Die Gymiprüfung ist ein
gemeinsames Projekt von Kindern und Eltern», sagte die Lehrerin am Elternabend
zum Thema Übertritt in die Oberstufe. Das war vergangenen Sommer, der Beginn
einer neuen Zeitrechnung in unserer Familie.
Gymi-Prüfung - und das Familienleben wird zur Hölle, Das Magazin, 3.3. von Paula Scheidt
Lotta war zwölf und hatte soeben ihr
vorletztes Zeugnis in der Primarschule erhalten: in Mathe einen Fünfer und in
Deutsch einen Fünfeinhalber. Sie ist eine gute bis sehr gute Schülerin, wie
viele andere auch, ich würde unser Kind aber nie als besonders begabt oder gar
als Genie bezeichnen, nur schon, weil mir eine gewisse Lebenserfahrung gezeigt
hat, dass die wenigsten das sind. Es reicht mir, dass sie klug ist und ein
liebenswürdiges Mädchen.
Auf jeden Fall rechnen meine Frau und ich
seit der vierten Klasse damit, dass sie eines Tages die Aufnahmeprüfung für das
Langzeitgymnasium machen wird. Nun war es so weit: Das Zeugnis bildete den
Auftakt zum letzten Halbjahr in der Primarschule. Die Vorbereitungszeit begann.
Wie die Unruhe begann
Am Anfang standen zwei Zahlen, 83 und 16,
die unter den Eltern zirkulierten: Wer im Abschlusszeugnis im Januar in Mathe
und Deutsch je einen Fünfeinhalber hat, schafft die Prüfung mit 83-prozentiger
Wahrscheinlichkeit. Wer zwei Fünfer hat, hingegen nur noch mit einer
Wahrscheinlichkeit von 16 Prozent. Die Zahlen stammen aus dem Buch «Ich will
ans Gymi» und bedeuten: Die Erfolgschancen sinken mit geringeren Vornoten
exponentiell.
Mit diesem Wissen begann die Unruhe in
unserer und in allen anderen Familien, deren Kinder ans Gymi wollen. Die
meisten Familien in unserem Quartier gehören wohl zu dem, was man als
bildungsfreundliche Milieus bezeichnet. Viele Eltern haben akademische oder,
ganz allgemein, eher anspruchsvollere Berufe.
Früher habe ich die Eltern belächelt, die
ihre eigenen Ambitionen mit denen ihrer Kinder verwechseln. Ich erinnere mich
an einen Elternabend in der vierten Klasse, an dem ein Vater bemängelte, seine
Tochter müsse zu wenig Hausaufgaben machen. «Ich finde das problematisch im
Hinblick auf die Gymiprüfung», sagte der Vater. Die Lehrerin sprach mir mit
ihrer Antwort aus der Seele: «In der vierten Klasse sollen Kinder zu Hause
höchstens eine halbe Stunde arbeiten. Der Druck wird schon noch zunehmen.»
Dieser Elternabend ist jetzt zwei Jahre her und die Prophezeiung der Lehrerin
wahr geworden.
Leicht, mittel, schwer
Zunächst deckten meine Frau und ich uns mit
der einschlägigen Literatur ein. Eine ganze Publikationsindustrie lebt von
Titeln wie «Elternratgeber Gymiprüfung», »Wie komme ich ans Gymi?», «Training
Gymi-Prüfung». Zusätzlich gibt es sogenannte Gymicards mit Aufgaben, unterteilt
in leicht, mittel und schwer. Das Material ist teuer, aber wir kauften es, weil
alle Familien es hatten.
Es ist trügerisch, davon auszugehen, dass
ein Kind die Gymiprüfung besteht, bloss weil es den Schulstoff beherrscht.
Gymiprüfungen gehen über den Schulstoff hinaus und werden, das hört man immer
wieder, im Schnitt eine Note tiefer benotet als normale Prüfungen. Schafft ein
Kind zum Beispiel eine Vier in einem Aufsatz an der Prüfung, so ist das schon
recht gut, weil strenger bewertet wird. Wir schickten Lotta also in die
Gymivorbereitung, die die Schule einmal pro Woche anbietet. Andere Eltern
platzierten ihre Kinder noch in zusätzlichen, privaten Vorbereitungskursen. Das
schien uns dann doch etwas übertrieben.
Nach den Sommerferien hatte jedes Kind samt
seinen Eltern ein Standortgespräch mit dem Lehrer oder der Lehrerin. Die
Lehrerin schaute Lotta ernst an und fragte: «Glaubst du, dass du eine
Gymischülerin bist?» Lotta zögerte mit der Antwort, was ich eher als Zeichen
der Bescheidenheit deutete. Da sagte die Lehrerin zu ihr: «Vielleicht ist das
Kurzzeitgymnasium eher was für dich.» Das war bestimmt nicht böse gemeint,
sondern bloss eine, vielleicht sogar realistische, Einschätzung. Für manche
Kinder, die an ein Gymnasium wollen, ist das Kurzzeitgymnasium (nach zwei
Jahren Sekundarschule) tatsächlich die bessere Lösung. Viele Kinder müssen,
bevor sie sich einem solchen Druck aussetzen, noch ein bisschen reifer werden.
In der Tat haben wir
unserer Tochter erklärt, sie könne auch in die Sek gehen, wenn sie wolle, und
sich dann später allenfalls fürs Gymnasium entscheiden. Der Vorschlag schien
sie aber überhaupt nicht zu interessieren, ihre besten Freundinnen wollten alle
an die Prüfung, die Aussicht, später nicht mehr mit denen in die Schule gehen
zu können, schreckte sie ab.
Bald wurde die Gymivorbereitung zu einem
festen Bestandteil unseres Familienlebens. So wie die Geburt eines weiteren
Kindes Familienstrukturen mit Wucht verändert, so veränderte sich unsere
Familie praktisch von dem Tag an, als unsere Tochter trotz der Einschätzung der
Lehrerin beschloss, an die Prüfung gehen zu wollen. Alles dreht sich nun nur
noch darum. Abends kommt Lotta müde nach Hause, nach einem langen Tag in der
Schule, nach Geigen- oder Tanzunterricht. Nach anfänglichem Widerstand setzt
sie sich an ihr kleines Pult und malt sich mit Filzstiften erst mal die Hände
an, bevor sie sich über eine Matheaufgabe beugt. Wenn sie nicht weiterweiss,
setze ich mich zu ihr.
Draussen ist es längst dunkel, ich sehe ihr
Kleinmädchengesicht im Schein der Schreibtischlampe und höre meine stets
gereizter werdende Stimme, wenn sie meinen Erklärungen nicht folgen kann. Klar,
sie tut mir leid. Und ich fühle mich danach immer schlecht. Eines Morgens, sie
war bereits in der Schule, sah ich neben ihrem Bett ihre Stoffgiraffe liegen,
die sie zum zweiten Geburtstag von einer Tante bekommen hatte. Ich legte das
bereits ramponierte Tier auf ihr Pult neben den Stapel mit den sadistischen
Matheaufgaben.
Wie geht ein Parallelogramm?
Auf der Website der Primarschule haben die
Eltern die Möglichkeit, den Lehrplan einzusehen. Offiziell ist das ein Angebot
für die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Eltern wurden ausdrücklich
darauf hingewiesen. Immer wieder entdecke ich beim Abgleichen der Hausaufgaben
mit dem Lehrplan Lücken. Der eine Lehrer paukt zu wenig Grammatik, der andere
vertieft die Geometrie nicht richtig.
Gleichzeitig ist mir inzwischen klar
geworden, was an der Prüfung verlangt werden kann. Ich las mich durch
Internetforen, lud alte Prüfungen herunter, vertiefte mich in Lerntipps für
Kinder. Ich kaufte mir sogar einen Zirkel und übte: Wie konstruiere ich ein
Parallelogramm? Wie eine Winkelhalbierende? Jeden Tag nach der Arbeit beginne
ich direkt, mir den Stoff anzueignen. Ich will ihn beherrschen, bevor Lotta
nach Hause kommt, um keine Zeit zu verlieren.
Anfangs konnte ich noch
eine gewisse Faszination für Bruchrechnungen und komplizierte Divisionen
aufbringen. Aber bald ertappte ich mich, wie ich Umwege in den Heimweg
einbaute, um mich vor der Paukerei noch etwas zu erholen. Ich stellte fest,
dass die Abende mit einem Glas Prosecco im Kopf leichter zu ertragen sind.
Eltern, die man beim Einkaufen trifft, klagen ihr Leid. «Was muten wir unseren
Kindern bloss zu!», ist ein oft gehörter Satz. An der Kasse in der Migros
stellten die Mutter eines Klassenkameraden meiner Tochter und ich uns einmal im
Scherz gegenseitig kleine Rechenaufgaben: «Zehn Leute kaufen je drei Bratwürste
von 244 Gramm Gewicht. Wie alt ist die Kassiererin?»
«Bis bald dann, an der Prüfung»,
verabschiedeten wir uns.Manchmal fragen meine Frau und ich Lotta während des
Abendessens unregelmässige Verben ab. Sinnen, sann, hat gesonnen. Ich meine,
ist es nicht schwachsinnig, das von einem Kind zu verlangen? Wer schreibt denn
im Jahr 2018 noch, er habe gesonnen, und nicht einfach, er habe nachgedacht?
Nach dem Essen setzt einer von uns beiden sich erneut ins Kinderzimmer. Wir
machen Deals mit unserer Tochter: Drei Rechenaufgaben gegen fünfzehn Minuten
iPhone. Lotta ist offensichtlich müde, aber wir wissen, da müssen wir jetzt
durch.
Langsam schlich sich das Misstrauen in
unsere Familie. Am Kühlschrank hing der Prüfungsplan, im Notizbuch meiner Frau
entdeckte ich ihre Noten. Ich sagte: «Lotta, am Dienstag hast du doch diese
Bruch-Prüfung.» Und wenn Lotta antwortete: «Jaja, ich kann das, ich schaue es
mir noch an», dann war ich unsicher, ob ich ihr tatsächlich glauben durfte.
Immer öfter musste ich
an den blöden alten Spruch denken: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wie
früher im Militär.
In der Migros, beim Bäcker, auf dem Velo,
überall treffe ich andere Eltern. Gerüchte machen die Runde. Manche Eltern
meldeten ihr Kind schon vorsorglich bei einer Privatschule an, um zu vermeiden,
dass es bei Nichtbestehen der Prüfung in eine öffentliche Sekundarschule muss.
Man erzählt sich, dass die eher guten Schüler in der Sek unter die Räder
kommen, weil die Klassen gemischt sind. Die sogenannten Sek-B-Schüler zeigen
angeblich weniger Interesse am Lernen, weil sie mit der Lehrstellensuche
beschäftigt sind. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Hört man sich um, dann
hat jeder eine andere Meinung oder Geschichte zu erzählen. Klug ist, wer die
Nerven hat, mit gar niemandem darüber zu reden.
Im Oktober schrieb Lotta in einer
Grammatikprüfung eine 3,75. Ich war geschockt, enttäuscht und frustriert, «Das
kann doch nicht sein!», sagte ich in scharfem Tonfall zu ihr. «Du, als meine
Tochter!» Ich fühlte mich persönlich beleidigt, gleichzeitig war mir klar, wie
absurd das ist. Und ich schämte mich vor der Lehrerin, weil ich weiss, dass sie
weiss, dass ich Germanistik studiert habe. Das ist natürlich das erbärmlichste Gefühl.
Früher habe ich in solchen Situationen
souverän reagiert, wohl wissend, dass Prüfungen schieflaufen können. Einmal
wollte Lotta nicht auf eine Französischprüfung lernen. Als sie mit einer Vier
plus weinend nach Hause kam, tröstete ich sie.
Nun ist alles anders. An den Wochenenden
will ich, dass sie einen Aufsatz schreibt. Aus meiner Sicht wird das in der
Schule viel zu wenig geübt. Zwar wurden die Kinder die ganze Primarschulzeit
lang aufgefordert, möglichst viel zu lesen (was sicher sehr wichtig ist!),
Schreiben ist dann aber wieder eine andere Sache. Ich weiss, an der Prüfung
wird sie zwischen drei Aufsatzthemen wählen müssen. Die Kunst besteht darin,
ihr beizubringen, wie sie die richtige Wahl trifft. Ich gebe ihr strategische
Tipps: Nimm das Thema, bei dem du eigene Erfahrungen beisteuern kann! Erzähle
durchgehend im Präteritum, das ist am einfachsten! Überlege dir genau, was der
Höhepunkt deiner Geschichte ist! Versuche Emotionen zu wecken beim Leser.
Um ein Viertel kürzer
Einmal hockte ich eine halbe Stunde lang
vor einer Matheaufgabe, brütete darüber nach, wie lange eine Baufirma braucht,
wenn sie mit zehn Arbeitern in 28 Tagen eine Wand errichten soll, dann aber
nach fünf Tagen mit drei Arbeitern weniger auskommen muss, um nach weiteren
neun Tagen mit zwei zusätzlichen Arbeitern den Schlussspurt hinzulegen. Ein
anderes Mal musste ich einen Freund anrufen, der an der ETH in Physik
promoviert hat, damit er mir den Lösungsweg erklärt. Es ging um einen
Swimmingpool, der über verschieden dicke Schläuche mit Wasser gefüllt werden
soll und gleichzeitig ein Leck hat. Der Freund fand rasch eine Lösung,
allerdings mithilfe eines Gleichungssystems – für Kinder völlig untauglich.
Bis heute ist es mir ein
Rätsel, wie Leute, die nicht das Privileg hatten, länger als neun Jahre in die
Schule zu gehen, ihren Kindern bei diesem Stoff helfen sollen. Die Satzaufgaben
in der Mathematik sind teilweise so formuliert, dass man bereits an der Sprache
scheitert, bevor es ans Rechnen geht. Ich weiss nicht, ob für ein
fremdsprachiges Kind der Unterschied zwischen «um ein Viertel kürzer» und «auf
ein Viertel kürzen» gleich klar ist; wir mussten es unserer Tochter jedenfalls
erklären – und ihre Muttersprache ist Deutsch.
Wir besuchten mit Lotta Präsentationen an
den verschiedenen Gymnasien der Stadt und versuchten herauszufinden, welches
das humanste ist. Die Aufnahmeprüfung ist zwar im ganzen Kanton die gleiche,
aber wir dachten bereits weiter, an die Probezeit: Wo werden die meisten
Schüler wieder rausgeschmissen? Welche Schule macht den Eindruck, keine blosse
Lernfabrik zu sein? Der Prorektor einer Schule hielt eine mit Zahlen und
Statistiken dekorierte Rede, er klang wie Juri Andropow 1983 vor dem Obersten
Sowjet. In diese Schule wollte ich Lotta nicht schicken.
Mit einer Mischung aus Faszination und
Grauen beobachtete ich, wie mein Kind mehr und mehr zu einem Teil meiner selbst
wurde. Früher bin ich gut damit klargekommen, dass Lotta sich beim Skifahren
ungeschickt anstellte, obwohl ich selbst gut Ski fahre. Ich habe akzeptiert,
dass aus ihr keine Geigenvirtuosin werden wird, und sogar, gegen den Willen
meiner Frau, gesagt: «Wenn dir das keinen Spass macht, dann hör doch damit auf.»
Aber die Gymiprüfung hat
mich verändert. Ich kann mich nicht mehr distanzieren von dem, was von meiner
Tochter verlangt wird. Alle Leichtigkeit in meinem Leben scheint verschwunden,
oft bin ich bedrückt. Einmal berechnete Lotta das Wettrennen zwischen einem
Hasen und einer Schildkröte und kam zum Ergebnis, dass sich die Schildkröte mit
65 Stundenkilometern vorwärtsbewegt. Ich flippte aus: «Das ist unmöglich! Das
musst du doch merken!» Meine Frau schickte mich ins Badezimmer, damit ich mich
beruhige.
