20. März 2018

Anhänger wollen Hartmut von Hentig rehabilitieren

Er ist wieder da, Hartmut von Hentig, der wichtigste lebende deutsche Pädagoge. 2010 hatte Hentig geschworen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Das war, als er in den Verdacht möglicher Mitwisserschaft des hundertfachen Missbrauchs durch den Schulleiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, geraten war. Becker war der Haupttäter an der reformpädagogischen Superschule, die in der Schweiz eine Art Ableger hat, die Ecole d’Humanité im Kanton Bern. Becker war aber zugleich der Lebensgefährte Hentigs, dessen Stern schien damit untergegangen. Nun feiert der Erfinder des sokratischen Lehrer-Eids eine Art Auferstehung – und zwar bei dem wichtigsten deutschsprachigen Pädagogenkongress, dem Treffen der Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, an dem diese Woche in Essen Hunderte von Pädagogen über Schule, Inklusion – und «pädagogischen Eros» diskutieren.
Pädagogen im Griff des Eros, NZZ, 20.3. von Christian Füller


Hartmut von Hentig wandelt wie ein Untoter gleich durch mehrere Veranstaltungen – etwa wenn es um den bedeutenden Ernst-Christian-Trapp-Preis gehen soll, den die Gesellschaft für Erziehungswissenschaften dem Nestor der deutschen Reformschulen vergangenes Jahr entzogen hatte wegen seiner fehlenden Sensibilität gegenüber den Missbrauchsopfern in seinem Buch «Noch immer mein Leben». Hartnäckige Unterstützer verlangen nun, dass der Gründer der berühmten Laborschule den Pädagogik-Preis wieder zurückbekommt.

Im erwähnten Buch zitiert Hentig zum Beispiel aus Briefwechseln eines damals 15-jährigen Missbrauchsopfers mit Rektor Becker. Ob er wirklich glaube, fragt der mächtige Schulleiter, der immer wieder in Radio und Fernsehen auftrat, «dass ich irgendetwas tun könnte in dem Bewusstsein, dir damit zu schaden?» Und weiter: Es gebe immer wieder Gelegenheiten, wo er zwar zunächst das Nein respektiere, aber die Hoffnung nicht aufgebe, dass der Schüler doch ja sage – «zum Beispiel, weil ich fest davon überzeugt bin, dass etwas, was du jetzt vielleicht nicht willst, letztlich gut für dich sein wird oder dich glücklich machen wird».

So zitiert Hentig die Briefe seitenlang. Der mehrfach von Becker missbrauchte Schüler nahm Drogen, wurde früh zum Alkoholiker und kämpfte sich später mit Sport und eiserner Disziplin aus den Fängen des berühmten Schulleiters heraus. Hentig kam an diese Briefe und Passagen, indem er sich des privaten Archivs des Täters bediente – zu dem er als dessen Freund Zugang hatte. Den Schüler freilich hat er nie um Zustimmung gebeten. Die Anhänger Hentigs sind dennoch über den Entzug des Trapp-Preises für solche Prosa erzürnt und nennen es eine «Höchststrafe für Lebensleistung und Reputation» ihres Meisters. So steht es in einer Stellungnahme, die über hundert Professoren und Pädagogen unterzeichnet haben. Hentigs Verteidigern geht es darum, den einstigen Parade-Intellektuellen wieder zu einem satisfaktionsfähigen Mann zu machen. Sie betonen seine Unschuld an der sexuellen Gewalt, die allein Gerold Becker ausgeübt hatte: «Eine Mitwisserschaft oder gar Mittäter­schaft», schreibt etwa der Bildungshistoriker Ulrich Herrmann, «wurde von Herrn von Hentig im letzten Band seiner Lebenserinnerungen ausgeräumt.» Für dessen Mitwisserschaft sind beweiskräftige Belege – jenseits von Mutmassungen – schwer zu finden.

Spuren sexualisierter Gewalt
Hartmut von Hentigs Kritiker fordern indes etwas ganz anderes. Sie wollen, dass die Pädagogik endlich den Spuren sexualisierter Gewalt in ihrem Theoriegebäude nachgeht. Sie reden dann nicht von «Missbrauch», sondern vom «pädagogischen Eros». Hinter diesem Terminus verstecken Pädagogen seit dem antiken Athen die Erziehung eines Jungen zu einem angesehenen Bürger mittels der sogenannten Päderastie oder, auf Deutsch, der Knabenliebe. Sie bedeutet: Ein erwachsener Mann führt einen Jungen in die Gesellschaft ein – dafür darf er sich an dem Kind befriedigen. Dieses Konzept ging zunächst als «pädagogischer Eros», später als «pädagogischer Bezug» in die Grundlagen der Pädagogik ein.

