Viele
Schweizer Schüler lernen «nach Gehör» schreiben. Die Lust am kreativen Text
steht dabei im Vordergrund, die Orthografie spielt keine Rolle. Doch jetzt
zeigen neue Studien: Die hochgelobte Methode ist mitverantwortlich für die
Erosion der Rechtschreibfähigkeit.
Alex
presst aufgeregt die Lippen zusammen. Sein Finger fährt der Buchstabentabelle
entlang und hält triumphierend. Da sind ein Affe und eine kleine Ameise
abgebildet, darunter steht ein Buchstabe, den er nun in sein Heft abmalt. Dann
sucht der Siebenjährige das nächste Bildchen und «schreibt» weiter. Alex
besucht seit ein paar Monaten die erste Klasse und lernt lesen und schreiben.
Nach einer Viertelstunde zeigt er der Lehrerin stolz das Ergebnis. «ICh SchBiLE
FUSBAL MiTMEiNeM PAPA.»
Schlechtschreiben ist lernbar, Weltwoche, 25.1. von Philipp Gut und Peter Keller
Alex
alias «ALeKS» beginnt seine ersten Schritte in der Buchstabenwelt mit dem
Lernprogramm «Lesen durch Schreiben». Entwickelt hat die Methode der 2009
verstorbene Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Gearbeitet wird mit einer
Anlauttabelle, und man lässt die Kinder eigenständig und nach eigenem Tempo
vorgehen. Mit dem jeweiligen Anlaut sind Bilder verbunden: mit B eine Banane,
mit Sch eine Schere, mit Z eine Zitrone. Die Schüler wählen mit Hilfe des
Bildes frei einen Buchstaben aus und beginnen nach Gehör zu schreiben, ohne
Rücksicht auf die Orthografie nehmen zu müssen.
Kinder
könnten mit «Lesen durch Schreiben» erstaunlich schnell kleine Geschichten
aufschreiben statt nur einzelne Buchstaben oder einfache Wörter wie bei anderen
Methoden, berichten Lehrer. Sie lernen aus sich heraus, «selbstgesteuert», wie
ein Modewort der Reformpädagogik lautet. Lustvoller Umgang mit Sprache statt
Pauken und Diktate: Jürgen Reichen schien einen pädagogischen Coup gelandet zu
haben. In der Schweiz, aber auch in Deutschland setzte sich sein Lernprogramm
an vielen Schulen durch.
Schweizer
im Hintertreffen
Doch
jetzt zeigen sich Schattenseiten der hochgelobten Methode: «Lesen durch
Schreiben» hat zu einer Erosion der Schreibkompetenz geführt. Schlechtschreibung
ist lernbar. Was bei Klein Alex vielleicht noch herzig war, wird spätestens in
den höheren Schulstufen zu einem ernsthaften Problem. Die mangelhafte
Orthografie lässt sich kaum mehr oder nur sehr mühsam korrigieren. Kinder
prägen sich falsche Schreibweisen ein. «‹Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans
nimmermehr.› In neurobiologischer Hinsicht ist diese Volksweisheit längst
eingeholt und auf vielfache Weise bestätigt», sagt Manfred Spitzer, der wohl
bekannteste deutsche Hirnforscher. Dazu kommt die Verunsicherung, wenn die
Schüler ab der dritten, vierten oder gar erst der fünften Klasse plötzlich
regelgetreu schreiben sollten und erstmals richtige Zeugnisse erhalten. Zu den
profiliertesten Kritikern von «Lesen durch Schreiben» gehört Jürgen Oelkers,
emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich
(siehe Interview Seite 20). Das Konzept basiere «auf einer falschen kognitiven
Grundannahme, die übersieht, welche Bedeutung Üben und Fehlerkorrektur für
richtiges Schreiben haben».
In einer
Metastudie von 2014 analysierte Professor Reinold Funke aus Heidelberg
sechzehn empirische Untersuchungen zum Thema. Ihre Aussagekraft sei «durch
methodologische Beschränkungen begrenzt», gibt Funke zu bedenken. Dennoch: Im
Vergleich mit Klassen, die nach einer klassischen Lesefibel unterrichtet
wurden, seien die Lernergebnisse beim Rechtschreiben auf der Primarstufe
«signifikant schlechter». Besonders für «Schüler mit ungünstigen
Lernvoraussetzungen, möglicherweise auch für zweisprachige Schülerinnen und
Schüler» stelle «Lesen durch Schreiben» keine «optimalen Lernwege» bereit. Mit
anderen Worten: Leidtragende sind ausgerechnet schwächere und fremdsprachige
Schüler, auf welche die Reformpädagogen eigentlich besonders eingehen wollten.
