Manchmal, wenn Michael Miedaner nach einem langen Unterrichtstag im Bett
liegt, fragt er sich, ob es wirklich eine gute Entscheidung war, die eigenen
Kinder nicht zur Schule zu schicken. Er und seine Frau Martina haben sich zu
diesem ungewöhnlichen Schritt entschieden und weil das in Basel nicht möglich
ist, sind sie ins grenznahe Elsass gezogen – Frankreich kennt keine
Schulpflicht.
Diese zwei Lehrer schicken ihre Kinder nicht zur Schule, Tageswoche, 8.1. von Jeremias Schulthess
«Ich bin auch nicht immer frei von Zweifeln», erklärt Michael Miedaner
am Esstisch im Einfamilienhaus, das fast an der Quelle des Birsig liegt. Sie
wollten ihren Kindern den Schuldruck ersparen. «Die Schule hat sich in den
letzten Jahrzehnten in eine Richtung entwickelt, die nicht mehr kindgerecht
ist», sagt der 56-jährige Familienvater.
Nico, 9, und Linda, 4, werden wohl nie zur Schule gehen – jedenfalls
nicht im Kindesalter. Lesen, Schreiben, Rechnen, Chemie, Biologie lernen die
Kinder wenn es gerade passt – und wenn sie es wollen.
Wenn sie wollten, könnten sie auch zur Schule gehen, erklärt Martina
Miedaner: «Freiwilligkeit ist für uns sehr wichtig. Wir wollen nicht, dass
unsere Kinder die Lust am Lernen verlieren, weil zu viel Druck da ist.»
Mit knapp neun Jahren sagte Nico: «Ich will auch lesen und schreiben
können!» Also setzte sich die Mutter mit ihm hin und erklärte, wie die
Buchstaben aussehen und wie man Umlaute ausspricht. Sie übte mit ihm vier
Wochen lang intensiv, danach konnte Nico lesen und schreiben.
Linda hat bereits als Vierjährige angefangen zu schreiben. Sie lernt
auch auf Französisch zu schreiben, damit sie ihrer Freundin Briefe schreiben
kann.
«Aufs ganze Leben gesehen, spielt es doch keine Rolle, ob ein Kind mit
vier oder neun Jahren lesen und schreiben lernt», erklärt Martina Miedaner, die
bis vor einigen Jahren als Primarlehrerin arbeitete. Mittlerweile berät sie
Familien, die zum Beispiel mit dem Gesetz in Konflikt kommen, weil sie ihre
Kinder zu Hause beschulen. Und das seien im Moment so viele Eltern, dass sie
vor lauter Anfragen kaum nachkomme. «Es ist ein Phänomen, das immer mehr Leute
beschäftigt.»
Freilernen,
nicht Homeschooling
Homeschooling –
so heisst das, was das Gesetz in einigen Kantonen erlaubt. Im Jura, im Aargau,
in Bern und Appenzell Ausserrhoden dürfen Eltern ihre Kinder zu Hause
unterrichten. Die Homeschooling-Familien werden regelmässig von Inspektoren
überprüft, um zu schauen, ob die Kinder auch ohne Schule ein angemessenes
Niveau erreicht haben.
Was die Miedaners machen, ist aber nicht Homeschooling. Sie nennen es
Freilernen nach dem Vorbild von André Stern, der selbst nie zur Schule gegangen
ist und als gefragter Reformpädagoge auftritt. Freilerner lernen nicht nach
Stundentafel oder definierten Stoffinhalten. Sie lernen, was sie entdecken, was
sie vertiefen wollen.
Martina Miedaner schildert, wie Sohn Nico an einem Spätsommermorgen
seinen Rucksack packte und mit dem Fahrrad durch Felder fuhr. Er beobachtete
den Bauern, wie er Mais erntete. Beim Abendbrot beantworteten die Eltern dann
die Fragen, die Nico während dem Tag gesammelt hatte.
Die Mutter erklärt: «Das Leben bringt so viele Herausforderungen, die
zum Lernen anregen. Es braucht keinen Zwang zum Lernen, wie es die Schule
vermittelt.»
An einem anderen Tag machte Nico Erfahrungen mit heissem Öl, das
Abendessen wurde anschliessend zur Chemiestunde, bei dem der Vater den
Unterschied verschiedener Aggregatszustände erklärte.
«Natürlich haben wir einen Vorteil dadurch, dass wir beide Lehrer sind»,
sagt Michael Miedaner. Aber das, was sie machten, könnten auch Eltern ohne
pädagogische Ausbildung leisten. «Für die Schulstunde muss ich mich auch
vorbereiten und es kommen vielleicht auch Schülerfragen, die ich nicht ohne
Weiteres beantworten kann.» Fast alles, was die Kinder über bestimmte Phänomene
wissen wollten, könne man nachlesen.
Die vierjährige Linda kommt aus dem Keller gerannt. Auf einem Holzbrett
trägt sie eine schlangenförmige Tonfigur. «Ist das eine Wurst?», fragt der
Vater. «Nein, ein Töpfchen», antwortet die Tochter und lacht.
