Er bringe Kinder und Lehrpersonen an den Anschlag,
kritisiert Schulleiter Harry Huwyler den neuen Lehrplan. Primarlehrerin Marion
Heidelberger findet ihn dagegen sehr gelungen. Ein Streitgespräch.
Lehrplan 21: Kompliziert und überladen oder nötig und sinnvoll? Limmattaler Zeitung, 18.2. von Heinz Zürcher
Frau Heidelberger, wieso braucht es überhaupt einen
neuen Lehrplan?
Marion Heidelberger: Es
hat sich viel geändert in den letzten Jahrzehnten. Es macht Sinn, regelmässig
den Lehrplan auszumisten und den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen.
Zudem hat die Stimmbevölkerung vor zwölf Jahren mit 86 Prozent einer
Harmonisierung zugestimmt, diese beinhaltet auch einen gemeinsamen Lehrplan für
alle 21 Deutschschweizer Kantone.
Harry Huwyler: Ein
Marschhalt ist sicher richtig. In vielen Bereichen findet aber gar keine
Harmonisierung statt, zum Beispiel bei den Fremdsprachen. In einigen Kantonen
beginnen die Schülerinnen und Schüler mit Französisch, in anderen mit Englisch.
Auch bei der Anzahl der Lektionen gibt es Unterschiede. Ich finde das
katastrophal.
Heidelberger: Auch ich
bin enttäuscht, dass die Lektionentafeln nicht besser angeglichen wurden. Aber
mit dem Gesamtpaket bin ich sehr zufrieden.
Huwyler: Man hat
übers Ziel hinaus geschossen. So viele waren beteiligt, und jeder, ob
Zeichnungsdidaktiker oder sonst wer, wollte sich einbringen. Entstanden ist ein
Dokument mit tausenden Kompetenzen. Ein Papier, das niemand lesen wird.
Es waren aber auch Lehrer beteiligt.
Huwyler: Ja, aber
viel zu wenige. Und die durften nichts sagen. Es wurde ein riesiges Geheimnis
um diesen Lehrplan gemacht. Erst als der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband
aus der Arbeitsgruppe ausstieg, hat man reagiert. Wenn nun Bildungsdirektorin
Silvia Steiner sagt, alle Lehrerverbände stünden hinter dem Lehrplan, dann
stimmt das einfach nicht.
Heidelberger: Im ganzen
Erarbeitungsprozess waren immer Lehrpersonen einbezogen. Der Forderung, er sei
zu umfangreich, wurde ebenfalls Rechnung getragen und er wurde massiv
entschlackt. Englisch wurde von der 2. in die 3. Klasse verschoben und dafür
Deutsch mit einer zusätzlichen Lektion gestärkt. Das ist ein altes Postulat der
Lehrerschaft.
Huwyler: Er ist
immer noch überladen – und nicht verständlich. Da steht etwa: «Die Schülerinnen
und Schüler können in kooperativen Situationen einzelne vorher besprochene
Punkte in ihren Texten mithilfe von Kriterien am Computer oder auf Papier
überarbeiten». Diesen Satz versteht man nach dreimal Lesen noch nicht.
Heidelberger: Natürlich
ist das komplex. Aber für Fachpersonen wie wir gut zu verstehen. Es liegt nun
auch an den Schulleitungen, ihre Lehrpersonen mit dem neuen Instrument vertraut
zu machen und in die schulinterne Weiterbildung einzubauen.
Wird sich denn die Volksschule mit dem neuen
Lehrplan so sehr verändern?
Huwyler: Wir stehen
vor einem Paradigmenwechsel. Früher wurden die Lehrpersonen von den Lehrmitteln
geleitet. Im letzten Lehrplan waren die Jahresziele massgebend. Im neuen redet
man von Kompetenzen und selbstgesteuertem Lernen. Nun heisst es, dass Kinder vor
allem dann lernen, wenn sie sich alles selbst beibringen. Das ist natürlich
falsch, denn Kinder benötigen Lehrpersonen, die ihnen Wissen vermitteln.
Heidelberger: Das stimmt
so nicht. Die Methodenvielfalt ist immer noch gegeben. Und das Erlangen von
Kompetenzen bedeutet nichts anderes, als Wissen auch anwenden zu können. Das
ist nicht neu.
Eine oft diskutierte Neuerung ist das Fach Medien
und IT.
Huwyler: Vor der
Digitalisierung kann man sich natürlich nicht verschliessen. Das Problem sind
die Ressourcen. Was will ich mit drei Compüterlis pro Zimmer? Und Platz für ein
Computerzimmer haben wir nicht. Das ist nicht finanzierbar. Mir kommt es vor
wie beim Thema Integration in der Schule, wo man denkt, ein paar Stündchen
integrative Förderung würden ausreichen.
Heidelberger: Integration,
Heterogenität in den Klassen: Natürlich ist das schwierig und läuft nicht alles
ideal. Aber das hat nichts mit dem Lehrplan zu tun. Der muss nun einfach als
Sündenbock hinhalten. Geben wir ihm doch eine Chance und machen dann den
Feinschliff.