Ein
ähnliches Bild zeichnet das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch
als Zweitsprache an der Universität Köln: «Mittels der Anlauttabelle setzen
sich die Kinder intensiv mit der Laut-Buchstaben-Beziehung auseinander und
fokussieren damit auf den Kern der deutschen Schrift. Diese Strategie reicht
jedoch nicht aus, um zu einem kompetenten Schreiber (und Leser) zu werden.»
Schwächere Schüler scheiterten an diesen Anforderungen, «weil man ihnen keine
Hilfestellung an die Hand gibt, um die Strukturen zu erkennen und zu
verstehen». Zwar führten viele Lehrer ins Feld, dass die Kinder sich bei der
Methode «Lesen durch Schreiben» hochmotiviert fühlten, Texte zu produzieren.
Dies sei «allerdings nicht durch Studien belegt».
In der
Schweiz sorgte vor eineinhalb Jahren eine noch nicht veröffentlichte Studie aus
dem deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg für Schlagzeilen. «Schweizer
Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche und österreichische», titelte
die Aargauer Zeitung. Studienautor Erich Hartmann, Professor an der Universität
Freiburg, erklärt auf Anfrage der Weltwoche, dass die Studie nun in diesem Jahr
publiziert werde. Sie vergleicht die Rechtschreibleistung der Freiburger
Schüler mit jener von gleichaltrigen aus Deutschland («Hamburger Schreib-Probe»)
und kommt zum Schluss, dass die Freiburger Probanden beim lautorientierten
Schreiben «insgesamt besser abschnitten», jedoch «vergleichsweise schwächere
Leistungen in Teilbereichen des orthografischen Schreibens» zeigten, wie
Hartmann ausführt. Dies liege wohl primär am Unterricht und an den Lehrmitteln.
Stünden das lautorientierte und das freie Schreiben im Vordergrund, gehe dies
auf Kosten der Orthografie. Das zielt direkt auf Methoden wie «Lesen durch
Schreiben» und «Schreiben nach Gehör».
Bequem
für die Lehrer
Die Frage
stellt sich, warum diese umstrittenen Methoden trotzdem so verbreitet bleiben.
Die grosse Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen arbeite zumindest teilweise
nach den Ideen von Jürgen Reichen, sagt eine Primarlehrerin aus dem Kanton
Graubünden. An den pädagogischen Hochschulen würden diese immer noch gelehrt.
Der Kanton Zürich empfiehlt die Software «Erstes Verschriften», «das
Originalcomputerprogramm von Dr. Jürgen Reichen». In der Anleitung
heisst es: «Durch Wahl des Programmstarts entscheidet das Kind selbst, welchen
Anforderungen es sich stellen will: Rechtschreibung amtlich korrekt oder
lautgetreu.» Nicht im Beipackzettel steht, dass der Entscheid gegen die
korrekte Rechtschreibung fatale Nebenwirkungen haben kann – mit orthografischen
Langzeitschäden.
Ein
anderes verbreitetes Lehrmittel aus demselben Verlag (Scola, gehört heute zu
Orell Füssli) heisst schlicht «Lesen durch Schreiben» und preist sich als
«ideales Arbeitsmittel für den offenen Unterricht». Reihentitel: «Little
Genius», kleines Genie. Der schulische Alltag sieht allerdings anders aus,
viele der «kleinen Genies» bleiben ohne genaue Instruktion und Kontrolle
heillos überfordert.
Der
Sekundarlehrer Urs Kalberer, der den vielbeachteten Bildungsblog «Schule Schweiz»
betreibt, sieht einen Grund für die anhaltende Beliebtheit der
reformpädagogischen Schreibkonzepte in der grossen Heterogenität der Klassen.
«Lesen durch Schreiben» sei für die Lehrer eine bequeme Methode, weil sie auf
einfache Weise das Individualisieren zulasse. Weniger gut sieht laut Kalberer
die Bilanz für die Schüler aus: Die schlechteren von ihnen würden so schon zu
Beginn der Alphabetisierung abgehängt.
Auf der
Oberstufe lasse nicht nur die Rechtschreibfähigkeit nach, sondern auch das
Schriftbild, stellt Kalberer fest. Manche Texte könne er fast nicht mehr
entziffern. Möglicherweise bestehe hier ein Zusammenhang: Der «Niedergang der
sauberen Schrift» habe vielleicht auch Auswirkungen auf die Qualität. Das
Abendland gehe deshalb aber nicht unter. Aus der Distanz betrachtet, verlaufe
in der Bildungspolitik vieles in Wellen. Kalberer beobachtet eine
«Gegenbewegung», die wieder mehr Wert auf «formale Korrektheit» legt.
Tatsächlich machen einzelne Lehrervertreter ihrem Unmut mit deutlichen Worten Luft.
«Kein Mensch käme auf die Idee, dass es ein Kind [. . .] beim
Trompetenspiel oder Kunstturnen ohne subtile, zielgerichtete Führung,
Anweisung, Wiederholung, Steuerung und Fehlerkorrektur auf ein beachtliches
Niveau bringen würde», sagt Roger von Wartburg, Präsident des Lehrerverbandes
Baselland. Aber ausgerechnet beim Erlernen des Schreibens, einer höchst
anspruchsvollen Tätigkeit, sollten diese grundsätzlichen Regeln ausser Kraft
gesetzt sein, wundert er sich.
Nicht nur
Lehrmeister beklagen die Schreibschwächen von Schulabgängern, selbst an
Hochschulen registrieren die Dozenten mit einer Mischung aus Ärger und
Amüsement die mangelhafte Orthografie ihrer Studenten. Carl Bossard, ehemaliger
Rektor der Pädagogischen Hochschule Zug, wartet mit Beispielen auf, die leider
keine Einzelfälle seien: «Noch eine verspätete schriftliche Entschuldigung für
das ich am Mittwoch 31.10. Krank wahr.» Ein anderer Student habe sich
abgemeldet mit den Worten: «Ich hoffe auf Ihr Verständtniss und möchte mich
viel mals entschuldigen.»
Wie
sollen angehende Lehrer dereinst ihren Schützlingen den korrekten
Sprachgebrauch beibringen, wenn sie selber grundlegende Rechtschreibregeln
nicht beherrschen? Bossard sieht in dieser Entwicklung auch eine Folge falscher
Prioritätensetzung. Die kantonalen Bildungsdirektoren schienen sich fast nur
noch für frühe Fremdsprachen zu interessieren. «Aber wie steht es um das
korrekte Frühdeutsch?», fragt er.
Erstaunliche
Karriere
Der
Erfinder von «Lesen durch Schreiben» legte eine erstaunliche Karriere hin und
gehört neben Heinrich Pestalozzi wohl zu den einflussreichsten Schweizer
Pädagogen überhaupt. Jürgen Reichen, geboren 1939, machte in Baselland die
Ausbildung zum Primarlehrer, studierte Psychologie, schrieb eine Dissertation,
unterrichtete dann mehrere Jahre auf der Unterstufe, ehe er in Hamburg zum
Dozenten und Autor von Lehrmitteln wurde, die bis heute an vielen Schulen in
Gebrauch sind. Ein einträgliches Geschäft.
Reichen
plädiert für einen Unterricht, der sich auf die Kinder ausrichtet. Diese seien
von Natur aus neugierig, sie wollten lernen, man müsse ihnen nur die
entsprechenden Gelegenheiten bieten. Der Lehrer wird so zum «Coach», der
Unterricht werde «individualisiert». Das klingt alles wunderbar und
einleuchtend, hat aber, wie die Erfahrungen zeigen, einen entscheidenden Haken:
Der Idealfall entspricht nicht der Wirklichkeit, die Folgen sind
besorgniserregend.
Hier
setzt auch die Fundamentalkritik des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers
an: Man baue auf Methoden, die nicht auf ihre Wirksamkeit getestet würden.
Widerrede sei unerwünscht: «Wer dagegen protestiert, hat die Schulen und die
geballte Grundschulpädagogik gegen sich», die auf altersdurchmischtes Lernen
schwöre, bei der Inklusion – also der Integration von schwierigen und
lernschwachen Schülern in die Regelklassen – keinerlei Nachteile sehe und einen
möglichst notenfreien Unterricht wünsche.
Verbote
in Deutschland
Doch der
politische und mediale Druck wächst, vorab in Deutschland. Der Spiegel widmete
dem Thema («Das grosse Schulversagen») eine Titelgeschichte: Nur jeder fünfte
Absolvent der obligatorischen Schule könne einigermassen fehlerfreie Texte
verfassen. Schuld sei vor allem «eine Lehrmethode, die Grundschülern
freistellt, wie sie schreiben». «Zweifelhafte Reformen vergrössern die
Kulturwüste», mahnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Immer mehr Bundesländer
rückten davon ab, dass die Texte von den Kindern erst einmal nach Gehör
verfasst werden, denn die Ergebnisse seien «schauerlich». Ausgerechnet in
Hamburg, von wo aus die Methode von Reichen ihren Siegeszug durch die
deutschsprachigen Länder angetreten hat, haben die Behörden den Schulen als
Erste untersagt, entsprechende Lehrmittel zu verwenden. Ein Verbot gibt es auch
in Baden-Württemberg.
In der
Schweiz läuft die Debatte etwas weniger konfrontativ ab, was wohl auch mit dem
föderalistischen Aufbau der Bildungspolitik zu tun hat: Grundsätzlich sind
gemäss Verfassung die Kantone zuständig für die Schulen und damit auch für die
Auswahl der Lehrmittel. Allerdings wurde gerade mit dem Lehrplan 21 ein
Rahmengerüst geschaffen, das die kantonale Bildungshoheit empfindlich
einschränkt. Die Weltwoche hat bei der Deutschschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz (D-EDK) nachgefragt, inwiefern Lernmethoden wie
«Lesen durch Schreiben», «Lautgetreues Schreiben» und «Schreiben nach Gehör»
Gegenstand des Lehrplans 21 seien. Benedict Zemp, wissenschaftlicher
Mitarbeiter der D-EDK, hält fest, dass die Methodenfreiheit der Lehrpersonen
nicht eingeschränkt werde. Im Lehrplan seien einzig die Kompetenzen definiert,
die je nach Schulstufe zu erreichen seien: «Rechtschreibung und Grammatik haben
dabei einen grossen Stellenwert.» Auf die Frage, wie die
Erziehungsdirektorenkonferenz zum umstrittenen Reichen-Ansatz stehe, weicht
Zemp aus; er könne die verschiedenen Methoden nicht gegeneinander abwägen, da
es nicht Aufgabe des Lehrplans 21 sei, hier Vorgaben zu machen.
Klarer
Bezug zur Reichen-Methode
Ein Blick
in den Lehrplan zeigt allerdings, dass der Rechtschreibung keineswegs ein so
grosser Stellenwert zukommt, wie die Erziehungsdirektoren behaupten. Auch sind
die Kompetenzvorgaben durchaus methodenbezogen definiert. So ist im Kapitel
«Schreiben, Grundfertigkeiten» für die Unterstufe ein klarer Bezug zur
Reichen-Methode auszumachen: «Die Schülerinnen und Schüler [. .
.] können einzelne Laute heraushören, diese den passenden Buchstaben zuordnen
und einzelne Wörter lautgetreu verschriften.» Nichts anderes will die Methode
«Schreiben nach Gehör». Weiter heisst es, die Kinder müssten alle Laute und
Lautverbindungen heraushören «und in lautgetreuer (nicht unbedingt
orthografisch korrekter) Schreibung entsprechenden Buchstaben zuordnen können»
(Seite 17). Ähnlich klingt es im Kapitel «Schreiben» (Seite 22), da ist von
«lautgetreuer Schreibweise» die Rede. Selbst in den höheren Klassen sprechen
die Lehrplan-21-Autoren kuschelschwammig von «Fehlersensibilität entwickeln».
Reichen
lebt. Auch in den Listen der obligatorischen Lehrmittel fast aller Kantone. Sie
heissen wie das Original «Lesen durch Schreiben» oder sind inspiriert davon wie
«Lara», «Anton und Zora» oder die weitverbreitete «Buchstabenreise» (vormals
«Buchstabenschloss»). Beispiele davon finden sich auf den Lehrmittellisten der
Kantone Bern, Basel-Stadt und Baselland, Aargau, Thurgau, Luzern, Zug, Schwyz,
Ob- und Nidwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Solothurn, Appenzell und
Zürich. Alle diese Lehrmittel sollten den Kindern lustvoll und mühelos Lesen
und Schreiben beibringen. Schön wär’s. Die Reichen-Methode hat mit ihrem
gefährlichen Laisser-faire die gegenwärtige Rechtschreibkrise wesentlich
mitzuverantworten.
Korrigieren
am Küchentisch
Professor
Oelkers erkennt ein strukturelles Problem als Grund, warum die «falsche
Methode» bis heute an Primarschulen unterrichtet werde: Die Aufsicht greife
wegen der Schulautonomie nicht ein, und auch die Eltern seien machtlos, hätten
aber letztlich dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder schriftlich korrekt
ausdrücken können. Anders gesagt: Am Küchentisch muss korrigiert werden, was im
Schulzimmer vernachlässigt wurde.
Dass einiges im Argen liegt beim
Schreibunterricht, haben inzwischen sogar die Schüler gemerkt. Die träfste
Kritik an «Lesen durch Schreiben» formulierte der Sprecher eines Münchner
Schülerrats: Schreiben nach Gehör, meinte er, sei wie operieren nach Gefühl.
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