23. Februar 2018

Nicht alle Lehrer können Fachleute für digitale Technologien werden

Der Schulalltag wird je länger, desto mehr von der Digitalisierung und der Individualisierung geprägt. Beat Schwendimann, Pädagoge und Vertreter der Lehrerschaft, spricht über Chancen – und warnt vor Gefahren.
«Technologie ersetzt keine Lehrperson», NZZ, 23.2. von Jörg Krummenacher


Herr Schwendimann, die Schule ist zu einem Labor der Digitalisierung ­geworden. Verbände wie Economiesuisse fordern eine breite Nutzung der tech­nologischen Möglichkeiten, Pädagogen warnen ihrerseits vor einer ­digitalen Diktatur. Was sagt der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)?
Wir müssen eine sinnvolle Balance finden zwischen Technologieverherrlichung und -verteufelung. Digitale Technologien sind im Schulbetrieb schon lange Tatsache. Was sich geändert hat, ist die Geschwindigkeit, mit der digitale Technologien entwickelt werden, entsprechend gestiegen ist der Druck auf die Schulen, diese anzuwenden. Das ist insofern begrüssenswert, als auch der Druck auf die Entscheidungsträger gestiegen ist, den Schulen entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Aus unserer Sicht kann aber nicht verlangt werden, dass nun alle Lehrkräfte plötzlich zu Fachleuten für digitale Technologien werden; dazu braucht es die nötigen Mittel und die Zeit für Aus- und Weiterbildungen.

Die Forderung von Economiesuisse lautet, die digitalen Möglichkeiten verstärkt für eine individuelle Förderung der Schüler einzusetzen. Wie weit sind hier die Schulen?
Individualisierter Unterricht ist nichts Neues. Interessant finde ich, dass sich Economiesuisse auf diese eine Methode fokussiert. Lehrpersonen machen aber schon lange diversifizierten Unterricht, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lernenden einzugehen. Der Ansatz wird durch den Lehrplan 21 noch verstärkt und durch digitale Technologien unterstützt. Es gibt bereits innovative Ansätze, zum Beispiel die Mosaikschulen, wo Lernende aus verschiedenen Jahrgängen in derselben Klasse sind und wo flexibel nach Lernfortschritt mit ihnen gearbeitet wird.

Economiesuisse fokussiert speziell auf den Unterricht in Mathematik und in der Erstsprache. Zu eng gedacht?
Digitalisierung darf nicht auf Kosten bestehender Fächer gehen. Der LCH geht vielmehr davon aus, dass digitale Hilfsmittel in allen Fächern zielgerichtet integriert werden können: auch im Turnen, in der Handarbeit, im Zeichnen oder in der Musik. Meine Kernaussage lautet: Es geht nicht um Technologie, sondern um Pädagogik. Das heisst: Eine gute, zeitgemässe Infrastruktur ist eine Grundvoraussetzung für die Schulen, sie ist aber nur der erste Schritt. Dann kommt die Pädagogik ins Spiel, die Frage, wo es sinnvoll ist und wo nicht, die Technologie einzusetzen. Ich nenne ein etwas zynisches Beispiel eines wenig sinnvollen Einsatzes: Eine Lehrperson schreibt etwas auf dem Smartboard, und die Lernenden tippen das auf ihrem Tablet ab. Das entspricht dem alten Ansatz des Frontalunterrichts, der heute in der Regel nicht mehr zum Zuge kommt. Allein die Tatsache, dass es ein Smartboard hat, führt nicht automatisch zu neuen pädagogischen Ansätzen.

Kommen wir zu positiven Beispielen. Wo setzen die Schulen heute digitale Technologien sinnvoll ein?
Ich denke, sie sind auf einem guten Weg, wobei es noch stark von Schule zu Schule variiert. Ein klassisches Beispiel, wo Software eingesetzt wird, ist der Sprachunterricht, etwa beim Lernen von Wörtern und von Grammatik. Oft eingesetzt wird auch kollaborative Software, wo Schüler in Gruppen zum Beispiel gemeinsam Texte schreiben oder Videos aufnehmen. Das ist eine Bereicherung des Unterrichts. Die Lehrperson kann sich dabei auf das Vertiefen, das kritische Betrachten konzentrieren.

Dabei besteht bei Lehrkräften aber oft die Angst, dass sie schleichend entmündigt werden und nur noch als Coaches von Lernprogrammen arbeiten.
Durch gewisse Lernplattformen werden den Lehrkräften die Lernmethode und der Lerninhalt vorgeschrieben. Dagegen wehren wir uns. Der Entscheid darüber muss bei den Lehrpersonen bleiben, wir dürfen ihn nicht einfach an einen Konzern abgeben, der die Plattformen entwickelt und vielleicht ganz andere Lernziele verfolgt als die Schule. Seitens des LCH wollen wir digitale Lehrmittel haben, die adaptiv und modular sind, so dass der Lehrperson die Autorität nicht weggenommen wird, sondern dass sie im Gegenteil mehr Möglichkeiten hat, den Unterricht an die Bedürfnisse der Klasse anzupassen. Besonders wichtig ist auch, dass die Lehrpersonen begleitet werden, dass sie für Weiterbildungen freigestellt und diese auch finanziell unterstützt werden. Ebenso brauchen sie Support. Darunter verstehen wir einerseits den technischen Bereich durch einen Fachmann, der schnell zur Verfügung steht, anderseits den technisch-pädagogischen Bereich. Die Pädagogischen Hochschulen bilden dafür Fachleute aus, die den Lehrpersonen helfen, Projekte mithilfe der Technologie umzusetzen. Zudem können sich die Schulen mit ihren Praxisbeispielen austauschen. Der LCH ist zusammen mit dem Schulleiterverband an der Schulentwicklungsplattform ProfilQ beteiligt, die Schulen im Austausch praktischer Lösungsansätze unterstützt. Da besteht viel Potenzial, voneinander zu lernen.

