Er ist wieder da, Hartmut von Hentig, der wichtigste lebende deutsche
Pädagoge. 2010 hatte Hentig geschworen, sich aus der Öffentlichkeit
zurückzuziehen. Das war, als er in den Verdacht möglicher Mitwisserschaft des
hundertfachen Missbrauchs durch den Schulleiter der Odenwaldschule, Gerold
Becker, geraten war. Becker war der Haupttäter an der reformpädagogischen
Superschule, die in der Schweiz eine Art Ableger hat, die Ecole d’Humanité im
Kanton Bern. Becker war aber zugleich der Lebensgefährte Hentigs, dessen Stern
schien damit untergegangen. Nun feiert der Erfinder des sokratischen
Lehrer-Eids eine Art Auferstehung – und zwar bei dem wichtigsten
deutschsprachigen Pädagogenkongress, dem Treffen der Gesellschaft für
Erziehungswissenschaften, an dem diese Woche in Essen Hunderte von Pädagogen
über Schule, Inklusion – und «pädagogischen Eros» diskutieren.
Pädagogen im Griff des Eros, NZZ, 20.3. von Christian Füller
Hartmut von Hentig wandelt wie ein Untoter gleich durch mehrere
Veranstaltungen – etwa wenn es um den bedeutenden Ernst-Christian-Trapp-Preis
gehen soll, den die Gesellschaft für Erziehungswissenschaften dem Nestor der
deutschen Reformschulen vergangenes Jahr entzogen hatte wegen seiner fehlenden
Sensibilität gegenüber den Missbrauchsopfern in seinem Buch «Noch immer mein
Leben». Hartnäckige Unterstützer verlangen nun, dass der Gründer der berühmten
Laborschule den Pädagogik-Preis wieder zurückbekommt.
Im erwähnten Buch zitiert Hentig zum Beispiel aus Briefwechseln eines
damals 15-jährigen Missbrauchsopfers mit Rektor Becker. Ob er wirklich glaube,
fragt der mächtige Schulleiter, der immer wieder in Radio und Fernsehen
auftrat, «dass ich irgendetwas tun könnte in dem Bewusstsein, dir damit zu
schaden?» Und weiter: Es gebe immer wieder Gelegenheiten, wo er zwar zunächst
das Nein respektiere, aber die Hoffnung nicht aufgebe, dass der Schüler doch ja
sage – «zum Beispiel, weil ich fest davon überzeugt bin, dass etwas, was du
jetzt vielleicht nicht willst, letztlich gut für dich sein wird oder dich
glücklich machen wird».
So zitiert Hentig die Briefe seitenlang. Der mehrfach von Becker
missbrauchte Schüler nahm Drogen, wurde früh zum Alkoholiker und kämpfte sich
später mit Sport und eiserner Disziplin aus den Fängen des berühmten Schulleiters
heraus. Hentig kam an diese Briefe und Passagen, indem er sich des privaten
Archivs des Täters bediente – zu dem er als dessen Freund Zugang hatte. Den
Schüler freilich hat er nie um Zustimmung gebeten. Die Anhänger Hentigs sind
dennoch über den Entzug des Trapp-Preises für solche Prosa erzürnt und nennen
es eine «Höchststrafe für Lebensleistung und Reputation» ihres Meisters. So
steht es in einer Stellungnahme, die über hundert Professoren und Pädagogen
unterzeichnet haben. Hentigs Verteidigern geht es darum, den einstigen
Parade-Intellektuellen wieder zu einem satisfaktionsfähigen Mann zu machen. Sie
betonen seine Unschuld an der sexuellen Gewalt, die allein Gerold Becker
ausgeübt hatte: «Eine Mitwisserschaft oder gar Mittäterschaft», schreibt etwa
der Bildungshistoriker Ulrich Herrmann, «wurde von Herrn von Hentig im letzten
Band seiner Lebenserinnerungen ausgeräumt.» Für dessen Mitwisserschaft sind
beweiskräftige Belege – jenseits von Mutmassungen – schwer zu finden.
Spuren sexualisierter
Gewalt
Hartmut von Hentigs Kritiker fordern indes etwas ganz anderes. Sie
wollen, dass die Pädagogik endlich den Spuren sexualisierter Gewalt in ihrem
Theoriegebäude nachgeht. Sie reden dann nicht von «Missbrauch», sondern vom
«pädagogischen Eros». Hinter diesem Terminus verstecken Pädagogen seit dem
antiken Athen die Erziehung eines Jungen zu einem angesehenen Bürger mittels
der sogenannten Päderastie oder, auf Deutsch, der Knabenliebe. Sie bedeutet:
Ein erwachsener Mann führt einen Jungen in die Gesellschaft ein – dafür darf er
sich an dem Kind befriedigen. Dieses Konzept ging zunächst als «pädagogischer
Eros», später als «pädagogischer Bezug» in die Grundlagen der Pädagogik ein.
