Die gegenwärtige Debatte über schulische Integration ist häufig auf die
Separation von schulleistungsschwachen Schülern in Kleinklassen (sogenannte
«Lernbehinderte») verengt. In diesen Klassen befanden sich in den vergangenen
Jahren fast nur noch Ausländerkinder aus Familien mit geringem Bezug zu unserer
Bildungsmentalität. Durch die Integration in Regelklassen sollen sich ihre
Chancen auf Bildungs- und Berufszugänge verbessern. Aber die Fokussierung auf
die Integration der Kleinklassenschüler reduziert die Problematik auf eine
Detailfrage.
Der Mythos der gerechten schulischen Selektion, NZZ, 9.3. von Urs Haeberlin
Chancengleichheit durch die Schaffung von Integrationsklassen gilt als
bildungspolitisch modern. Gemeint ist die Vorgabe von Quoten in Sekundarschulen,
Gymnasien und Universitäten, die sich nach Geschlecht sowie sozialer und
ethnischer Herkunft an den prozentualen Anteilen in der Bevölkerung
orientieren. Bisher wurde kaum problematisiert, ob sich «Integration» mit
«Chancengleichheit» überhaupt verträgt. Die Chancengleichheit-Idee entspricht
einem Bildungswesen, in welchem mit fortschreitenden Schuljahren die
Leistungsstarken von den Leistungsschwachen getrennt werden.
Unerquickliches Wettkampfklima
Bildungssoziologische Forschungen zeigen, dass das Ideal einer Selektion
nach Begabung stets durch Merkmale wie soziale und ethnische Herkunft sowie
Geschlecht verzerrt ist. Allein der Umzug von einer Region in eine andere kann
die Chancen, beispielsweise auf den Übertritt ins Gymnasium, wesentlich verändern.
Der Glaube an eine «wissenschaftlich objektive» Selektion nach Begabung ist zum
grossen Teil Aberglaube. Dies gilt auch für den Glauben an die Herstellbarkeit
von Chancengleichheit durch Integrationsklassen. Zwar hat die frühere
Separation in Kleinklassen für einige Betroffene Chancen-Ungerechtigkeiten
zementiert. Aber das generell durch Selektion separierende Schulsystem hat sich
nach der Abschaffung dieser Klassen nicht integrativ verändert.
Die «Inklusionsromantik» einer oft praxisfernen pädagogischen
Hochschulelite macht offenbar blind für das weiter vorherrschende separierende
Selektionsprinzip der Schul- und Bildungstypen sowie der Berufe. Der Glaube an
eine Verbesserung der Bildungs- und Berufschancen für immer mehr Jugendliche
und Erwachsene ist Augenwischerei. Arbeitsplätze in der oberen Hälfte der
Berufshierarchie werden nicht beliebig zunehmen. Erfolgreiche soziale
Aufsteiger werden folglich Absteiger aus bisher privilegierten
Bevölkerungssegmenten produzieren.
So verschärft sich der Run auf schulische und berufliche Chancen.
Verlierer werden Opfer dieses fatalen Wettkampfklimas. Die traditionell
privilegierten Familien werden höchst selten wünschen, dass ihre Nachkommen zu
sozialen Absteigern werden. Deshalb wirken sie dem mit der Finanzierung von
Nachhilfeunterricht und dem Privatschulbesuch entgegen.
Viele Eltern aus der Mittel- und der Oberschicht sind heute schon ab dem
Kindergarten auf den zukünftigen Wettkampf fixiert. Die damit einhergehende
Entwertung von «integrierten» Schulschwachen wird in Kauf genommen. So ist zu
befürchten, dass wir infolge der bildungspolitischen Vermischung von
Integration mit Chancengleichheit unmerklich weiter in die Separation der
Erfolgreichen von den Erfolglosen abdriften. Versagende werden ihre Entwertung in
Zukunft eher noch mehr spüren als bisher.
Triebfeder Akademisierungsboom
Zwar loben Politiker das schweizerische duale Bildungssystem und damit
die Bedeutung der Berufslehren. Aber ein grosser Teil der Bevölkerung hat sich
den importierten Glauben an Akademisierung angeeignet. Beispielsweise scheint
sich im Kanton Zürich die Tendenz zum Übertritt ins Gymnasium nach der 6.
Primarklasse laufend zu verstärken. Dies, obschon es in den siebziger Jahren
den Trend zu einer Reform gegeben hatte, welche das Langzeitgymnasium durch die
Orientierungsstufe auf Sekundarstufe I ersetzen wollte. Der damaligen
Reformtendenz wird nicht einmal dadurch Rechnung getragen, dass in der
Sekundarschule die gleichen Lehrbücher benützt werden müssen wie im
Progymnasium.
Wer aus der Sekundarschule die Aufnahmeprüfung für das Kurzzeitgymnasium
bestanden hat, beginnt dieses zusammen mit Schülern des Progymnasiums, dessen
Lehrbuchinhalte vorausgesetzt werden. Es erwartet sie eine Probezeit, in der
sie gegenüber den «Langzeitgymnasiasten» durch die Lehrbuchdifferenz (z. B.
Vokabular in den Fremdsprachen) benachteiligt sind.
Wen wundert’s, dass vermögende Eltern ihre Kinder nicht nur vor der
Aufnahmeprüfung, sondern auch während der Probezeit samstags, ja gar sonntags
in Nachhilfekurse schicken, um die fehlenden Inhalte nachholen zu lassen?
