27. Januar 2018

Wie kann eine umstrittene Methode Karriere machen?

Methoden wie «Lesen durch Schreiben» und «Schreiben nach Gehör» schadeten vor allem leistungsschwächeren Schülern, kritisiert der deutsche Pädagoge Jürgen Oelkers.
Fisch mit V, Weltwoche, 25.1. von Philipp Gut


Herr Oelkers, was ist denn falsch daran, wenn Erstklässler einfach mal drauflosschreiben dürfen, ohne gleich mit einer Rotstiftorgie rechnen zu müssen?
Am Drauflosschreiben ist nichts Falsches, das tun die Kinder auch schon vor der Schule. Entscheidend ist, wann und wie es korrigiert wird. Die Methode von Jürgen Reichen geht davon aus, dass sich die Korrekturen mit der Zeit von selber einstellen, aber dem ist nicht so. Wenn die Schüler ein falsches Schriftbild verinnerlicht haben, glauben sie zum Beispiel, dass Fisch mit V geschrieben wird. Wenn es keinen Rückhalt von den Eltern gibt – bei Migrantenkindern und solchen, die keine grosse Nähe zur Bildung haben –, sind die Folgen dieser Methode besonders verheerend. Denken Sie an die heterogenen Schulklassen.

Hat sich das Schadenspotenzial dieser Lernmethode durch die Zuwanderung noch vergrössert?
Bei «Lesen durch Schreiben» sehen die Kinder ein Bild, zum Beispiel eine Ameise – und ein türkisches Kind schreibt dann halt das gehörte türkische Wort dafür auf. Deutsche Rechtschreibung lernt es so nicht.

Wie verbreitet sind diese umstrittenen Methoden in der Schweiz?
Die puristische Version von Jürgen Reichen wurde vor dreissig Jahren in der Schweiz eingeführt und hat sich seither verbreitet. Viele Lehrer verwenden allerdings gemischte Formen.

Zwei Bundesländer – Baden-Württemberg und die Freie und Hansestadt Hamburg – haben «Lesen durch Schreiben» verboten, Nordrhein-Westfalen überlegt sich diesen Schritt. Ist das nicht eine etwas überrissene Reaktion?
Die Methode hat grosse Nachteile, wenn sie auf die falsche Zielgruppe trifft. Ich glaube aber, dass die Lehrer das gemerkt haben und sie nicht mehr in Reinkultur anwenden.

Wie steht es mit der Wirksamkeit?
Es gibt mehr als ein Dutzend unterschiedlicher Studien und eine Metastudie von Reinold Funke aus Heidelberg, der aber nur die Grundschule untersuchte und nicht die Langzeitwirkungen. Diesbezüglich kann man sich nur auf die Klagen von Oberstufenlehrern verlassen, und die sind ziemlich eindeutig. Auch wenn Lehrmeister und Industrieverbände klagen, dass die Rechtschreibung und die Korrektheit nachlassen, dann verweist dies auf den Anfangsunterricht.

Wie konnte eine pädagogische Idee derart Karriere machen, wenn ihr Nutzen doch so umstritten ist?
Das frage ich mich auch. Jürgen Reichen hat die Methode in Zürich zusammen mit Montessori-Lehrern entwickelt. Sie glaubten, dass die möglichst ungestörte «Aktivierung» der Schüler das Wichtigste ist. Reichen war ein charismatischer Typ, der das wunderbar verkaufen konnte. Wer mitmachte, fühlte sich auf der fortschrittlichen Seite. Reichen ging dann nach Hamburg und hat von dort aus die Republik und die deutschsprachigen Länder beglückt. Ohne jede Kontrolle. Die erste Studie kam erst Jahrzehnte später.

Können heutige Schüler wirklich schlechter schreiben als die Generation ihrer Eltern oder Grosseltern?
Repräsentative Zahlen wüsste ich nicht, aber die Anzeichen sind deutlich. Ich kam 1953 in die deutsche Grundschule, und wir konnten am Ende alle praktisch fehlerlos schreiben. Dies war ein prioritäres Anliegen. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Ohne Üben geht es nicht?
Das Üben ist zentral, besonders beim Schreiben. Doch man betont heute das Spasshafte und reduziert die Übungsanteile – für viele Schüler ist das genau das Falsche. Beim Sport oder beim Klavierspielen sieht auch jeder sofort ein, dass es ohne Üben nicht geht.

Wie wichtig ist das altbewährte Diktat?
Wie viele Schweizer Primarlehrer noch Diktate machen, weiss ich nicht, aber man hat nicht ohne Grund jahrzehntelang Diktate geschrieben. Sie waren auch ein bewährtes Mittel, um zu kontrollieren, was die Schüler können.

Welche weiteren Faktoren beeinflussen die orthografische Leistung der Schüler?
Es hilft, wenn sie aus bildungsnahen Schichten kommen, in denen Lesen zum kulturellen Standard gehört. Ist das nicht der Fall, bleibt nur die Schule. Kommen dann die falschen Methoden hinzu, bei denen kaum etwas für sie Wichtiges verlangt wird, leiden die leistungsschwächeren Schüler zusätzlich.

Wie müsste ein wirksamer und effizienter Rechtschreibunterricht aussehen?
Über Methoden wird seit der Reformation gestritten. Erfolgreiche Lehrer machen meist einen Mix. Sie verwenden Fibeln und zum Teil auch Anlauttabellen für bestimmte Sachen. Entscheidend ist, dass sie den Prozess kontrollieren und den Kindern verständlich machen, was richtig und was falsch ist. Die Kinder müssen zum Beispiel verstehen, an welcher Stelle ein Komma kommt und warum.

Die Methode von Reichen gilt als «offener» Unterricht. Wenn ich Ihnen so zuhöre, entsteht der Eindruck: «So geht das nicht.»
In der Forschung ist seit langem klar: Offene Formen sind für bildungsbegüterte Kinder geeignet, alle anderen kommen mit strukturiertem Unterricht weiter. In der Rechtschreibung muss man sich früh sicher fühlen, sonst werden die Hürden unüberwindbar.

Abgesehen vom Thema Rechtschreibung: Wo sehen Sie das grösste Verbesserungspotenzial im Schweizer Schulwesen? Was ist erhaltenswert, was sollte anders werden?
Das Schweizer Schulwesen ist stabil. Die Sekundarschule schafft es, zwei Drittel der Abgänger in eine Berufslehre zu bringen. Der Lehrplan 21 wird zu bewältigen sein.

Sie drücken sich diplomatisch aus.
Steile Thesen gibt es genug. Es hängt davon ab, wie die Schulen das umsetzen. Die Lehrer, vor denen ich grossen Respekt habe, sind Utilitaristen. Sie nehmen, was nützt, und nicht, was irgendwelche Leute sich ausdenken. Mit so grossen Reformen sollte man höchstens alle zehn, fünfzehn Jahre kommen – und dann die Schulen in Ruhe arbeiten lassen. Am meisten lernen die Schulen von anderen Schulen. Reformen von oben haben in der Schweiz nie grosse Chancen. Kluge Behörden halten sich zurück.


Jürgen Oelkers war Professor für Allgemeine Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich und ist Autor zahlreicher Bücher. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen