Im politischen Diskurs um die Berufsbildung fällt eines auf: Es sind vor allem Akademiker, die zur Berufsbildung vermeintlich gute Ratschläge erteilen. Widerspruch ist angebracht, wenn man die Berufslehre retten will.
Die
Macht des Mittelmasses, NZZ, 30.11. von Claudia Wirz
In der OECD liebt man den Standard, böse Zungen könnten
auch sagen: das Mittelmass. Gut ist, was ins Schema passt. Alles andere muss
reformiert werden. Harmonisierung und Standardisierung sind das Leitmotiv
dieser permanent tagenden Konferenz, an der 35 Mitgliedstaaten mitmachen und
3200 Sekretariatsmitarbeiter mit einem Jahresbudget von 363 Mio. Fr. rund 250
Berichte und Publikationen verfassen und Ratschläge erteilen. Der Reformdruck,
den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etwa
auf die Bildungssysteme der Länder ausübt, ist massiv.
Den OECD-Experten
verdanken wir zum Beispiel das Konzept der Kompetenzorientierung in der
Volksschule im Rahmen des Lehrplans 21. Dieses wiederum ist eng verknüpft mit
dem Pisa-Test, dem Medienstar unter den OECD-Inputs. In regelmässigen Abständen
misst dieser Test weltweit standardisierte Fähigkeiten von Schülerinnen und
Schülern. Regelmässig wird der Test mit grossem Medienecho und
pflichtschuldigem Aktivismus belohnt, obschon er bei vielen Wissenschaftern
höchst umstritten ist, ja gar als schädlich betrachtet wird.
Pisa messe vor allem die
Fähigkeit, den Pisa-Test zu lösen, betonen die Kritiker. Die Bildungsfrage
werde darauf reduziert, was bei einem fragwürdigen Test rauskomme. «Teaching to
the test», nennt man das im Jargon der Kritiker. Gemeint ist damit, dass
solchermassen unterwiesene Schüler keinen echten und schon gar keinen
bleibenden Bezug zum Gelernten herstellen können.
Die Kritik ist durchaus
angebracht. Ausgerechnet bei jenen Ländern, die die OECD-Reformempfehlungen im
Bildungsbereich am besten umgesetzt haben, zeigen sich ökonomische Schwächen.
In Finnland, ehedem das schillernde Pisa-Wunderland, das allen anderen Vorbild
sein sollte, liegt die Jugendarbeitslosigkeit mit über 20% deutlich über dem
Durchschnitt der OECD-Länder, ganz im Gegensatz zur Schweiz.
Doch von solchen Dingen
lässt man sich bei der OECD nicht beeindrucken, im Gegenteil. Schon folgt der
nächste Streich. In ihrem jüngsten wirtschaftlichen Länderbericht zur Schweiz
verlautbart die Organisation, die gemäss eigenen Angaben «nachhaltiges
Wirtschaftswachstum» fördert, die Berufsbildung in der Schweiz sei
verbesserungswürdig. Zwar wird konstatiert, dass das Bildungssystem in der
Schweiz erfolgreich sei und die Jugendarbeitslosigkeit gering. Gleichwohl
brauche es Reformen. Diese Reformvorschläge laufen alle in eine Richtung: Die
Berufslehre brauche mehr akademische Inhalte, und überhaupt sei eine höhere Akademikerpopulation
anzustreben.
Dieser Befund sagt vor
allem zwei Dinge aus: Die Schweiz mit ihrem dualen Berufsbildungssystem und der
vergleichsweise niedrigen gymnasialen Maturitätsquote passt nicht ins
OECD-Standardschema. Jedenfalls zeigt diese Forderung, dass die Experten der
OECD die Schweizer Berufslehre nicht verstanden haben. Es sind nicht die
Gedankenspiele von Fachleuten aus hochfliegenden Institutionen, die den Erfolg
des Berufsbildungssystems ausmachen. Dieser Erfolg ist vielmehr Expertise und
Engagement «von unten» zu verdanken, namentlich Unternehmen, die auf dem Markt
arbeiten und ihn aus eigener Erfahrung kennen. Zu hoffen ist nur, dass die
jüngsten OECD-Ratschläge zur Schweizer Berufslehre nicht in einem monströsen
Regulierungswahn enden, so wie es ohne Not beim Lehrplan 21 mit seinen 4000
Kompetenzen geschehen ist.
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