4. Januar 2018

Vor 50 Jahren war 1968

Ulla Mank-Müller hat ihre Ordner und Bücher noch nicht aus ihrer vollgestopften Arbeitsecke im Schlafzimmer weggeräumt. Sie ist eine der 68er-Lehrerinnen, die inzwischen pensioniert sind. Eine kleine, schlanke Frau mit weitem Hemd und knallrot gefärbten, kurzen Haaren. Seit 30 Jahren lebt die heute 67-Jährige mit ihrem Mann in einer großen Berliner Altbauwohnung.
Bloss nicht autoritär sein, Zeit, 5.7.2017, von Parvin Sadigh


Sie zieht ein paar Heftchen aus dem Regal: Die Bottroper Protokolle, Angestellte erzählen, wie sie an ihrem Arbeitsplatz ausgebeutet werden. Im Deutschunterricht wollte sie die behandeln. Ein anderes Thema lautete: "Literatur als Spiegel bürgerlicher Emanzipation". So hatte sie sich das im Studium gedacht. Heute findet sie das selbst lustig: "Statt den Schülern Jugendbücher anzubieten, mit Themen, die sie persönlich bewegen, haben wir sie schrecklich gelangweilt."

Die 68er wollten die Gesellschaft verändern und wo war ein besserer Ort dafür als in der Schule? Mit dem Kapital von Marx, mit Summerhill School von A. S. Neill oder Materialien wie den Bottroper Protokollen hatten sie sich präpariert. Hart prallten ihre Ideen auf die Realität der Kinder und Jugendlichen. Doch Ideologie allein motivierte sie nicht. Die Generation von Mank-Müller hatte selbst oft zwanghafte, autoritäre Eltern und Lehrer erlebt. Sie wollten diese Welt hinter sich lassen. Mit diesem persönlichen Impuls haben die 68er die Schule wirklich zu einem besseren Ort gemacht. Lehrer, die ihre Macht mit Drohungen, Demütigungen und Spott ausüben, gibt es zwar noch heute, aber die Mehrheit der Eltern und Kollegen lehnen diese Methoden ab.

Wenn Mank-Müller Bilder aus dem Familienalbum zeigt, sieht man, wie rasant sich das Mädchen Ursula Mank in der Zeit um 1968 veränderte. 1966, mit 16, trug sie einen Betty-Barclay-Mantel und Pumps. Sie ging in die Kirche und war eine fleißige Schülerin. 1967, mit 17, kam sie vom Sprachkurs aus Swinging London im Minirock und mit offen fliegendem Haar wieder. Wie The Shrimp, das britische Model Jean Shrimpton, wollte sie aussehen. Aber nicht nur die damenhaften Kleider, Frisuren und Schuhe sollten verschwinden.
Im selben Jahr hatte sie ein Schlüsselerlebnis in einem christlichen Sommerlager. Ein Religionsphilosoph diskutierte mit den Jugendlichen über den Glauben. Und ließ sie wissen: Zweifel an Gott sind erlaubt. "Ich habe geweint vor Glück", erinnert sich Mank-Müller. Sie hatte bisher nicht erlebt, dass Erwachsene ihre Ideen und Gefühle ernst nahmen. Und sagt: "Mein Vater hätte mich für den Beelzebub persönlich gehalten, wenn ich ihm anvertraut hätte, dass ich nicht mehr an Gott glaube."

Im Republikanischen Club in ihrem Heimatort Herne diskutierten die Schüler über Konsumterror und die verkrustete, spießige Gesellschaft. Mank-Müller sah Rudi Dutschke im Fernsehen und war hingerissen von seinen Reden. Vieles von dem, was er sagte, blieb abstrakt. "Aber seine Augen blitzten", sagt sie "und wir verstanden, dass es darum ging, Autoritäten an den Universitäten zu entmachten." Ihre Noten in der Schule wurden schlechter. Sie schlich sich aus dem Haus, um Jungs zu treffen und tanzen zu gehen. Sie las Sartres Das Spiel ist aus und sah im Kino Easy Rider und Blow Up.

West-Berlin war ganz weit weg
Im Oktober 1968 zog sie nach West-Berlin. Es lagen nicht nur viele Kilometer zwischen Berlin und Herne. Die Stadt war auch deshalb so schön weit weg, weil ihre Eltern sich nicht trauten, die Transitstrecke durch die DDR zu fahren. Sie schrieb sich in Politikwissenschaften am linken Otto-Suhr-Institut der FU Berlin ein, wohnte, kochte und feierte im Studentenheim mit Iranern und Palästinensern. "Internationale Solidarität und Multikulti war für uns nicht abstrakt", sagt sie, "wir haben das gelebt."

Bald entschied sie, Lehrerin zu werden. "Ich wollte gesellschaftlich wirken", sagt sie. Und sie wollte an ihre späteren Schüler weitergeben, was sie selbst gerade erlebte: frei sein. Selbst entscheiden, was man lernen will. Festgefahrene Strukturen hinterfragen. Sie wählte Germanistik dazu, später Psychologie und Pädagogik.

Auch ihr politisches Engagement war geprägt von der Sehnsucht nach individueller Freiheit. "Ich wollte den Sozialismus, aber keine bessere DDR", sagt sie. Die sei ihr zu zwanghaft gewesen. Sie traf sich mit anderen Studenten zu den sogenannten Kapitalkreisen. Alle drei Bände des Kapitals von Karl Marx habe sie durchgelesen, sagt sie. "Diese Kreise haben eine große Rolle dabei gespielt, wie ich mir das Lernen vorgestellt habe. Jedes Mal haben wir gemeinsam entschieden, was wir lesen und welchen Aspekt wir diskutieren." So einen Unterricht wollte sie machen. Auch an der Uni lautete die neue Maxime: Lehrer sollten aktivieren, aber möglichst nicht disziplinieren. "Intrinsisch motiviert" sollten die Schüler lernen. Das passte zu ihrer Abneigung gegen alles Autoritäre. Sie sagt: "Ich wollte auf keinen Fall werden wie mein Vater, also autoritär."

Der, von Beruf Zugschaffner, hatte mal gesagt, Hitler habe nur drei Fehler gemacht: die Juden vergasen, mit Russland Krieg führen und die Kirche angreifen. Besonders Letzteres fand er als gläubiger Christ empörend. Die Prügelstrafe hingegen fand er normal. Dass es auch eine andere, professionelle Autorität geben könnte im Gegensatz zur demütigenden oder gar latent faschistischen, hat Mank-Müller erst viel später gelernt, als sie vor Schülern stand, die ganz und gar nicht intrinsisch motiviert waren.

Was wollen wir lernen? Nichts!
Nach dem Referendariat nahm sie 1976 ihre erste Stelle an der neu gegründeten Bettina-von-Arnim-Gesamtschule im Märkischen Viertel in Berlin an. Eine Trabantenstadt im Nordwesten. "Da wollte ich hin, das fand ich gut." Die Lehrer arbeiteten in Jahrgangs- und Fachteams. Sie tauschten Materialien aus und besprachen ihre Methoden. Der Plan: Schichtübergreifend lernen alle Kinder gemeinsam. Projektarbeit war fest verankert im Stundenplan: Hier sollten die Schüler Ideen und Pläne für ein eigenes Projekt entwickeln, selbstständig und im Team arbeiten und am Ende ein fertiges Produkt vorweisen können.
Mank-Müller erzählt, zu ihren Literaturprojekten sei kaum einer gekommen, sogar Theaterspielen war den Schülern schon zu verkopft. Stattdessen waren die Spaßprojekte voll: Kristalle züchten, Sport, Schmuck basteln etc. "Irgendwann habe ich meinen Frieden mit Kochen gemacht", sagt sie. 16 Schüler bereiten ein viergängiges Menü vor. Zumindest auf der sozialen Ebene haben sie dabei viel gelernt. Schließlich mussten sie sich miteinander abstimmen und am Ende sollte es allen schmecken.

Heute sagt Mank-Müller, dass es eine große Illusion war zu glauben, man könnte alle Kinder eben mal anspruchsvolle Themen selbst finden und erarbeiten lassen. Ihre Schüler im Märkischen Viertel lebten im sozialen Wohnungsbau. Die Eltern waren eher ungebildet und erzogen ihre Kinder entweder autoritär oder gar nicht. Die Schichten mischten sich auch dort nicht, im Gegenteil, die soziale Unterschicht blieb ganz unter sich. Wenn sie in den Unterricht kam und fragte: "Was wollen wir lernen?", antworteten die Jugendlichen: "Nichts." Sie testeten erst mal aus, wie weit sie gehen konnten und ob sich die Lehrerin wohl durchsetzen konnte. "Da spuckte einer auf den Boden – aber ich wollte ja nicht disziplinieren. Außerdem fand ich meinen Stoff viel interessanter." Sie hat sich in unendliche Diskussionen verwickeln lassen und kam nicht zum Unterrichten.

Später habe sie dann klare Grenzen gesetzt. Spucken verboten. "Mir ist klar geworden, dass ich mehr Sozialarbeiter sein musste als Lehrer, Erziehen vor dem Lernen kommen musste." Sie habe dabei gelernt, dass es eine professionelle Autorität gibt, die mit der ihres Vaters nichts zu tun hatte. "Lehrer müssen ihre Rolle klar ausfüllen, um Orientierung geben zu können. Ich habe meine Entscheidungen immer begründet – aber nicht mehr geglaubt, die Schüler könnten alles allein entscheiden."

Am Gespräch dranbleiben, selbstständig arbeiten, aufeinander Rücksicht nehmen – all das musste an der Gesamtschule erst einmal eingeübt werden: Sie teilte den Stoff in kleine Häppchen. In diesem engen Rahmen klappte es dann auch mit der intrinsischen Motivation.

Lehrer müssen eine Beziehung zu den Schülern haben
Manchmal war der Frust groß. Einmal, auf einer Klassenfahrt, hatte sie einen Musikabend geplant. Die Schüler rannten rein und raus, keiner nahm sich die Zeit, hinzuhören. Sie lief weinend in ihr Zimmer, der Boykott fühlte sich wie eine persönliche Niederlage an. Was er dann aber doch nicht war. Dietmar, der Rädelsführer unter den Jungen, klopfte an ihre Tür und sagte: "Sie können jetzt wieder runterkommen, wir sind alle da." Mank-Müller kommen wieder die Tränen, wenn sie daran zurückdenkt. Sie hat sich verändert, dazugelernt, ein paar ideologische Konstrukte der Realität angepasst, aber ihre Ideale nie wirklich aufgeben müssen.

Das Wichtigste, was sie in Situationen wie dieser gelernt hat, sagt sie heute, war, dass Lehrer eine Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen müssen. Wenn die Schüler gemerkt haben, dass sie ihr wichtig waren, konnten Wunder geschehen. Sie erinnert sich etwa an Ralf, einen coolen Quatschmacher, der die ganze Klasse am konzentrierten Arbeiten hinderte. Der sich aber plötzlich am Unterricht beteiligte und damit sogar seine Clique ansteckte. Mank-Müller hatte ihm gesagt, dass es ein Jammer sei, wie er seine Begabung verspielte und damit seinen Realschulabschluss. Er erwiderte: "Kann Ihnen doch egal sein, ob ich Haupt oder Real mache." Aber sie versicherte ihm: "Du bist mir nicht egal." Am Ende des Schuljahrs hatte er den Realschulabschluss geschafft und bedankte sich bei ihr. Ein kleiner Satz kann einen großen Anstoß geben.

Wechsel ans Sanatorium, das Gymnasium
16 Jahre blieb sie im Märkischen Viertel. Dann wechselte sie ans "Sanatorium", wie ihre ehemaligen Kollegen witzelten. An ein Gymnasium in Steglitz mit altsprachlichem Schwerpunkt. Anonyme Flure, Lehrer als Einzelkämpfer und Schüler fast ausschließlich aus bürgerlich-konservativen Familien, die gute Noten verlangten – all das, was sie nie wollte. "Aber es war eine tolle Erfahrung", erinnert sich Mank-Müller. Sie konnte endlich mit Schülern arbeiten, die von sich aus lernen wollten. Zunächst einmal, weil ihnen gute Noten wichtig waren, aber auch, weil sie Spaß hatten, wenn man ihnen etwas zutraute und sie loslaufen ließ.

Ein paar Jahre später fand sie einen schönen Kompromiss an einem Wilmersdorfer Gymnasium, an dem sich die Schichten besser mischten, bildete danach Referendare aus und landete nach der Wende an einer Schule am Prenzlauer Berg als Fachbereichsleiterin für Deutsch: eine Wessi-Lehrerin, die den Ossi-Lehrern vorgesetzt wurde. Wieder eine neue Herausforderung. Aber mit ihrer Rolle als Autoritätsperson haderte sie da längst nicht mehr.
Wie hat sie die junge Generation Lehrer erlebt, die inzwischen übernommen hat? Sehr ehrgeizig, sagt sie und theoretisch viel besser vorbereitet. Aber auch viel pragmatischer: "Diesen gesellschaftsverändernden Anspruch haben die zwar nicht mehr. Der Praxisschock trifft sie trotzdem immer noch genauso hart wie uns." Es sollte viel mehr Zeit zum Austausch und zur Kooperation geben, findet Mank-Müller. Die Alten könnten den harten Einstieg mildern, die Jungen den Alten digitale Medien nahebringen. So nebenbei funktioniert das nicht. Aber über die pädagogischen und didaktischen Ideale gibt es kaum noch Differenzen.


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