Schulen
werden prämiert. Kriterien sind methodengeleitete Merkmale wie
selbstorientiertes und computerbasiertes Arbeiten. Von lernwirksamem Unterricht
ist wenig zu hören. Ein kritischer Zwischenruf.
Schulpreise für schöne Äusserlichkeiten, Journal21.ch, 2.1. von Carl Bossard
„Schweizer Schulpreis“ – so heisst er
grossmäulig, und er geht jedes zweite Jahr an „innovative und
zukunftsorientierte Schulen“. Wer sich auf der Website des Vereins nach
zielgeleiteten, konkreten Kriterien kundig macht, ist enttäuscht. Er findet sie
nicht. Stattdessen stösst er auf öffentlichkeitswirksame Schlagworte wie
„Schülerinnen und Schüler [nehmen] ihr Lernen selbst in die Hand“ oder „Schulen
[pflegen] pädagogisch fruchtbare Beziehungen zu ausserschulischen Personen und
Institutionen sowie zur Öffentlichkeit“.
Luftige Pläne und ziellose Zukunftskonzepte
Wo solche Preise vergeben werden, sind Floskeln
nicht weit. Belohnt werden Worthülsen oder „Claims“, wie sie die Werbesprache
nennt. Da heisst es zum Beispiel von einer prämierten Gemeinde: „Vorbildlich
ist die Schule, weil sie zeigt, wie eine grosse Schule mit verschiedenen
Schuleinheiten einen gemeinsamen Entwicklungsprozess anstossen und vorantreiben
kann. Die Schulen [nn] erhalten den Schulpreis für einen sorgfältig
erarbeiteten und ausgezeichnet umgesetzten Changemanagement-Prozess, der für
viele andere Schulen, die sich auf den Weg machen wollen, Vorbild und
Musterbeispiel sein kann.“ Verkündet hat diese frohen Worte Vladimir Petković,
Trainer der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft.
Wie das gemacht wird, wohin dieser Weg führt und
welche Ziele der „Changemanagement-Prozess“ erreichen soll, von all dem sagte
Petković nichts. Geschweige denn, was sich in dieser Schulgemeinde in der
Zwischenzeit verändert und welche Lernfortschritte sie bei den Kindern erreicht
hat.
Oberflächenmerkmale mit geringem Effektwert
Wer näher heranzoomt und die preisgekrönten
Merkmale mit John Hatties vielfach bestätigten Wirkfaktoren verbindet, erkennt
schnell: Da dominieren Oberflächensignaturen, da figurieren Faktoren, die
praktisch keinen Effekt erzielen. Beim „Schweizer Schulpreis“, gesponsert von
deutschen Stiftungen und Protagonisten einer „neuen“ Schule, geht es wohl
weniger um lernwirksamen Unterricht als um schöne Äusserlichkeiten wie
altersdurchmischtes und selbstorientiertes Lernen oder webbasiertes und
individualisiertes Arbeiten. Nach Hattie aber kommt all diesen Faktoren eine
sehr geringe Wirkkraft zu. Jahrgangsübergreifende Klassen z.B. erzielen nur
gerade eine Effektstärke von 0.04. [1] Die Massnahme bleibt also – kognitiv wie
sozial – wirkungslos. Und die Heterogenität heutiger Klassen künstlich steigern
ist kein Ziel.
Nur die Effektwerte, und zwar hohe, machen eben
sichtbar, was ein pädagogisches Konzept beinhaltet und konkret für das Lernen
der Kinder bedeutet. Wohlklingende Theoriebegriffe alleine verfügen über keine
Wirkungsgarantie in der Praxis, so wenig wie ein Frostschutzmittel gegen Durst
hilft.
Innovativ ist nicht per se gut und
erstrebenswert
Seit zweieinhalb Jahren gibt es sie, die
Sekundarschule Sandgraben am Badischen Bahnhof von Basel, und schon wurde sie
für ihre „zukunftsgerichteten und richtungsweisenden“ Innovationen prämiert.
Sie gehört damit zu den Vorzeige- und Modellschulen des Landes. Doch wie geht
das? Wie kann man innert so kurzer Zeit Effektwerte messen und hohe
Lernwirksamkeit? Das ist doch der Kern, wenn wir von anspruchsvollem Unterricht
und guter Schulqualität sprechen?
Dazu der renommierte deutsche
Erziehungswissenschaftler und Schulforscher Andreas Helmke: „Was mich immer
wieder nervt: Die naive Einstellung, etwas sei schon deshalb gut und
erstrebenswert, weil es "neu", "innovativ",
"modern" ist. Viele Erkenntnisse und Prinzipien, z.B. der Lern- und
Gedächtnispsychologie, sind zwar "alt" und definitiv nicht
"modern", aber zeitlos gültig.“ [2] Doch von solch alterungsresistenten
Grundsätzen steht in den wortreichen Laudationes des Schweizer Schulpreises
kein Wort.