Ich wurde mehr und mehr zu einem Menschen,
der ich nie sein wollte. Ich sagte Sätze, die ich mir nie zugetraut hätte: «Mit
dieser Einstellung schaffst du es nicht!» Oder: «Kinder, die solche Fehler
machen, kommen logischerweise nicht ins Gymi!» Und einmal sogar: «Verdammt noch
mal, bist du eigentlich blöd? Ich hab das doch damals auch geschafft!»
Woraufhin Lotta cool antwortete: «Damals war die Prüfung auch einfacher, das hast
du selbst gesagt!»
Lottas fünfjährige Schwester, die den
Kindergarten besucht, fing an zu quengeln, bis wir auch ihr Rechenaufgaben
stellten. Sie spielte sozusagen die familiäre Situation nach.
5+5, 1+2, 20-10. Nachdem sie sie gelöst
hatte, liess sie sich von mir oder meiner Frau eine Fantasienote
darunterschreiben und legte den Zettel zu ihren Spielsachen.
Die Doppelkonsonanten
«Ihr habt mich eh nur gern, wenn ich die
Prüfung bestehe!», sagte Lotta eines Abends. Das tat weh. Ich vermutete sogar,
dass Lotta das wusste und den Satz mit voller Absicht sagte, um auch einmal
eine moralische Waffe gegen uns einzusetzen.
«Unsere Tochter checkt die
Doppelkonsonanten einfach nicht», sagte meine Frau eines Nachts, als wir uns
schlaflos im Bett wälzten. Ich machte mir Vorwürfe. Hatte ich es ihr schlecht
erklärt? Hatte ich zu wenig geholfen? Zu schlecht geholfen? Zu viel Druck
aufgebaut?
Eines Nachmittags rief meine Frau mich im
Institut an. «Ich werde langsam wahnsinnig», sagte sie. «Den ganzen Tag denke
ich an diese Prüfung.» Wir diskutierten lange, wie es uns gelingen könnte, die
Haltung der römischen Stoa einzunehmen: Was auch immer geschieht – alles
gleichmütig hinnehmen. Seneca lesen? Am besten im Original? Dann könnte ich
endlich mal meine Lateinkenntnisse rauskramen – wahrscheinlich das Einzige, was
ich meiner Zeit am Langzeitgymnasium wirklich zu verdanken habe.
Manchmal schleiche ich
durch die Wohnung, um möglichst keinen Lärm zu machen. Die Tür von Lottas
Zimmer steht halb offen, und ich sehe, wie sie zerstreut auf einem Stift kaut,
aus dem Fenster guckt oder Herzchen aufs Papier malt. Daneben liegen die
Matheaufgaben. Und ich frage mich: Warum werden Kinder so gequält?
Ende Januar kam das Abschlusszeugnis mit
den Vornoten. Unsere Tochter hatte zweimal einen Fünfeinhalber. Wie leicht ich
mich plötzlich fühlte! Lotta strahlte. Andere Eltern sagten uns: «Gut für
euch.» Jetzt also 83 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass es klappen wird.
Dann kam die Testprüfung. Eine Simulation
des grossen Tages. Meine Tochter kam nachmittags nach Hause und erzählte
verstört, es sei wohl nicht so gut gelaufen. Und tatsächlich, ein paar Tage
später erhielt sie das Ergebnis: trotz guter Vornoten extrem knapp
durchgefallen. Wir waren enttäuscht. Aber es gelang uns, das Ergebnis ins
Positive zu drehen. Meine Frau und ich einigten uns auf folgenden Spin
gegenüber der Tochter: Die Prüfung hat dir gezeigt, wie wenig mehr es braucht,
um es zu schaffen.
