Der Schulalltag wird je länger, desto mehr von der Digitalisierung und der Individualisierung geprägt. Beat Schwendimann, Pädagoge und Vertreter der Lehrerschaft, spricht über Chancen – und warnt vor Gefahren.
«Technologie ersetzt keine Lehrperson», NZZ, 23.2. von Jörg Krummenacher
Herr Schwendimann, die Schule ist zu einem Labor
der Digitalisierung geworden. Verbände wie Economiesuisse fordern eine breite
Nutzung der technologischen Möglichkeiten, Pädagogen warnen ihrerseits vor
einer digitalen Diktatur. Was sagt der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer
Schweiz (LCH)?
Wir müssen eine sinnvolle Balance finden zwischen
Technologieverherrlichung und -verteufelung. Digitale Technologien sind im
Schulbetrieb schon lange Tatsache. Was sich geändert hat, ist die
Geschwindigkeit, mit der digitale Technologien entwickelt werden, entsprechend
gestiegen ist der Druck auf die Schulen, diese anzuwenden. Das ist insofern
begrüssenswert, als auch der Druck auf die Entscheidungsträger gestiegen ist,
den Schulen entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Aus unserer
Sicht kann aber nicht verlangt werden, dass nun alle Lehrkräfte plötzlich zu
Fachleuten für digitale Technologien werden; dazu braucht es die nötigen Mittel
und die Zeit für Aus- und Weiterbildungen.
Die Forderung von Economiesuisse lautet, die
digitalen Möglichkeiten verstärkt für eine individuelle Förderung der Schüler
einzusetzen. Wie weit sind hier die Schulen?
Individualisierter Unterricht ist nichts Neues. Interessant finde ich,
dass sich Economiesuisse auf diese eine Methode fokussiert. Lehrpersonen machen
aber schon lange diversifizierten Unterricht, um auf die unterschiedlichen
Bedürfnisse der Lernenden einzugehen. Der Ansatz wird durch den Lehrplan 21
noch verstärkt und durch digitale Technologien unterstützt. Es gibt bereits
innovative Ansätze, zum Beispiel die Mosaikschulen, wo Lernende aus
verschiedenen Jahrgängen in derselben Klasse sind und wo flexibel nach
Lernfortschritt mit ihnen gearbeitet wird.
Economiesuisse fokussiert speziell auf den
Unterricht in Mathematik und in der Erstsprache. Zu eng gedacht?
Digitalisierung darf nicht auf Kosten bestehender Fächer gehen. Der LCH
geht vielmehr davon aus, dass digitale Hilfsmittel in allen Fächern
zielgerichtet integriert werden können: auch im Turnen, in der Handarbeit, im
Zeichnen oder in der Musik. Meine Kernaussage lautet: Es geht nicht um
Technologie, sondern um Pädagogik. Das heisst: Eine gute, zeitgemässe
Infrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für die Schulen, sie ist aber nur der
erste Schritt. Dann kommt die Pädagogik ins Spiel, die Frage, wo es sinnvoll
ist und wo nicht, die Technologie einzusetzen. Ich nenne ein etwas zynisches
Beispiel eines wenig sinnvollen Einsatzes: Eine Lehrperson schreibt etwas auf
dem Smartboard, und die Lernenden tippen das auf ihrem Tablet ab. Das
entspricht dem alten Ansatz des Frontalunterrichts, der heute in der Regel
nicht mehr zum Zuge kommt. Allein die Tatsache, dass es ein Smartboard hat,
führt nicht automatisch zu neuen pädagogischen Ansätzen.
Kommen wir zu positiven Beispielen. Wo setzen die
Schulen heute digitale Technologien sinnvoll ein?
Ich denke, sie sind auf einem guten Weg, wobei es noch stark von Schule
zu Schule variiert. Ein klassisches Beispiel, wo Software eingesetzt wird, ist
der Sprachunterricht, etwa beim Lernen von Wörtern und von Grammatik. Oft
eingesetzt wird auch kollaborative Software, wo Schüler in Gruppen zum Beispiel
gemeinsam Texte schreiben oder Videos aufnehmen. Das ist eine Bereicherung des
Unterrichts. Die Lehrperson kann sich dabei auf das Vertiefen, das kritische
Betrachten konzentrieren.
Dabei besteht bei Lehrkräften aber oft die Angst,
dass sie schleichend entmündigt werden und nur noch als Coaches von
Lernprogrammen arbeiten.
Durch gewisse Lernplattformen werden den Lehrkräften die Lernmethode und
der Lerninhalt vorgeschrieben. Dagegen wehren wir uns. Der Entscheid darüber
muss bei den Lehrpersonen bleiben, wir dürfen ihn nicht einfach an einen
Konzern abgeben, der die Plattformen entwickelt und vielleicht ganz andere Lernziele
verfolgt als die Schule. Seitens des LCH wollen wir digitale Lehrmittel haben,
die adaptiv und modular sind, so dass der Lehrperson die Autorität nicht
weggenommen wird, sondern dass sie im Gegenteil mehr Möglichkeiten hat, den
Unterricht an die Bedürfnisse der Klasse anzupassen. Besonders wichtig ist
auch, dass die Lehrpersonen begleitet werden, dass sie für Weiterbildungen
freigestellt und diese auch finanziell unterstützt werden. Ebenso brauchen sie
Support. Darunter verstehen wir einerseits den technischen Bereich durch einen
Fachmann, der schnell zur Verfügung steht, anderseits den
technisch-pädagogischen Bereich. Die Pädagogischen Hochschulen bilden dafür
Fachleute aus, die den Lehrpersonen helfen, Projekte mithilfe der Technologie
umzusetzen. Zudem können sich die Schulen mit ihren Praxisbeispielen
austauschen. Der LCH ist zusammen mit dem Schulleiterverband an der
Schulentwicklungsplattform ProfilQ beteiligt, die Schulen im Austausch
praktischer Lösungsansätze unterstützt. Da besteht viel Potenzial, voneinander
zu lernen.
Das alles tönt nach höherem Personalaufwand und
höheren Kosten.
Ja. Es braucht die nötigen Ressourcen dafür. Forschungsergebnisse
belegen, dass gut umgesetzte digitale Technologie einen Mehrwert für Lehr- und
Lernprozesse bringt. Wenn man allerdings nur Geld investiert in die Anschaffung
von Geräten, aber nicht in Support und Schulung, ist das im Prinzip eine
Verschwendung.
Händeringend wird heute nach männlichen Lehrkräften
für die Volksschule gesucht. Schreckt die Digitalisierung des Unterrichts
Lehrkräfte ab, den Beruf zu ergreifen?
Ich persönlich sehe das eher als Bereicherung, vor allem wenn man mehr
Männer ansprechen will, den Beruf zu ergreifen. Gute Lehrpersonen wird es immer
brauchen. Technologie ersetzt keine Lehrperson.
Sprechen wir von den Schülerinnen und Schülern: Ab
wann sollen in den Schulen zum Beispiel Tablets eingesetzt werden? Es gibt ja
sogar Ideen, dies bereits im Kindergarten zu tun.
Da gibt es keine klaren Regeln. Entwicklungspsychologische Empfehlungen
gehen dahin, dass man bei sehr jungen Kindern die Bildschirmzeit sehr kurz
halten sollte oder dass diese Kinder am besten ganz ohne Bildschirm auskommen
sollten. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, viele physische Erfahrungen
zu sammeln. Das findet heute zum Teil zu wenig statt. Lehrpersonen in
Kindergärten berichten, dass manche Kinder Mühe mit physischen Aktivitäten
hätten, dass sie zum Beispiel überhaupt nicht wüssten, wie man mit einer Schere
umgehe, dass sie keinen Purzelbaum schlagen oder keinen Ball fangen könnten.
Digitale Technologie kann Erfahrungen mit der realen Umwelt nicht ersetzen. Im
Lauf der Schulzeit kann man dann graduell mehr Zugang zur digitalen Technologie
geben.
Gibt es Ihrerseits Empfehlungen, wie dies konkret
erfolgen soll?
Man sollte vor allem bei jungen Kindern keinen unkontrollierten – und
falls doch, nur einen zeitlich beschränkten – Zugang gewähren. Es geht darum,
eine Balance zu finden: Lehrer und Eltern sollten die Kontrolle darüber haben,
wie die Kinder die Geräte nutzen. Die Gefahr liegt darin, dass ein Kind etwa
mittels Tablet unbeschränkt Zugang zu allen Inhalten hat. Das Internet ist aber
kein Ort, der für junge Kinder geeignet ist. Der Umgang mit digitalen
Technologien muss in der Schule wie auch zu Hause thematisiert werden. Es gibt
Eltern, die brauchen die Geräte, um die Kinder ruhigzustellen.
Eine Befürchtung geht auch dahin, dass angesichts
der zunehmenden Individualisierung die sozialen Kompetenzen der Kinder
unterentwickelt bleiben.
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die Technologie an sich
schuld sei an einer gewissen Vereinsamung. Im Gegenteil: In der Schule werden
digitale Technologien oftmals für Gruppenprojekte genutzt, zudem sind viele
Schülerinnen und Schüler über soziale Netzwerke verbunden. Für die junge
Generation verschwimmt der Unterschied zwischen physischer und digitaler
Kommunikation.
Die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft
bringt den Schulen also eine Verarmung und eine Bereicherung gleichzeitig.
Gewisse Lerninhalte vermittelt man weiterhin besser von Mensch zu
Mensch. Ich sehe die digitalen Möglichkeiten aber als Bereicherung des
Unterrichts, wenn sie zielgerichtet eingesetzt werden. Gleichzeitig müssen wir
uns bewusst sein, was mit den Daten passiert, und dafür klare Regelungen schaffen.
Denn jedes Mal beim Einloggen werden Daten gesammelt. Technologiefirmen pushen
den gläsernen Schüler und streben komplette Datensätze über die Lernenden an.
Die heikle Frage dabei ist: Gelangen die Datensätze zum Beispiel später zu
einem Arbeitgeber?, womit er alles weiss, was der Betreffende in der Schulzeit
getan hat. Das wäre informativer als jede Stellenbewerbung, ist aber höchst
problematisch, denn der Lernprozess verläuft ja nicht immer linear, und manche
haben auch einmal einen Durchhänger in der Schule. Das Recht, nicht immer
perfekte Leistungen zu zeigen, muss weiterhin bestehen. Dieser Gefahr des
Datenstroms müssen sich Schulen und die Politik bewusst sein und beim
Datenschutz darauf reagieren können.
Interview: Jörg Krummenacher
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen