Das sagt auch die Schülerin Carolin, die in Schloss Neubeuern lernt: «Wenn ich mich auf Klausuren vorbereite, schreibe ich alles mit dem Stift auf Zettel. Dann kann ich es mir besser merken.» In den Prüfungen selbst verzichtet sie ebenfalls auf die digitale Variante – wie etwa die Hälfte der Schüler. «Was auf Papier steht, bleibt ewig», sagt die Elftklässlerin.
Tradition oder Technik – immer wieder geht es um diese beiden Pole. Doch vielleicht ist diese Polarisierung auch überholt. «Die Frage ist, wie sich die Handschrift in ein digitales Umfeld einfügen wird», sagt Marquardt. «Da fehlt uns heute vielleicht noch die Fantasie.» Jörg Müller aus Neubeuern hält zum Beispiel auch Spracherkennungs-Systeme für eine mögliche Alltagslösung. Dann wäre jegliches Schreiben überflüssig. Welche Technik sich schliesslich durchsetzen wird, weiss auch Schülerin Carolin nicht. Doch für sie steht eine Tatsache fest: «Der Mensch wählt immer den einfachsten Weg.» 


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