Vor den Skiferien beriet meine Frau sich
mit Eltern, die das gleiche Hotel gebucht hatten: Wie lange müssen die Kinder
lernen, bevor sie auf die Piste dürfen? Gibt es einen Raum, wo sie ungestört
sind? Jeden Vormittag bildete Lotta mit den vielen anderen Kindern, die in der
gleichen Situation waren, eine Lerngruppe.
Unter den Eltern hat
sich eine seltsame Dynamik entwickelt. Entdeckt man ein gutes Lehrbuch,
empfiehlt man es nur denjenigen Eltern, die man mag. Sagt eine andere Mutter:
«Wir machen uns Sorgen wegen Alessia, vielleicht ist sie noch nicht reif fürs
Gymi», dann fühlen meine Frau und ich uns genötigt, ihr beizupflichten: «Das
verstehen wir, bei Lotta haben wir die gleichen Befürchtungen.» Auch wenn es
gar nicht stimmt.
Es scheint uns hochmütig zu behaupten,
unsere Tochter sei eigenständig und gut organisiert, wenn die andere Sorgen
hat. Zudem scheint es uns zunehmend riskant. Was, wenn wir nun Zuversicht ausstrahlen
und Lotta dann durch die Prüfung rasselt? Wie peinlich das wäre. Lieber wollen
wir allfälliges Scheitern rechtzeitig abfedern.Gleichzeitig plagen uns
Zukunftsängste. Was, wenn Lotta vielleicht zu nervös ist? Wenn sie es
tatsächlich nicht schafft?
Inzwischen habe ich das Gefühl, die Prüfung
am 12. März sei meine Prüfung. Ich zähle die Tage. Ich habe Horror, dass Lotta
nicht schlafen kann. Schlafmittel sind für Kinder zu gefährlich, da habe ich
mich schon erkundigt. Man soll die Kinder nicht bis ins Prüfungszimmer
begleiten, steht im Leitfaden. Ich versuche mir aber auch schon vorzustellen,
wie ich reagiere, wenn die Resultate kommen. Dabei gibt es doch nur eine
einzige angemessene Reaktion: Selbst bei einem Scheitern sich mit den Kindern
freuen, dass eine lange, schwere Zeit nun wenigstens ein Ende gefunden hat.
Dass Scheitern zum Leben gehört; dass es nur ein vorübergehendes Scheitern ist
– das ganze Programm der Küchentischpsychologie.
Pancakes
Offenbar fehlt mir die
Grösse zu akzeptieren, dass Kinder ihren eigenen Weg gehen. Dass eine Tochter
nicht unbedingt aufs Gymi muss, nur weil ihre Eltern dort waren. Ich denke in
letzter Zeit oft daran, was der Arzt nach der Geburt von Lotta im Kreisssaal zu
mir sagte: «Ich möchte Sie bitten, sich eins zu merken: Kinder sind nicht das
Eigentum der Eltern, Kinder sind kein Teil von ihnen, sie sind ihnen
anvertraut. Erziehung heisst Erziehung zur Selbstständigkeit.»
Jeden Morgen mache ich für Lotta Pancakes,
seit Wochen das Einzige, das sie isst.
Von anderen Eltern hören wir, dass deren
Kinder bereits abends um halb neun schlafen. Lotta schläft immer erst um zehn.
Daraufhin habe ich meiner Frau vorgeschlagen, die Uhren heimlich um eine Stunde
vorzustellen. Leider lässt sich die digitale Zeitanzeige an der WLAN-Box nicht
umstellen. Wir müssten sie abkleben.
Ich weiss, ich sollte über all dem stehen.
Aber ich schaffe es nicht, und deshalb fühle ich mich elend. Gestern hat meine
Tochter mir ein Blatt mit ein paar schwierigen Matheaufgaben hingestreckt. Ich
brauchte eine halbe Stunde, um alles nachzurechnen. Jede Aufgabe war richtig
gelöst. Ich ging in Lottas Zimmer und lobte sie überschwänglich. Sie schaute
mich besorgt an und sagte: «Chills, Papa.»
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