22. Januar 2018

Kosmetik mit Noten

Manchmal wissen die Schulkinder der 3. und 4. Klasse im Schulhaus Rotmonten-Gerhalde in St. Gallen in der Prüfung die ­Namen der Dinosaurier nicht mehr. Oder sie machen Fehler, wenn sie Rechnungen lösen müssen. Dann erhalten sie im Gegensatz zu anderen Schülern ihre Probe dennoch nicht mit einer Note drei zurück. Sondern mit einem Kreuz im braunen Feld und der Wortmeldung: «Das klappt noch nicht. Da brauche ich noch Unterstützung.» Das grüne Feld bedeutet «Das gelingt mir teilweise», das orangefarbene «Das kann ich schon gut» und das gelbe «Das beherrsche ich».
Farben statt Ziffern kommen bei den Kindern gut an. Bild: Stephan Bösch
Eine Schule mit Farben statt Noten, Migrosmagazin, 18.1. von Claudia Weiss
Schulhausleiter Oliver Rohner (46) sagt: «Wir wollen den Schülerinnen und Schülern während des Schuljahrs nicht einfach eine Zahl für ungenügend vorlegen, sondern sie ermuntern, noch besser zu lernen.» 
Braun, Grün, Orange und Gelb stehen für die Farben der Sonnenblume, die alle Schulkinder am Anfang des Schuljahrs erhalten, und für deren Wachstum.

Schulnoten haben sich bisher durchgesetzt
Der Versuch schlägt Wellen über die Schweizer Grenzen hinaus: Er wurde unter anderem vom deutschen Magazin «Der Spiegel» aufgegriffen. Immer wieder sorgt das Thema «Noten in der Schule» für Emotionen.

Jürgen Oelkers (70), emeritierter Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich, beschäftigt sich seit Langem damit. Für ihn ist klar: «In einer Gesellschaft, die Leistung verlangt, sind Noten wichtig.» Zwar könne man die Gerechtigkeit von Noten, so wie sie heute eingesetzt werden, anzweifeln. Aber statt Noten abzuschaffen, sei es wichtig, diese transparent und fair zu verteilen, findet Oelkers. Denn bisher habe sich keine der zahlreichen getesteten Alternativen durchsetzen können: «Die Schüler wollen wissen, wo sie stehen – und ihre Eltern auch.»

Winfried Kronig (49), Professor für Sonderpädagogik an der Universität Freiburg und Mitglied im Rat des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung, stimmt ihm darin zu, dass es noch keine Ideallösung gibt. Als Notenkritiker sagt er aber: «Die Schule qualifiziert nicht nur, sie selektioniert auch. Und das nicht immer gerecht.» Das könne dazu führen, dass ein eigentlich mässig guter Schüler in einer leistungsschwachen Klasse als Spitzenschüler gelte, obwohl er weit weniger wisse als der Spitzenschüler einer leistungsstarken Klasse im Dorf nebenan. Zum Farbkonzept sagt er: «Letztlich ist das eine Reform, die nur kosmetisch auf der Oberfläche stattfindet.»

Weg vom Konkurrenzdenken
In der Schule Rotmonten-Gerhalde bleiben die Verantwortlichen dennoch dabei: «Wir möchten den Kindern eine andere Haltung beibringen als das permanente Vergleichen und das Konkurrenzdenken», sagt Schulhausleiter Rohner. Das Farbsystem sei kompetenz­orientiert und auf Förderung ausgelegt, wie das der Kanton St. Gallen mit dem neuen ­Lehrplan fordere.

Auch die meisten Lehrkräfte stehen dahinter. Allen voran Oliver Rohner, der das System als Erster in seiner Klasse eingeführt hat. Er ist überzeugt, dass sein System positiver daherkommt als nackte Zahlen. Und auch besser als Smileys: «Farben sind neutral», findet er, «bei den Smileys wirkt ein trauriges Gesicht auf Anhieb negativ.»

Ganz wichtig sei: Die Farben stehen gekoppelt mit einem Kommentar da. «Das ergibt eine abgerundete Rückmeldung, mit der die Schülerinnen und Schüler wirklich etwas anfangen können», ist Rohner überzeugt. Und die bisherigen Reaktionen von Eltern, Schülerinnen und Schülern geben ihm recht. Sogar die Notenzeugnisse, die nach dem St. Galler Schulgesetz zweimal jährlich abgegeben werden müssen, hätten bei den Schulkindern keine grosse Aufregung ausgelöst: «Auch ohne Noten wussten sie schon vorher, wo sie standen», erklärt der Lehrer.

