Manchmal wissen die Schulkinder der 3. und 4. Klasse im Schulhaus
Rotmonten-Gerhalde in St. Gallen in der Prüfung die Namen der Dinosaurier
nicht mehr. Oder sie machen Fehler, wenn sie Rechnungen lösen müssen. Dann
erhalten sie im Gegensatz zu anderen Schülern ihre Probe dennoch nicht mit
einer Note drei zurück. Sondern mit einem Kreuz im braunen Feld und der Wortmeldung: «Das klappt noch nicht.
Da brauche ich noch Unterstützung.» Das grüne Feld bedeutet «Das gelingt mir teilweise», das orangefarbene «Das kann ich
schon gut» und das gelbe «Das
beherrsche ich».
Farben statt Ziffern kommen bei den Kindern gut an. Bild: Stephan Bösch
Eine Schule mit Farben statt Noten, Migrosmagazin, 18.1. von Claudia Weiss
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Schulhausleiter Oliver Rohner (46) sagt: «Wir wollen den
Schülerinnen und Schülern während des Schuljahrs nicht einfach eine Zahl für
ungenügend vorlegen, sondern sie ermuntern, noch besser zu lernen.»
Braun, Grün, Orange und Gelb stehen für die Farben der Sonnenblume, die alle
Schulkinder am Anfang des Schuljahrs erhalten, und für deren Wachstum.
Schulnoten haben sich bisher
durchgesetzt
Der Versuch schlägt Wellen über die Schweizer Grenzen hinaus: Er wurde
unter anderem vom deutschen Magazin «Der Spiegel» aufgegriffen. Immer wieder
sorgt das Thema «Noten in der Schule» für Emotionen.
Jürgen Oelkers (70), emeritierter Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich, beschäftigt sich seit Langem damit. Für ihn ist klar: «In einer Gesellschaft, die Leistung verlangt, sind Noten wichtig.» Zwar könne man die Gerechtigkeit von Noten, so wie sie heute eingesetzt werden, anzweifeln. Aber statt Noten abzuschaffen, sei es wichtig, diese transparent und fair zu verteilen, findet Oelkers. Denn bisher habe sich keine der zahlreichen getesteten Alternativen durchsetzen können: «Die Schüler wollen wissen, wo sie stehen – und ihre Eltern auch.»
Winfried Kronig (49), Professor für Sonderpädagogik an der
Universität Freiburg und Mitglied im Rat des Eidgenössischen Hochschulinstituts
für Berufsbildung, stimmt ihm darin zu, dass es noch keine Ideallösung gibt.
Als Notenkritiker sagt er aber: «Die Schule qualifiziert nicht nur, sie
selektioniert auch. Und das nicht immer gerecht.» Das könne dazu führen, dass
ein eigentlich mässig guter Schüler in einer leistungsschwachen Klasse als
Spitzenschüler gelte, obwohl er weit weniger wisse als der Spitzenschüler einer
leistungsstarken Klasse im Dorf nebenan. Zum Farbkonzept sagt er: «Letztlich
ist das eine Reform, die nur kosmetisch auf der Oberfläche stattfindet.»
Weg vom Konkurrenzdenken
In der Schule Rotmonten-Gerhalde bleiben die
Verantwortlichen dennoch dabei: «Wir möchten den Kindern eine andere Haltung
beibringen als das permanente Vergleichen und das Konkurrenzdenken», sagt
Schulhausleiter Rohner. Das Farbsystem sei kompetenzorientiert und auf
Förderung ausgelegt, wie das der Kanton St. Gallen mit dem neuen Lehrplan
fordere.
Auch die meisten Lehrkräfte stehen dahinter. Allen voran Oliver Rohner,
der das System als Erster in seiner Klasse eingeführt hat. Er ist überzeugt,
dass sein System positiver daherkommt als nackte Zahlen. Und auch besser als
Smileys: «Farben sind neutral», findet er, «bei den Smileys wirkt ein trauriges
Gesicht auf Anhieb negativ.»
Ganz wichtig sei: Die Farben stehen gekoppelt mit einem Kommentar da.
«Das ergibt eine abgerundete Rückmeldung, mit der die Schülerinnen und Schüler
wirklich etwas anfangen können», ist Rohner überzeugt. Und die bisherigen
Reaktionen von Eltern, Schülerinnen und Schülern geben ihm recht. Sogar die
Notenzeugnisse, die nach dem St. Galler Schulgesetz zweimal jährlich abgegeben
werden müssen, hätten bei den Schulkindern keine grosse Aufregung ausgelöst:
«Auch ohne Noten wussten sie schon vorher, wo sie standen», erklärt der Lehrer.
Ressourcen statt Defizite fördern
Bildungsforscher sind dennoch von den Farben nicht restlos überzeugt.