Das alles tönt nach höherem Personalaufwand und höheren Kosten.
Ja. Es braucht die nötigen Ressourcen dafür. Forschungsergebnisse belegen, dass gut umgesetzte digitale Technologie einen Mehrwert für Lehr- und Lernprozesse bringt. Wenn man allerdings nur Geld investiert in die Anschaffung von Geräten, aber nicht in Support und Schulung, ist das im Prinzip eine Verschwendung.

Händeringend wird heute nach männlichen Lehrkräften für die Volksschule gesucht. Schreckt die Digitalisierung des Unterrichts Lehrkräfte ab, den Beruf zu ergreifen?
Ich persönlich sehe das eher als Bereicherung, vor allem wenn man mehr Männer ansprechen will, den Beruf zu ergreifen. Gute Lehrpersonen wird es immer brauchen. Technologie ersetzt keine Lehrperson.

Sprechen wir von den Schülerinnen und Schülern: Ab wann sollen in den Schulen zum Beispiel Tablets eingesetzt werden? Es gibt ja sogar Ideen, dies bereits im Kindergarten zu tun.
Da gibt es keine klaren Regeln. Entwicklungspsychologische Empfehlungen gehen dahin, dass man bei sehr jungen Kindern die Bildschirmzeit sehr kurz halten sollte oder dass diese Kinder am besten ganz ohne Bildschirm auskommen sollten. Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, viele physische Erfahrungen zu sammeln. Das findet heute zum Teil zu wenig statt. Lehrpersonen in Kindergärten berichten, dass manche Kinder Mühe mit physischen Aktivitäten hätten, dass sie zum Beispiel überhaupt nicht wüssten, wie man mit einer Schere umgehe, dass sie keinen Purzelbaum schlagen oder keinen Ball fangen könnten. Digitale Technologie kann Erfahrungen mit der realen Umwelt nicht ersetzen. Im Lauf der Schulzeit kann man dann graduell mehr Zugang zur digitalen Technologie geben.

Gibt es Ihrerseits Empfehlungen, wie dies konkret erfolgen soll?
Man sollte vor allem bei jungen Kindern keinen unkontrollierten – und falls doch, nur einen zeitlich beschränkten – Zugang gewähren. Es geht darum, eine Balance zu finden: Lehrer und Eltern sollten die Kontrolle darüber haben, wie die Kinder die Geräte nutzen. Die Gefahr liegt darin, dass ein Kind etwa mittels Tablet unbeschränkt Zugang zu allen Inhalten hat. Das Internet ist aber kein Ort, der für junge Kinder geeignet ist. Der Umgang mit digitalen Technologien muss in der Schule wie auch zu Hause thematisiert werden. Es gibt Eltern, die brauchen die Geräte, um die Kinder ruhigzustellen.

Eine Befürchtung geht auch dahin, dass angesichts der zunehmenden Individualisierung die sozialen Kompetenzen der Kinder unterentwickelt bleiben.
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass die Technologie an sich schuld sei an einer gewissen Vereinsamung. Im Gegenteil: In der Schule werden digitale Technologien oftmals für Gruppenprojekte genutzt, zudem sind viele Schülerinnen und Schüler über soziale Netzwerke verbunden. Für die junge Generation verschwimmt der Unterschied zwischen physischer und digitaler Kommunikation.

Die zunehmende Digitalisierung unserer Gesellschaft bringt den Schulen also eine Verarmung und eine Bereicherung gleichzeitig.
Gewisse Lerninhalte vermittelt man weiterhin besser von Mensch zu Mensch. Ich sehe die digitalen Möglichkeiten aber als Bereicherung des Unterrichts, wenn sie zielgerichtet eingesetzt werden. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst sein, was mit den Daten passiert, und dafür klare Regelungen schaffen. Denn jedes Mal beim Einloggen werden Daten gesammelt. Technologiefirmen pushen den gläsernen Schüler und streben komplette Datensätze über die Lernenden an. Die heikle Frage dabei ist: Gelangen die Datensätze zum Beispiel später zu einem Arbeitgeber?, womit er alles weiss, was der Betreffende in der Schulzeit getan hat. Das wäre informativer als jede Stellenbewerbung, ist aber höchst problematisch, denn der Lernprozess verläuft ja nicht immer linear, und manche haben auch einmal einen Durchhänger in der Schule. Das Recht, nicht immer perfekte Leistungen zu zeigen, muss weiterhin bestehen. Dieser Gefahr des Datenstroms müssen sich Schulen und die Politik bewusst sein und beim Datenschutz darauf reagieren können.
Interview: Jörg Krummenacher


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen