Ulla
Mank-Müller hat ihre Ordner und Bücher noch nicht aus ihrer vollgestopften
Arbeitsecke im Schlafzimmer weggeräumt. Sie ist eine der 68er-Lehrerinnen, die
inzwischen pensioniert sind. Eine kleine, schlanke Frau mit weitem Hemd und
knallrot gefärbten, kurzen Haaren. Seit 30 Jahren lebt die heute 67-Jährige mit
ihrem Mann in einer großen Berliner Altbauwohnung.
Bloss nicht autoritär sein, Zeit, 5.7.2017, von Parvin Sadigh
Sie zieht
ein paar Heftchen aus dem Regal: Die Bottroper Protokolle, Angestellte
erzählen, wie sie an ihrem Arbeitsplatz ausgebeutet werden. Im
Deutschunterricht wollte sie die behandeln. Ein anderes Thema lautete:
"Literatur als Spiegel bürgerlicher Emanzipation". So hatte sie sich
das im Studium gedacht. Heute findet sie das selbst lustig: "Statt den
Schülern Jugendbücher anzubieten, mit Themen, die sie persönlich bewegen, haben
wir sie schrecklich gelangweilt."
Die 68er
wollten die Gesellschaft verändern und wo war ein besserer Ort dafür als in der
Schule? Mit dem Kapital von Marx, mit Summerhill
School von A. S. Neill oder Materialien wie den Bottroper
Protokollen hatten sie sich präpariert. Hart prallten ihre Ideen auf
die Realität der Kinder und Jugendlichen. Doch Ideologie allein motivierte sie
nicht. Die Generation von Mank-Müller hatte selbst oft zwanghafte, autoritäre
Eltern und Lehrer erlebt. Sie wollten diese Welt hinter sich lassen. Mit diesem
persönlichen Impuls haben die 68er die Schule wirklich zu einem besseren Ort
gemacht. Lehrer, die ihre Macht mit Drohungen, Demütigungen und Spott ausüben,
gibt es zwar noch heute, aber die Mehrheit der Eltern und Kollegen lehnen diese
Methoden ab.
Wenn
Mank-Müller Bilder aus dem Familienalbum zeigt, sieht man, wie rasant sich das
Mädchen Ursula Mank in der Zeit um 1968 veränderte. 1966, mit 16, trug sie
einen Betty-Barclay-Mantel und Pumps. Sie ging in die Kirche und war eine
fleißige Schülerin. 1967, mit 17, kam sie vom Sprachkurs aus Swinging London im
Minirock und mit offen fliegendem Haar wieder. Wie The Shrimp, das britische
Model Jean Shrimpton, wollte sie aussehen. Aber nicht nur die damenhaften
Kleider, Frisuren und Schuhe sollten verschwinden.
Im selben
Jahr hatte sie ein Schlüsselerlebnis in einem christlichen Sommerlager. Ein
Religionsphilosoph diskutierte mit den Jugendlichen über den Glauben. Und ließ
sie wissen: Zweifel an Gott sind erlaubt. "Ich habe geweint vor
Glück", erinnert sich Mank-Müller. Sie hatte bisher nicht erlebt, dass
Erwachsene ihre Ideen und Gefühle ernst nahmen. Und sagt: "Mein Vater
hätte mich für den Beelzebub persönlich gehalten, wenn ich ihm anvertraut
hätte, dass ich nicht mehr an Gott glaube."
Im
Republikanischen Club in ihrem Heimatort Herne diskutierten die Schüler über
Konsumterror und die verkrustete, spießige Gesellschaft. Mank-Müller sah Rudi
Dutschke im Fernsehen und war hingerissen von seinen Reden. Vieles von dem, was
er sagte, blieb abstrakt. "Aber seine Augen blitzten", sagt sie
"und wir verstanden, dass es darum ging, Autoritäten an den Universitäten
zu entmachten." Ihre Noten in der Schule wurden schlechter. Sie schlich
sich aus dem Haus, um Jungs zu treffen und tanzen zu gehen. Sie las
Sartres Das Spiel ist aus und sah im Kino Easy Rider und Blow
Up.
West-Berlin
war ganz weit weg
Im
Oktober 1968 zog sie nach West-Berlin. Es lagen nicht nur viele Kilometer
zwischen Berlin und Herne. Die Stadt war auch deshalb so schön weit weg, weil
ihre Eltern sich nicht trauten, die Transitstrecke durch die DDR zu fahren. Sie
schrieb sich in Politikwissenschaften am linken Otto-Suhr-Institut der FU
Berlin ein, wohnte, kochte und feierte im Studentenheim mit Iranern und
Palästinensern. "Internationale Solidarität und Multikulti war für uns
nicht abstrakt", sagt sie, "wir haben das gelebt."