Noch heute gibt es in der Erziehungswissenschaft bekennende Anhänger dieser Praxis. Den Aufruf für Hentigs Rehabilitation unterschrieb eine ganze Reihe von Anhängern des «pädagogischen Eros». Allen voran die Literaturwissenschafterin Marita Keilson-Lauritz. Auf einer Tagung kurz nach dem Bekanntwerden des Missbrauchs an der Odenwaldschule feierte sie den «Eros als die Quelle der pädagogischen Leidenschaft». Keilson-Lauritz findet es bedenklich, den erotischen Aspekt der Pädagogik «ausmerzen zu wollen». Einige der heutigen Unterzeichner der Pro-Hentig-Petition lauschten Keilson-Lauritz bereits im September 2010 in der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik. Unter ihnen auch der emeritierte Professor Jürgen Zimmer, der für Hentigs Verteidigung eine eigene Website eingerichtet hat. In einem der dort präsentierten Videos gibt Hartmut von Hentig seine Meinung über Missbrauchsopfer kund: «Kinder, denen das geschehen ist, schütten Kübel von Gemeinheit über mich aus», sagt Hentig. «Mit denen kann ich leider kein Mitleid haben.»

Aber auch ein anderes Podium, bei dem es in Essen um Pädagogik und Missbrauch geht, hat es in sich, wo es um die Frage gehen soll, ob «Disziplin und Fachgesellschaft in pädagogische Gewaltverhältnisse verstrickt sind». Auf dem Podium sitzt unter anderen Hans Thiersch, ein Tübinger Pädagoge und Bekannter Gerold Beckers. Als Beckers Taten 1999 erstmals öffentlich wurden, gehörte Thiersch jener Ethikkommission der Gesellschaft für Erziehungswissenschaften an, die dem Missbrauch nachgehen sollte. Da die Ereignisse laut Staatsanwaltschaft verjährt waren, stellten aber Thiersch und seine Zweitgutachterin die Nachforschungen ein. So kam das viel feinere Raster, das eine Erziehungs-Fachgesellschaft an das Ethos eines Pädagogen anlegen muss, nicht zum Tragen. Becker durfte in der Gesellschaft für Erziehungswissenschaft bleiben und wurde erst 2010 ausgeschlossen.

Bei den alten Griechen
Auch Barbara Rendtorff, heute Forscherin an der Uni Paderborn, nimmt an dem Podium teil. Sie hatte einst ein Kind in einer der frühkindlichen Betreuungseinrichtungen, für die Daniel Cohn-Bendit traurige Berühmtheit erlangte. In einem Text beschrieb er, wie er sich von Kindern in die Hose greifen und sich streicheln liess. Cohn-Bendit hat sich von dem Text inzwischen vielfach distanziert. Frühen Freispruch erhielt er dank einer von Barbara Rendtorff unterzeichneten Erklärung. Will man diese danach fragen, wie die Ehrenerklärung für Cohn-Bendit zustande kam, ob es damals zum Beispiel Gespräche mit dem Autor der abstossenden Zeilen, Nachfragen in der Kita oder Ähnliches gab, wird Rendtorff barsch. Es habe überhaupt keinen Anlass gegeben, an Missbrauch oder Übergriffe zu denken, sagt sie.

In Essen nehme sie teil, um darüber zu diskutieren, wie man Gewaltverhältnissen in der Ausbildung von Pädagogen vorbeugen könne. Auf besagtem Podium sind übrigens keine Opfer vertreten. Obwohl sie gut beschreiben könnten, dass dem Missbrauch zum Beispiel an der Odenwaldschule nicht selten kleine Vorträge über die Selbstverständlichkeit des Eros bei den alten Griechen vorausgingen. Dass nicht auch Missbrauchsopfer zu Wort kommen, schiebt der Kongress-Organisator und Erziehungswissenschafter Fabian Kessl auf die knappe Zeit. «Das nächste Mal würden wir das anders machen.» Die Enthüllung des hundertfachen Missbrauchs an der Odenwaldschule ist allerdings nicht drei Monate her, sondern immerhin schon zwei Jahrzehnte.


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