Methoden
wie «Lesen durch Schreiben» und «Schreiben nach Gehör» schadeten vor allem
leistungsschwächeren Schülern, kritisiert der deutsche Pädagoge Jürgen Oelkers.
Fisch mit V, Weltwoche, 25.1. von
Philipp Gut
Herr
Oelkers, was ist denn falsch daran, wenn Erstklässler einfach mal
drauflosschreiben dürfen, ohne gleich mit einer Rotstiftorgie rechnen zu
müssen?
Am Drauflosschreiben
ist nichts Falsches, das tun die Kinder auch schon vor der Schule. Entscheidend
ist, wann und wie es korrigiert wird. Die Methode von Jürgen Reichen geht davon
aus, dass sich die Korrekturen mit der Zeit von selber einstellen, aber dem ist
nicht so. Wenn die Schüler ein falsches Schriftbild verinnerlicht haben,
glauben sie zum Beispiel, dass Fisch mit V geschrieben wird. Wenn es keinen
Rückhalt von den Eltern gibt – bei Migrantenkindern und solchen, die keine
grosse Nähe zur Bildung haben –, sind die Folgen dieser Methode besonders
verheerend. Denken Sie an die heterogenen Schulklassen.
Hat sich
das Schadenspotenzial dieser Lernmethode durch die Zuwanderung noch
vergrössert?
Bei
«Lesen durch Schreiben» sehen die Kinder ein Bild, zum Beispiel eine Ameise –
und ein türkisches Kind schreibt dann halt das gehörte türkische Wort dafür
auf. Deutsche Rechtschreibung lernt es so nicht.
Wie
verbreitet sind diese umstrittenen Methoden in der Schweiz?
Die
puristische Version von Jürgen Reichen wurde vor dreissig Jahren in der Schweiz
eingeführt und hat sich seither verbreitet. Viele Lehrer verwenden allerdings
gemischte Formen.
Zwei
Bundesländer – Baden-Württemberg und die Freie und Hansestadt Hamburg – haben
«Lesen durch Schreiben» verboten, Nordrhein-Westfalen überlegt sich diesen
Schritt. Ist das nicht eine etwas überrissene Reaktion?
Die
Methode hat grosse Nachteile, wenn sie auf die falsche Zielgruppe trifft. Ich
glaube aber, dass die Lehrer das gemerkt haben und sie nicht mehr in Reinkultur
anwenden.
Wie steht
es mit der Wirksamkeit?
Es gibt
mehr als ein Dutzend unterschiedlicher Studien und eine Metastudie von Reinold
Funke aus Heidelberg, der aber nur die Grundschule untersuchte und nicht die
Langzeitwirkungen. Diesbezüglich kann man sich nur auf die Klagen von
Oberstufenlehrern verlassen, und die sind ziemlich eindeutig. Auch wenn
Lehrmeister und Industrieverbände klagen, dass die Rechtschreibung und die
Korrektheit nachlassen, dann verweist dies auf den Anfangsunterricht.
Wie
konnte eine pädagogische Idee derart Karriere machen, wenn ihr Nutzen doch so
umstritten ist?
Das frage
ich mich auch. Jürgen Reichen hat die Methode in Zürich zusammen mit
Montessori-Lehrern entwickelt. Sie glaubten, dass die möglichst ungestörte
«Aktivierung» der Schüler das Wichtigste ist. Reichen war ein charismatischer
Typ, der das wunderbar verkaufen konnte. Wer mitmachte, fühlte sich auf der
fortschrittlichen Seite. Reichen ging dann nach Hamburg und hat von dort aus
die Republik und die deutschsprachigen Länder beglückt. Ohne jede Kontrolle.
Die erste Studie kam erst Jahrzehnte später.
Können
heutige Schüler wirklich schlechter schreiben als die Generation ihrer Eltern
oder Grosseltern?
Repräsentative
Zahlen wüsste ich nicht, aber die Anzeichen sind deutlich. Ich kam 1953 in die
deutsche Grundschule, und wir konnten am Ende alle praktisch fehlerlos
schreiben. Dies war ein prioritäres Anliegen. Das ist heute nicht mehr der
Fall.
Ohne Üben
geht es nicht?
Das Üben
ist zentral, besonders beim Schreiben. Doch man betont heute das Spasshafte und
reduziert die Übungsanteile – für viele Schüler ist das genau das Falsche. Beim
Sport oder beim Klavierspielen sieht auch jeder sofort ein, dass es ohne Üben
nicht geht.
Wie
wichtig ist das altbewährte Diktat?
Wie viele
Schweizer Primarlehrer noch Diktate machen, weiss ich nicht, aber man hat nicht
ohne Grund jahrzehntelang Diktate geschrieben. Sie waren auch ein bewährtes
Mittel, um zu kontrollieren, was die Schüler können.
Welche
weiteren Faktoren beeinflussen die orthografische Leistung der Schüler?
Es hilft,
wenn sie aus bildungsnahen Schichten kommen, in denen Lesen zum kulturellen
Standard gehört. Ist das nicht der Fall, bleibt nur die Schule. Kommen dann die
falschen Methoden hinzu, bei denen kaum etwas für sie Wichtiges verlangt wird,
leiden die leistungsschwächeren Schüler zusätzlich.
Wie
müsste ein wirksamer und effizienter Rechtschreibunterricht aussehen?
Über
Methoden wird seit der Reformation gestritten. Erfolgreiche Lehrer machen meist
einen Mix. Sie verwenden Fibeln und zum Teil auch Anlauttabellen für bestimmte
Sachen. Entscheidend ist, dass sie den Prozess kontrollieren und den Kindern
verständlich machen, was richtig und was falsch ist. Die Kinder müssen zum
Beispiel verstehen, an welcher Stelle ein Komma kommt und warum.
Die
Methode von Reichen gilt als «offener» Unterricht. Wenn ich Ihnen so zuhöre,
entsteht der Eindruck: «So geht das nicht.»
In der
Forschung ist seit langem klar: Offene Formen sind für bildungsbegüterte Kinder
geeignet, alle anderen kommen mit strukturiertem Unterricht weiter. In der
Rechtschreibung muss man sich früh sicher fühlen, sonst werden die Hürden
unüberwindbar.
Abgesehen
vom Thema Rechtschreibung: Wo sehen Sie das grösste Verbesserungspotenzial im
Schweizer Schulwesen? Was ist erhaltenswert, was sollte anders werden?
Das
Schweizer Schulwesen ist stabil. Die Sekundarschule schafft es, zwei Drittel
der Abgänger in eine Berufslehre zu bringen. Der Lehrplan 21 wird zu bewältigen
sein.
Sie
drücken sich diplomatisch aus.
Steile
Thesen gibt es genug. Es hängt davon ab, wie die Schulen das umsetzen. Die
Lehrer, vor denen ich grossen Respekt habe, sind Utilitaristen. Sie nehmen, was
nützt, und nicht, was irgendwelche Leute sich ausdenken. Mit so grossen
Reformen sollte man höchstens alle zehn, fünfzehn Jahre kommen – und dann die
Schulen in Ruhe arbeiten lassen. Am meisten lernen die Schulen von anderen
Schulen. Reformen von oben haben in der Schweiz nie grosse Chancen. Kluge
Behörden halten sich zurück.
Jürgen
Oelkers war Professor für Allgemeine Pädagogik am Institut für
Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und ist Autor zahlreicher Bücher.
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