Bald entschied
sie, Lehrerin zu werden. "Ich wollte gesellschaftlich wirken", sagt
sie. Und sie wollte an ihre späteren Schüler weitergeben, was sie selbst gerade
erlebte: frei sein. Selbst entscheiden, was man lernen will. Festgefahrene
Strukturen hinterfragen. Sie wählte Germanistik dazu, später Psychologie und
Pädagogik.
Auch ihr
politisches Engagement war geprägt von der Sehnsucht nach individueller
Freiheit. "Ich wollte den Sozialismus, aber keine bessere DDR", sagt
sie. Die sei ihr zu zwanghaft gewesen. Sie traf sich mit anderen Studenten zu
den sogenannten Kapitalkreisen. Alle drei Bände des Kapitals von
Karl Marx habe sie durchgelesen, sagt sie. "Diese Kreise haben eine große
Rolle dabei gespielt, wie ich mir das Lernen vorgestellt habe. Jedes Mal haben
wir gemeinsam entschieden, was wir lesen und welchen Aspekt wir
diskutieren." So einen Unterricht wollte sie machen. Auch an der Uni
lautete die neue Maxime: Lehrer sollten aktivieren, aber möglichst nicht
disziplinieren. "Intrinsisch motiviert" sollten die Schüler lernen.
Das passte zu ihrer Abneigung gegen alles Autoritäre. Sie sagt: "Ich
wollte auf keinen Fall werden wie mein Vater, also autoritär."
Der, von
Beruf Zugschaffner, hatte mal gesagt, Hitler habe nur drei Fehler gemacht: die
Juden vergasen, mit Russland Krieg führen und die Kirche angreifen. Besonders
Letzteres fand er als gläubiger Christ empörend. Die Prügelstrafe hingegen fand
er normal. Dass es auch eine andere, professionelle Autorität geben könnte im
Gegensatz zur demütigenden oder gar latent faschistischen, hat Mank-Müller erst
viel später gelernt, als sie vor Schülern stand, die ganz und gar nicht
intrinsisch motiviert waren.
Was
wollen wir lernen? Nichts!
Nach dem
Referendariat nahm sie 1976 ihre erste Stelle an der neu gegründeten Bettina-von-Arnim-Gesamtschule
im Märkischen Viertel in Berlin an. Eine Trabantenstadt im Nordwesten. "Da
wollte ich hin, das fand ich gut." Die Lehrer arbeiteten in Jahrgangs- und
Fachteams. Sie tauschten Materialien aus und besprachen ihre Methoden. Der
Plan: Schichtübergreifend lernen alle Kinder gemeinsam. Projektarbeit war fest
verankert im Stundenplan: Hier sollten die Schüler Ideen und Pläne für ein
eigenes Projekt entwickeln, selbstständig und im Team arbeiten und am Ende ein
fertiges Produkt vorweisen können.
Mank-Müller
erzählt, zu ihren Literaturprojekten sei kaum einer gekommen, sogar
Theaterspielen war den Schülern schon zu verkopft. Stattdessen waren die
Spaßprojekte voll: Kristalle züchten, Sport, Schmuck basteln etc.
"Irgendwann habe ich meinen Frieden mit Kochen gemacht", sagt sie. 16
Schüler bereiten ein viergängiges Menü vor. Zumindest auf der sozialen Ebene
haben sie dabei viel gelernt. Schließlich mussten sie sich miteinander
abstimmen und am Ende sollte es allen schmecken.
Heute
sagt Mank-Müller, dass es eine große Illusion war zu glauben, man könnte alle
Kinder eben mal anspruchsvolle Themen selbst finden und erarbeiten lassen. Ihre
Schüler im Märkischen Viertel lebten im sozialen Wohnungsbau. Die Eltern waren
eher ungebildet und erzogen ihre Kinder entweder autoritär oder gar nicht. Die
Schichten mischten sich auch dort nicht, im Gegenteil, die soziale Unterschicht
blieb ganz unter sich. Wenn sie in den Unterricht kam und fragte: "Was
wollen wir lernen?", antworteten die Jugendlichen: "Nichts." Sie
testeten erst mal aus, wie weit sie gehen konnten und ob sich die Lehrerin wohl
durchsetzen konnte. "Da spuckte einer auf den Boden – aber ich wollte ja
nicht disziplinieren. Außerdem fand ich meinen Stoff viel interessanter."
Sie hat sich in unendliche Diskussionen verwickeln lassen und kam nicht zum
Unterrichten.