Das Haus der Miedaners ist zwar keine Schule, dass hier gelernt wird,
fällt aber auf. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein Experimentierkasten für Erst-
und Zweitklässler, der Couchtisch ist voll mit Papier und Gipsmasken und auf
dem Duschvorhang ist das Periodensystem zu lesen.
«Vor der Geburt von Nico unterrichtete ich sieben- bis zwölfjährige
Kinder, die häufig keine Lust mehr zu lernen hatten», sagt die ehemalige Primarlehrerin.
Als sie dann ihre eigenen Kinder gross werden und die Begeisterung für das
spielerische Lernen sah, habe sie sich gefragt: Warum kann dieser natürliche
Lernprozess nicht einfach weitergehen?
Die Miedaners beschäftigten sich in dieser Zeit intensiv mit
Entwicklungspsychologie und Hirnforschung. Sie lasen Studien, sprachen mit
Leuten, deren Kinder freilernten. Die Idee, die eigenen Kinder von der Schule
fernzuhalten, verfestigte sich.
Absage
aus dem ED
«Der letzte Punkt, bei dem wir gehadert haben, war die Sozialisierung»,
erklärt Martina Miedaner. Natürlich sei es wichtig, dass Kinder mit anderen
Leuten in Kontakt kommen. Aber wieso sollten das nur Gleichaltrige sein? Von
anderen Freilernern hörten sie, wie ihre Kinder im Judokurs, Zirkusunterricht
oder im Sommerlager auf andere Kinder stiessen. «Das hat uns schliesslich
überzeugt: Kinder können überall andere Kinder und Erwachsene kennenlernen,
dazu braucht es die Schule nicht.»
Als Nico in den Kindergarten gekommen wäre, schrieben sie einen Brief an
den damaligen Erziehungsdirektor Christoph Eymann und fragten, ob sie ihre
Kinder ohne Kindergarten und Schule aufziehen könnten. «Zurück kam ein
zweiseitiger Brief, der uns darlegte, dass dies unter keinen Umständen ging»,
so Martina Miedaner.
Also entschieden sie sich, nach Frankreich auszuwandern. Das sei kein
einfacher Schritt gewesen, schliesslich habe sie seit ihrer Kindheit in Basel
und Umgebung gewohnt, sagt Martina Miedaner.
Ihr Mann erklärt: «Unser Umfeld sah die Entscheidung anfangs recht kritisch.
Mit der Zeit zeigten aber viele Verständnis dafür – auch deshalb, weil sie
sahen, dass es unseren Kindern gut ging und sie sich toll entwickelten.»
Martina Miedaner ärgert sich, dass sie für das, was sie machen, vom
Staat bestraft werden. «Dabei spart der Staat an den Freilernern und
Homeschoolern ordentlich Geld.» Die 37-jährige Mutter kämpft deshalb dafür,
dass ihr Modell zumindest gesellschaftlich anerkannt wird. «In erster Linie ist
es mir wichtig, dass Freilerner und Homeschooler nicht kriminalisiert werden.
Ein weiterer Schritt wäre, dass sie mit Schulgängern gleichgestellt wären und
zum Beispiel wie in Kanada einen Unkostenbeitrag erhielten, wenn die Kinder zu
Hause lernen: zum Beispiel für Bastelutensilien, Unterrichtsbücher oder
Computer.»
Dass Eltern ihre Kinder reihenweise aus der Schule nehmen würden, wenn
es keine Schulpflicht und gar Anreize dazu gäbe, glauben die Freilerner-Eltern
nicht. Michael Miedaner erklärt: «In Kanada, wo Homeschooling seit Langem
erlaubt ist, schickt die absolute Mehrheit der Eltern ihre Kinder noch zur
Schule.»
Oft müssten sie sich anhören, sie seien gegen die Schule. «Das stimmt
aber überhaupt nicht. Für viele Familien stellt die Schule ein wichtiges
Bildungsangebot zur Verfügung.» Seiner Meinung nach sollte man sich aber
grundlegende Gedanken darüber machen, wie Bildung in der heutigen Zeit aussehen
soll. Zum Beispiel müssten die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und
Hirnforschung mehr als Basis dienen.
Hat der Sekundarlehrer keine Angst, dass seine Kinder zu Hause etwas
verpassen? «Es ist nicht so schlimm, wenn Nico nicht weiss, dass Napoleon anno
so und so eine Schlacht gewonnen hat. Das kann er auch später noch lernen, wenn
es ihn interessiert.»
Der Neunjährige hat derweil Arbeitshose und Gummistiefel angezogen und
sägt im Garten an einem Brett. Über dem Birsig hat er mit Pfählen eine Hütte
gebaut. «Da ist er voll in seinem Element», sagt der Vater. Nico wird bis am
Nachmittag alleine hämmern und sägen. Bis sein Freund von der Schule heimkommt.
Dann werden sie zu zweit weiterbauen.
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