Huwyler: Du weisst
genau, dass das später niemanden mehr interessiert. Es gibt so viele
Baustellen: Es fehlen Lehrmittel – oder Ausbildungsplätze für das Fach Medien
und IT. Der Kanton ist offenbar nicht fähig, zu zählen, wie viele 5. Klassen er
hat.
Heidelberger: Das
Problem mit den Ressourcen haben wir immer. Wir kämpfen ja jeden Tag für mehr.
Huwyler: Ungelöst
ist auch die Beurteilung. Darüber hat man sich schlicht keine Gedanken gemacht.
Etwas derart Zentrales. Die Kompetenzen müssen ja überprüft werden. Ich
befürchte ernsthaft, dass es eine wilde Testerei gibt, mit viel mehr Prüfungen
und noch mehr Hektik.
Heidelberger: Es stimmt,
die Beurteilung hat man bewusst zur Seite gelassen. Eine neue Beurteilung hätte
grosse Mehrkosten nach sich gezogen, das wollte man nicht. Das ist nebst den
Lehrmitteln mein zweiter grosser Kritikpunkt am neuen Lehrplan.
Heisst das, der Leistungsdruck für die Kinder wird
weiter steigen?
Heidelberger: Nein,
daran wird sich nichts ändern...
Huwyler: ...doch.
In der Sek ist die Stundenzahl so hoch, dass die Jugendlichen zusammen mit den
Hausaufgaben auf mehr Stunden kommen als ihre arbeitenden Eltern. Das kann es
ja nicht sein.
Heidelberger: Im Kanton
Zürich war die Lektionenbelastung schon immer hoch, insbesondere auf der
Sekundarstufe I. Der Leistungsdruck ist für alle gestiegen, analog zur
Privatwirtschaft.
Huwyler: Gerade
deshalb ist es doch wichtig, auf die Kinder einzugehen. Aber was macht man: Man
kürzt die Halbklassen und erhöht bei den Erstklässlern die Stundenzahl. Und für
Mathe gibt es eigentlich ein gutes neues Lehrmittel, der Anteil fürs Üben
steigt. Aber man bringt den Stoff gar nicht rein, weil der Lehrplan so
aufgeblasen ist. Da kommen die Lehrpersonen einfach an den Anschlag und die
Kinder machen irgendwann nicht mehr mit.
Heidelberger: Natürlich
ist es schade, dass es weniger Halbklassen gibt. Und ich bedaure auch sehr,
dass man die Handarbeit abbaut. Aber man musste ja Platz schaffen für das Fach
Medien und IT. Wo einsparen? Die Sportstunden sind in der Bundesverfassung
geregelt. Deutsch und Mathe sind unantastbar, ebenso die Fremdsprachen.
Bei diesen wichtigen Veränderungen: Müsste da nicht
das Volk das letzte Wort zum Lehrplan haben?
Heidelberger: Das Volk
bestimmt ja schon mit. Die neun Bildungsräte, die für die kantonale Umsetzung
zuständig sind, sind vom Kantonsrat, also von den gewählten Volksvertretern,
ernannt worden.
Huwyler: Dagegen
ist ja nichts einzuwenden. Aber was spricht denn dagegen, das Volk über das
Gesamtpaket abstimmen zu lassen. Wieso spricht man dem Volk bei einer solch
wichtigen Entscheidung diese Kompetenz ab?
Heidelberger: Dabei
besteht die Gefahr, dass von einzelnen Interessengruppen ein Aspekt
herausgepickt wird und letztlich alles von diesem kleinen Teil abhängt. Wie in
Basel, wo nur noch über die Sexualpädagogik diskutiert wurde. Der Lehrplan ist
ein komplexes Werk. Es muss stimmig und vernetzt sein und mit der
Lektionentafel übereinstimmen. Der Lehrplan ist über viele Jahre in einem
politischen Konsens entstanden. Er hat es verdient, dass man ihm jetzt mal das
Vertrauen schenkt.
Zu den Personen
Harry
Huwyler
Harry Huwyler (60) ist Schulleiter im Primarschulhaus Allenmoos in
Zürich. Er unterrichtete von 1984 bis 2010 als Primarschullehrer und ist seit
2000 Vorstandsmitglied der Zürcher Kantonalen Mittelstufe. Seit 2010 ist er
deren Präsident. Harry Huwyler ist Vater von drei erwachsenen Söhnen und wohnt
in Watt.
Marion
Heidelberger
Marion Heidelberger (50) unterrichtet seit 1989 als Primarlehrerin. Seit
27 Jahren ist sie im Vorstand der Unterstufenkonferenz im Kanton Zürich. Seit
elf Jahren ist sie Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbandes Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz, seit sieben Jahren als deren Vizepräsidentin. Marion
Heidelberger ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen und wohnt in Bachenbülach.
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