Später
habe sie dann klare Grenzen gesetzt. Spucken verboten. "Mir ist klar
geworden, dass ich mehr Sozialarbeiter sein musste als Lehrer, Erziehen vor dem
Lernen kommen musste." Sie habe dabei gelernt, dass es eine professionelle
Autorität gibt, die mit der ihres Vaters nichts zu tun hatte. "Lehrer
müssen ihre Rolle klar ausfüllen, um Orientierung geben zu können. Ich habe
meine Entscheidungen immer begründet – aber nicht mehr geglaubt, die Schüler
könnten alles allein entscheiden."
Am
Gespräch dranbleiben, selbstständig arbeiten, aufeinander Rücksicht nehmen –
all das musste an der Gesamtschule erst einmal eingeübt werden: Sie teilte den
Stoff in kleine Häppchen. In diesem engen Rahmen klappte es dann auch mit der
intrinsischen Motivation.
Lehrer
müssen eine Beziehung zu den Schülern haben
Manchmal
war der Frust groß. Einmal, auf einer Klassenfahrt, hatte sie einen Musikabend
geplant. Die Schüler rannten rein und raus, keiner nahm sich die Zeit,
hinzuhören. Sie lief weinend in ihr Zimmer, der Boykott fühlte sich wie eine
persönliche Niederlage an. Was er dann aber doch nicht war. Dietmar, der
Rädelsführer unter den Jungen, klopfte an ihre Tür und sagte: "Sie können
jetzt wieder runterkommen, wir sind alle da." Mank-Müller kommen
wieder die Tränen, wenn sie daran zurückdenkt. Sie hat sich verändert,
dazugelernt, ein paar ideologische Konstrukte der Realität angepasst, aber ihre
Ideale nie wirklich aufgeben müssen.
Das
Wichtigste, was sie in Situationen wie dieser gelernt hat, sagt sie heute, war,
dass Lehrer eine Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen müssen. Wenn die
Schüler gemerkt haben, dass sie ihr wichtig waren, konnten Wunder geschehen.
Sie erinnert sich etwa an Ralf, einen coolen Quatschmacher, der die ganze
Klasse am konzentrierten Arbeiten hinderte. Der sich aber plötzlich am
Unterricht beteiligte und damit sogar seine Clique ansteckte. Mank-Müller hatte
ihm gesagt, dass es ein Jammer sei, wie er seine Begabung verspielte und damit
seinen Realschulabschluss. Er erwiderte: "Kann Ihnen doch egal sein, ob
ich Haupt oder Real mache." Aber sie versicherte ihm: "Du bist mir
nicht egal." Am Ende des Schuljahrs hatte er den Realschulabschluss geschafft
und bedankte sich bei ihr. Ein kleiner Satz kann einen großen Anstoß geben.
Wechsel
ans Sanatorium, das Gymnasium
16 Jahre
blieb sie im Märkischen Viertel. Dann wechselte sie ans "Sanatorium",
wie ihre ehemaligen Kollegen witzelten. An ein Gymnasium in Steglitz mit altsprachlichem
Schwerpunkt. Anonyme Flure, Lehrer als Einzelkämpfer und Schüler fast
ausschließlich aus bürgerlich-konservativen Familien, die gute Noten verlangten
– all das, was sie nie wollte. "Aber es war eine tolle Erfahrung",
erinnert sich Mank-Müller. Sie konnte endlich mit Schülern arbeiten, die von
sich aus lernen wollten. Zunächst einmal, weil ihnen gute Noten wichtig waren,
aber auch, weil sie Spaß hatten, wenn man ihnen etwas zutraute und sie
loslaufen ließ.
Ein paar
Jahre später fand sie einen schönen Kompromiss an einem Wilmersdorfer
Gymnasium, an dem sich die Schichten besser mischten, bildete danach
Referendare aus und landete nach der Wende an einer Schule am Prenzlauer Berg
als Fachbereichsleiterin für Deutsch: eine Wessi-Lehrerin, die den Ossi-Lehrern
vorgesetzt wurde. Wieder eine neue Herausforderung. Aber mit ihrer Rolle als
Autoritätsperson haderte sie da längst nicht mehr.
Wie hat
sie die junge Generation Lehrer erlebt, die inzwischen übernommen hat? Sehr
ehrgeizig, sagt sie und theoretisch viel besser vorbereitet. Aber auch viel
pragmatischer: "Diesen gesellschaftsverändernden Anspruch haben die zwar
nicht mehr. Der Praxisschock trifft sie trotzdem immer noch genauso hart wie
uns." Es sollte viel mehr Zeit zum Austausch und zur Kooperation geben,
findet Mank-Müller. Die Alten könnten den harten Einstieg mildern, die Jungen
den Alten digitale Medien nahebringen. So nebenbei funktioniert das nicht. Aber
über die pädagogischen und didaktischen Ideale gibt es kaum noch Differenzen.
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