Noch heute gibt es in der Erziehungswissenschaft bekennende Anhänger
dieser Praxis. Den Aufruf für Hentigs Rehabilitation unterschrieb eine ganze
Reihe von Anhängern des «pädagogischen Eros». Allen voran die
Literaturwissenschafterin Marita Keilson-Lauritz. Auf einer Tagung kurz nach
dem Bekanntwerden des Missbrauchs an der Odenwaldschule feierte sie den «Eros
als die Quelle der pädagogischen Leidenschaft». Keilson-Lauritz findet es
bedenklich, den erotischen Aspekt der Pädagogik «ausmerzen zu wollen». Einige
der heutigen Unterzeichner der Pro-Hentig-Petition lauschten Keilson-Lauritz
bereits im September 2010 in der Internationalen Akademie für innovative
Pädagogik. Unter ihnen auch der emeritierte Professor Jürgen Zimmer, der für
Hentigs Verteidigung eine eigene Website eingerichtet hat. In einem der dort
präsentierten Videos gibt Hartmut von Hentig seine Meinung über
Missbrauchsopfer kund: «Kinder, denen das geschehen ist, schütten Kübel von
Gemeinheit über mich aus», sagt Hentig. «Mit denen kann ich leider kein Mitleid
haben.»
Aber auch ein anderes Podium, bei dem es in Essen um Pädagogik und
Missbrauch geht, hat es in sich, wo es um die Frage gehen soll, ob «Disziplin
und Fachgesellschaft in pädagogische Gewaltverhältnisse verstrickt sind». Auf
dem Podium sitzt unter anderen Hans Thiersch, ein Tübinger Pädagoge und
Bekannter Gerold Beckers. Als Beckers Taten 1999 erstmals öffentlich wurden,
gehörte Thiersch jener Ethikkommission der Gesellschaft für
Erziehungswissenschaften an, die dem Missbrauch nachgehen sollte. Da die Ereignisse
laut Staatsanwaltschaft verjährt waren, stellten aber Thiersch und seine
Zweitgutachterin die Nachforschungen ein. So kam das viel feinere Raster, das
eine Erziehungs-Fachgesellschaft an das Ethos eines Pädagogen anlegen muss,
nicht zum Tragen. Becker durfte in der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
bleiben und wurde erst 2010 ausgeschlossen.
Bei den alten
Griechen
Auch Barbara Rendtorff, heute Forscherin an der Uni Paderborn, nimmt an
dem Podium teil. Sie hatte einst ein Kind in einer der frühkindlichen
Betreuungseinrichtungen, für die Daniel Cohn-Bendit traurige Berühmtheit
erlangte. In einem Text beschrieb er, wie er sich von Kindern in die Hose
greifen und sich streicheln liess. Cohn-Bendit hat sich von dem Text inzwischen
vielfach distanziert. Frühen Freispruch erhielt er dank einer von Barbara
Rendtorff unterzeichneten Erklärung. Will man diese danach fragen, wie die
Ehrenerklärung für Cohn-Bendit zustande kam, ob es damals zum Beispiel
Gespräche mit dem Autor der abstossenden Zeilen, Nachfragen in der Kita oder
Ähnliches gab, wird Rendtorff barsch. Es habe überhaupt keinen Anlass gegeben,
an Missbrauch oder Übergriffe zu denken, sagt sie.
In Essen nehme sie teil, um darüber zu diskutieren, wie man
Gewaltverhältnissen in der Ausbildung von Pädagogen vorbeugen könne. Auf
besagtem Podium sind übrigens keine Opfer vertreten. Obwohl sie gut beschreiben
könnten, dass dem Missbrauch zum Beispiel an der Odenwaldschule nicht selten
kleine Vorträge über die Selbstverständlichkeit des Eros bei den alten Griechen
vorausgingen. Dass nicht auch Missbrauchsopfer zu Wort kommen, schiebt der
Kongress-Organisator und Erziehungswissenschafter Fabian Kessl auf die knappe
Zeit. «Das nächste Mal würden wir das anders machen.» Die Enthüllung des
hundertfachen Missbrauchs an der Odenwaldschule ist allerdings nicht drei
Monate her, sondern immerhin schon zwei Jahrzehnte.
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