Ressourcen statt Defizite fördern
Bildungsforscher sind dennoch von den Farben nicht restlos überzeugt. «Kinder merken sehr schnell, dass Braun schlechter ist als Gelb, oder sie übersetzen die Farben insgeheim ins alte Notensystem», sagt Winfried Kronig. Eine ideale Lösung kann auch er nicht anbieten, meint aber: «Grundsätzlich ist es eine gute Idee, Ressourcen statt Defizite zu fördern.» 

Jürgen Oelkers hingegen sagt: «Manchmal ist es gar nicht so schlecht, Noten als Ansporn von aussen anzuwenden. Denn Eigenmotivation ist zwar ein schönes Wort, funktioniert aber nicht immer so einfach.»

Wer in der öffentlichen Schule ist, muss sich mit einem Schulsystem abfinden, das letztlich trotz allem eher selektioniert statt fördert. Urs Moser (60), Geschäftsleiter am Institut für Bildungsforschung der Uni Zürich, erklärt warum sich das System so hartnäckig hält, damit, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Leistungszwang gar keine andere Möglichkeit erlaube.

Das sieht Luca D’Alessandro (39) anders. Der Sprecher des Dachverbands der Gesundheitsberufe Odasanté sagt: «Für den Zugang zu einer Lehrstelle im Gesundheitsbereich – etwa Fachmann oder Fachfrau Gesundheit – ist der Abschluss der obligato­rischen Schulzeit Voraussetzung.» Schülerinnen und Schüler von privaten Schulen müssten zwar belegen können, dass ihr Schulwissen mit dem der Volksschule vergleichbar ist. Ob dieser Nachweis über ein Schulabschlusszeugnis oder via Aufnahmegespräch oder Einstufungstest laufe, ist allerdings nicht vorgeschrieben. «Der Entscheid über die Aufnahme in die Lehre obliegt dem Lehrbetrieb.»

Zeugnisse sind nicht so wichtig
Auch Schreiner wählen nicht nur nach Zeugnisnoten aus, sondern wollen ihre künftigen Lernenden in einer Schnupperlehre gründlich kennenlernen, sagt Daniel Zybach (43), Bereichsleiter Berufsbildung beim Verband Schweizerischer Schreinermeister. «Nicht wenige Unternehmen schliessen diese Schnupperlehre mit einem Test ab. Dieser soll aufzeigen, ob Jugendliche das Rüstzeug für die anspruchsvolle Schreinerlehre mitbringen.» 

Das gehe weit über das reine Abfragen von Wissen hinaus. Das Schulzeugnis, so Zybach, spiele zwar bei der Vergabe der Schnupperwochen eine Rolle. «Wir suchen aber in erster Linie Hinweise auf Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit eines Kandidaten oder einer Kandidatin.»


Die Schülerinnen und Schüler der 3. Klasse im Schulhaus ­Gerhalde finden ihr Farbsystem in Ordnung und zeigen das begeistert mit orangen und gelben Zetteln, die sie auf die entsprechende Frage von Oliver Rohner in die Luft strecken. Ob sich die Farben und Rückmeldungen in dieser Form durchsetzen werden, wird sich zeigen. Für Oliver Rohner aber ist klar, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Thema «Lernfördernde ­Beurteilung» lohnt und solche Ansätze Schritte in die richtige Richtung sind. 

2 Kommentare:

  1. Das sagen vier Schüler zu den Farben-Noten:

    1/4 Nils Büchler (9): «Ich habe Glück, und alle Kreuze sind im allerbesten Feld, dem gelben, das macht Freude. Ich hatte auch schon Noten, aber Farben sind mir lieber; sie sind schöner, und ich weiss genau, wie gut ich bin. Ich gebe mir immer Mühe, dass ich im Gelben oder Orangen bleibe.»

    2/4 Zoé Meile (8): «Zuerst konnte ich mir das mit den Farben nicht vorstellen, aber jetzt finde ich es viel besser als Noten. Man darf sich selber einschätzen, und Herr Rohner sagt uns dann, ob er das auch so sieht. Toll ist, dass ich auf einen Blick sehe, wie gut ich bin.»

    3/4 Florian Dlaska (8): «Die Farben drücken aus, wo ich stehe. Für mich sind sie sogar klarer als eine Beurteilung in Textform. Noten, wie wir sie im Jahreszeugnis haben, finde ich auch okay, aber die Farben sind besser. Ich kann mir mit ihnen auf einen Blick ein gutes Bild davon machen, wo ich stehe.»

    4/4 Luis Moser (8): «Braun bedeutet ja eigentlich eine Drei. Aber ich habe das Gefühl, man schafft es leichter, von Braun ins Grüne zu kommen, als von einer Drei aus genügend zu werden. Heute habe ich mir in der Selbstbeurteilung ein Orange gegeben, das wäre etwa eine Fünf.»

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