Diesen Mai fahren unsere Söhne mit ihren jeweiligen Klassen zum ersten
Mal ins Klassenlager. Der eine auf einen Bauernhof, der andere in ein
Waldschulheim. Das Highlight des laufenden Schuljahres schlechthin! Doch was
des einen Freud, ist des anderen Leid: Während sich der eine Sohn vorbehaltlos
auf das Lager freut, bereitet es dem anderen schon jetzt schlaflose Nächte. Wie
eine graue Wolke fühle es sich an, sagt er, verbunden mit der beinahe täglich
wiederkehrenden Frage, ob er da tatsächlich mitfahren müsse. Da ich ein
klassisches Heimweh-Kind war, kann ich seine Bedenken gut nachvollziehen.
Alptraum Klassenlager, Mamablog, Tages Anzeiger, 6.3. von Regula Portillo
Die Klassenlager während der Primarschule waren für mich allesamt ein
Graus; noch heute lösen bei mir Gedanken an Schlafsäle mit Kajütenbetten,
Teekannen aus Chromstahl oder Abwaschdienst in Grossküchen mulmige Gefühle aus.
Deshalb fällt es mir auch nicht ganz leicht, meinem Sohn Mut zuzureden im Sinne
von «Du wirst bestimmt viel Spass haben mit deinen Freunden» oder «Die Tage
werden vergehen wie im Flug» etc. Denn gerade dies ist ja das Problem bei
Heimweh; man hat «Längizit»; die Zeit scheint den Heimweh-Geplagten endlos
lang.
Wenn Heimweh die Oberhand gewinnt
Gleichzeitig hoffe ich inständig, dass es so ist, dass er sich mit
seinen Freunden toll amüsieren und kaum einen Gedanken an zu Hause verschwenden
wird, kurz: Dass er das lähmende Heimweh nicht von mir geerbt hat. Denn
«lähmend» war es tatsächlich; ich erinnere mich nur zu gut an diesen schweren,
atemraubenden Druck in meinem Bauch, der nicht verschwinden wollte und
besonders gegen Tagesende so stark wurde, dass ich beim Abendessen jeweils
keinen Bissen herunterbrachte und mich später durchs Abendprogramm und in den
Schlaf weinte. Ich weiss nicht, ob es meine Eltern und Geschwister waren, die
mir so sehr fehlten, oder ob einfach dieses dunkle Gefühl, am falschen Ort zu
sein, Oberhand gewonnen hatte.
Natürlich habe auch ich die Klassenlager überlebt; spätestens ab der
Oberstufe war das Heimweh komplett verschwunden, und ich nutzte jede
Gelegenheit, die Welt fernab meines Elternhauses zu entdecken. Nichtsdestotrotz
bedrückt es mich, dass es unserem Sohn derart Sorgen bereitet, und ich
überlege, womit ich ihm die Angst nehmen und eine Art von Vorfreude wecken
könnte. Ein häufiger Ratschlag ist, das Kind gut auf die eintretende Situation
vorzubereiten – es soll möglichst genau wissen, wie der Tagesablauf aussieht
und wohin die Reise geht.
Abenteuer Klassenlager
Diesen Tipp müssen damals auch meine Eltern bekommen haben, denn einmal
unternahmen wir gemeinsam eine Velotour zum Pfadiheim, wo ich zwei Wochen
später ins Lager fahren sollte. Obwohl diese Strategie des «Vertrautmachens»
bei mir damals jegliche Wirkung verfehlte, kann ich mir gut vorstellen, dass es
hilft, die Schlafsituation zu kennen und beispielsweise zu wissen, mit welchen
Kindern man sich das Zimmer teilt. Auswärts schlafen an sich bereitet unseren
Jungs keine Mühe, beide übernachten gern bei Freunden. Aber klar, zum einen
kehren sie von dort anderntags wieder nach Hause zurück, und zum anderen
handelt es sich dabei nicht um eine so grosse Gruppe von Kindern. Während fünf
Tagen rund um die Uhr mit vierundzwanzig anderen Kindern zusammen zu sein, ist
gerade für etwas stillere Gemüter durchaus eine Herausforderung – gleichzeitig
aber auch ein schönes Erlebnis.
Ich will möglichst verhindern, meine eigenen Erfahrungen oder gar mein
«Heimweh-Trauma» auf meine Kinder zu übertragen. Anstelle dessen möchte ich Zuversicht
ausstrahlen, dass etwas Heimweh zwar dazugehören kann, beide aber glücklich
heimkehren werden; denn rein objektiv betrachtet, ist so ein Klassenlager ja
eine tolle Sache!
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Mutter».
Regula Portillo studierte in Freiburg
Germanistik und Kunstgeschichte. Sie verbrachte mehrere Jahre in Norwegen,
Nicaragua und Mexiko. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Frankfurt am Main und
arbeitet als freie Texterin und Autorin. 2017 erschien ihr erster Roman «Schwirrflug».
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