Wie Kaninchen – moderne Käfighaltung von Kindern
Als neu und revolutionär gilt auch digitales
Lernen. Lernsoftware bereits im Kindergarten fordert darum das amerikanische
Unternehmen Microsoft. E-Learning mutiert zum modernen Zauberwort. Die Schulen
rüsten auf. Möglich macht’s das Attribut „innovativ“.
Das Bild der prämierten Sekundarschule
Sandgraben Basel spricht Bände. Jede Schülerin für sich, jeder Schüler allein,
alle isoliert, obwohl der menschliche Dialog seit Platon immer wieder als
lernfördernd erkannt wird.
Erst
zweieinhalb Jahre jung und bereits ausgezeichnet: die Sekundarschule Sandgraben
am Badischen Bahnhof (Bild: Roman Weyeneth/Stücheli Architekten AG)
Jeder sein eigener Lerner: So sieht der
Unterricht der Zukunft die meiste Zeit aus, wenn es nach den Plänen der
deutschen Bertelsmann-Stiftung und ihrer Exponenten Jörg Dräger und Ralph
Müller-Eiselt geht. [3] Während unzähliger Stunden gibt es kein Miteinander,
keinen sozialen Austausch, nur individuelles Arbeiten am PC. Grossraumbüros
bereits für kleine Kinder. Die Digitalindustrie pusht diese Innovation,
Stiftungen prämieren sie, Pädagogische Hochschulen und der Dachverband Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz LCH wirken mit.
Online-Learning zum Konsolidieren
Dabei ist Lernen ein dialogisches Geschehen, ein
zwischenmenschlicher Austausch. Das zeigt die Lernpsychologie, das belegt die
Neurowissenschaft. Der Hirnforscher Gerhard Roth sieht den Wert des
Online-Learnings primär im Konsolidieren eines vorher erworbenen Wissens, nicht
aber im Generieren neuer Erkenntnisse und Einsichten. Dazu braucht’s, so Roth,
die kompetente und vertrauenswürdige Lehrperson. [4] Auch bei John Hattie
erreicht webbasiertes Lernen lediglich den vernachlässigbaren Effektwert von
0.18.
Eine zentrale Rolle im Unterricht spielt die
Beziehungsebene oder der "pädagogische Bezug", wie man früher sagte.
Darum gilt es als unbestritten: Eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens,
der Fürsorge und des Wohlwollens ist unverzichtbar für Bildung und schulische
Leistung. Eine einfache pädagogische Wahrheit. In John Hatties empirischen
Studien erreicht sie den hohen Wirkfaktor von 0.72.
Unterricht als „Meeting of Minds“
Unterricht hat per se eine dialogische Struktur.
Nicht umsonst entdecken Didaktiker jeder Generation das „sokratische Gespräch“
neu. Lernende und Lehrende begegnen sich im Schulstoff und in der Gemeinschaft
der Klasse. Der Unterricht wird so zum sozialen Austausch zwischen Personen,
zum "Meeting of Minds", wie es der grosse amerikanische Philosoph
John Dewey nannte. Das schliesst digitale Lernsequenzen nicht aus. Im Gegenteil.
Immer aber kommt es auf den einzelnen Lehrer an, auf den analogen Umgang
zwischen ihm und seiner Klasse – und den Schülern untereinander. Gutes,
unterstützendes Klassenklima bewirkt viel – genauso wie die humane Energie des
Lehrers für seinen Beruf.
Keine I-Pads oder I-Phones für Steve Jobs‘
Kinder
Das ist in der Käfigatmosphäre des
digitalisierten Grossraum-Schulzimmers, in diesem ökonomisierten und
technisierten Gebilde mit den engen Boxen, nicht mehr möglich und auch nicht
gewollt. Wird der Bildschirm zum dominanten Bezugspunkt, verdrängt er die
soziale Dimension von Bildung. Nicht umsonst wählten Bill Gates und Steve Jobs
für ihre eigenen Kinder einen analogen Unterricht; sie schickten sie in
Waldorf-Schulen – ohne I-Pads und ohne Tablets. Ob wir uns solch digitalisierte
Klassen wünschen? Big Brother is Teaching You! Arme Kinder! Reich wird wohl nur
die Digitalindustrie. Ihr Sponsoring von Schulpreisen scheint nicht ganz
uneigennützig.
[1] Hattie John, Visible Learning. London, New
York: Routledge 2009. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus, Lernen
sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013. Hatties
umfangreiche Meta-Meta-Studie gilt international als Referenz. Gemäss Hattie
hat z.B. Lehrerfeedback einen Effektwert von d = 0.75, individualisierender
Unterricht lediglich eine Wirkung von d = 0.22.
[2] In einem persönlichen Mail vom 15.09.2016 an
den Verfasser.
[3] Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt, Die
digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn
gestalten können. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2015. Der eine ist
Vorstand, der andere Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung.
[4] Gerhard Roth, Bildung braucht
Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta 2011.
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