Angesichts der durch die Presse bekanntgewordenen Ausfallquoten nach der
Probezeit im Kurzzeitgymnasium ist der derzeitige Run auf das Langzeitgymnasium
durchaus nachvollziehbar. Einige ältere Leser erinnern sich vielleicht, dass in
früheren Zeiten in Zürich die «Langzeitgymnasiasten» (damaliges Real- und
Literargymnasium) von den «Kurzzeitgymnasiasten» (damalige Oberrrealschule)
getrennt waren und Lehrmittelfreiheit keine Probleme verursachte.
Maturitätsdünkel
Der Drang vieler Eltern zur frühen Selektion ihrer Kinder ist auch
dadurch verstärkt worden, dass für immer mehr Berufsausbildungen eine Maturität
verlangt wird. Ausserdem haben Zuzüger aus Nachbarländern mit traditionell
elitärem Bildungsdünkel den Drang zum Langzeitgymnasium importiert. So ist
bekannt, dass es in Deutschland seit je eine breite Bildungsschicht gibt, die
mit allen Mitteln den Übertritt ihrer Kinder aus dem vierten (!) Grundschuljahr
in ein achtjähriges Gymnasium anstrebt.
Auf die Zunahme des Maturitätsfimmels hat die Schweizer Bildungspolitik
mit der Schaffung von bald unzähligen Fachmaturitäten und Berufsmaturitäten
reagiert. Seither grenzt sich auch in den Berufslehren die Gruppe der schulisch
«Weiterkommenden» von jener der schulisch «Stehenbleibenden» ab. Einerseits
gibt es nun ein Angebot von Chancen für vorerst Gescheiterte. Andererseits aber
werden Mutlose und gleichwohl Scheiternde in ihrem Selbstbild als Versager
verstärkt.
Ein Teil der früheren praxisorientierten Berufs- und Fachschulen hat das
bildungspolitische Klima dafür genutzt, den als höherwertig betrachteten Status
einer Hochschule zu erkämpfen. Damit erfordert nun die Aufnahme ein
Maturitätszeugnis. Die Bildungspolitiker unterstützten den Wandel zu
Hochschulen in der Meinung, dass dadurch die Berufsausbildung noch besser
werde, und mit der Forderung, dass sie sich aber deutlich von einer
akademischen Universitätsausbildung unterscheiden müsse.
Inzwischen zeichnet sich ab, dass sich einige Fachhochschulen den
wissenschaftlichen Ansprüchen einer Universität anbiedern und sich von einer
Berufsbildung mit paxisnahen Lehr- und Forschungsinhalten entfernen. Ihre
Forschung unterscheidet sich oft nicht von universitärer Grundlagenforschung.
Der Berufspraxis dienende Forschung sollte eigentlich Handreichungen
entwickeln, welche die Berufsarbeit verbessern und erleichtern. Bei der Auswahl
von Ausbildungs- und Forschungspersonal scheint oft die theoretisch-akademische
Qualifikation wichtiger zu sein als Kompetenzen in den Berufsfeldern, für
welche die Fachhochschule ausbilden muss.
Man findet beispielsweise pädagogische Hochschulen, die Personen
anstellen, die wenig oder überhaupt keine Unterrichtserfahrung haben, oft nicht
für den Lehrberuf ausgebildet sind und gelegentlich nicht einmal das
schweizerische Schulsystem kennen. Für praxisbezogene Forschung, die für
Lehrpersonen nützliche Unterrichtsleitfäden erarbeitet, braucht man doch wohl
eher den Nachweis einer erfolgreichen und reflektierten Unterrichtspraxis als
eine lange Liste von theorielastigen und mit unnötig kompliziertem Vokabular
aufgeblasenen Sprachhülsen! Der falsch verstandene Akademisierungsschub in der
Lehrerbildung dämmt den ausufernden Maturitätsglauben von Eltern natürlich
nicht ein.
Kaum je wird auf ein für Insider offenes Geheimnis hingewiesen: Der
Wandel der früheren Berufsdiplome zu akademischen Abschlüssen wurde nicht
zuletzt von Berufsverbänden vorangetrieben. Davon kann man sich im heutigen
Wertesystem eben höhere Löhne versprechen. Hinter dem Trend zur Akademisierung
versteckt sich oft ein berufspolitischer Kampf um finanzielle Vorteile durch
Akademikerstatus. Als Gewinner sieht sich, wer einen möglichst «hohen»
akademischen Berufsabschluss erreicht, als Verlierer, wem dieser Aufstieg nicht
vergönnt ist.
Zeitgeistresistente Lehrer
All dies hat zur Pervertierung der Integrationsidee zur
Separationsrealität beigetragen. Es ist umso erfreulicher, dass es viele
Lehrerinnen und Lehrer gibt, die vom Akademisierungsboom unberührt bleiben und
sich für eine von Materialismus freie pädagogische Gestaltung des Unterrichts
engagieren. Viele unterrichten trotz Gegenströmungen mit einer auf Pestalozzi
zurückgehenden pädagogischen Haltung. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben,
dass es weiterhin Lehrpersonen geben wird, die ihre Prioritäten unbeeindruckt
vom Zeitgeist setzen: den Kindern und Jugendlichen Sinnvolles vermitteln, sie
echte Bildung erfahren lassen und ein Gefühl des Wohlseins in einer
Gemeinschaft von Leistungsstarken und Leistungsschwachen wecken!
Urs Haeberlin war bis zu seiner
Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Heilpädagogik an der Universität
Freiburg (Schweiz) und Direktor des Heilpädagogischen Instituts dieser
Universität. Er hat während 25 Jahren zahlreiche Forschungsprojekte zu Fragen
von Integration und Separation geleitet.
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