«Kinder merken sehr schnell, dass Braun schlechter ist als Gelb, oder sie
übersetzen die Farben insgeheim ins alte Notensystem», sagt Winfried Kronig. Eine
ideale Lösung kann auch er nicht anbieten, meint aber: «Grundsätzlich ist es
eine gute Idee, Ressourcen statt Defizite zu fördern.»
Jürgen Oelkers hingegen sagt: «Manchmal ist es gar nicht so schlecht, Noten als Ansporn von aussen anzuwenden. Denn Eigenmotivation ist zwar ein schönes Wort, funktioniert aber nicht immer so einfach.»
Wer in der öffentlichen Schule ist, muss sich mit einem Schulsystem
abfinden, das letztlich trotz allem eher selektioniert statt fördert. Urs Moser (60), Geschäftsleiter
am Institut für Bildungsforschung der Uni Zürich, erklärt warum sich das System
so hartnäckig hält, damit, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Leistungszwang
gar keine andere Möglichkeit erlaube.
Das sieht Luca D’Alessandro (39) anders. Der Sprecher
des Dachverbands der Gesundheitsberufe Odasanté sagt: «Für den Zugang zu einer
Lehrstelle im Gesundheitsbereich – etwa Fachmann oder Fachfrau Gesundheit – ist
der Abschluss der obligatorischen Schulzeit Voraussetzung.» Schülerinnen und
Schüler von privaten Schulen müssten zwar belegen können, dass ihr Schulwissen
mit dem der Volksschule vergleichbar ist. Ob dieser Nachweis über ein
Schulabschlusszeugnis oder via Aufnahmegespräch oder Einstufungstest laufe, ist
allerdings nicht vorgeschrieben. «Der Entscheid über die Aufnahme in die Lehre
obliegt dem Lehrbetrieb.»
Zeugnisse sind nicht so wichtig
Auch Schreiner wählen nicht nur nach Zeugnisnoten aus, sondern wollen
ihre künftigen Lernenden in einer Schnupperlehre gründlich kennenlernen,
sagt Daniel Zybach (43), Bereichsleiter Berufsbildung beim
Verband Schweizerischer Schreinermeister. «Nicht wenige Unternehmen schliessen
diese Schnupperlehre mit einem Test ab. Dieser soll aufzeigen, ob Jugendliche
das Rüstzeug für die anspruchsvolle Schreinerlehre mitbringen.»
Das gehe weit über das reine Abfragen von Wissen hinaus. Das Schulzeugnis, so Zybach, spiele zwar bei der Vergabe der Schnupperwochen eine Rolle. «Wir suchen aber in erster Linie Hinweise auf Durchhaltevermögen und Konzentrationsfähigkeit eines Kandidaten oder einer Kandidatin.»
Die Schülerinnen und Schüler der 3. Klasse im Schulhaus Gerhalde finden
ihr Farbsystem in Ordnung und zeigen das begeistert mit orangen und gelben
Zetteln, die sie auf die entsprechende Frage von Oliver Rohner in die Luft strecken.
Ob sich die Farben und Rückmeldungen in dieser Form durchsetzen werden, wird
sich zeigen. Für Oliver Rohner aber ist klar, dass sich die Auseinandersetzung
mit dem Thema «Lernfördernde Beurteilung» lohnt und solche Ansätze Schritte in
die richtige Richtung sind.
Das sagen vier Schüler zu den Farben-Noten:
AntwortenLöschen1/4 Nils Büchler (9): «Ich habe Glück, und alle Kreuze sind im allerbesten Feld, dem gelben, das macht Freude. Ich hatte auch schon Noten, aber Farben sind mir lieber; sie sind schöner, und ich weiss genau, wie gut ich bin. Ich gebe mir immer Mühe, dass ich im Gelben oder Orangen bleibe.»
2/4 Zoé Meile (8): «Zuerst konnte ich mir das mit den Farben nicht vorstellen, aber jetzt finde ich es viel besser als Noten. Man darf sich selber einschätzen, und Herr Rohner sagt uns dann, ob er das auch so sieht. Toll ist, dass ich auf einen Blick sehe, wie gut ich bin.»
3/4 Florian Dlaska (8): «Die Farben drücken aus, wo ich stehe. Für mich sind sie sogar klarer als eine Beurteilung in Textform. Noten, wie wir sie im Jahreszeugnis haben, finde ich auch okay, aber die Farben sind besser. Ich kann mir mit ihnen auf einen Blick ein gutes Bild davon machen, wo ich stehe.»
4/4 Luis Moser (8): «Braun bedeutet ja eigentlich eine Drei. Aber ich habe das Gefühl, man schafft es leichter, von Braun ins Grüne zu kommen, als von einer Drei aus genügend zu werden. Heute habe ich mir in der Selbstbeurteilung ein Orange gegeben, das wäre etwa eine Fünf.»
bruh
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