Stunde
der Wahrheit: Vergleichsstudien bescheinigen deutschen Grundschülern schlechtes
Lesevermögen und mangelnde Schreibkenntnisse. Auch Schweizer Schulen sind
gefordert.
Reformen statt Fortschritt, journal21.ch, 12.12. von Carl Bossard
Jedes
fünfte Viertklass-Kind in Deutschland kann nicht richtig lesen; das zeigt die
neue Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU. (1) Seit 2001 stagnieren
die Leseleistungen. Andere Länder wurden besser und überholten Deutschland. In
den Bereichen Rechnen, Schreiben und Zuhören seien sogar „signifikant negative
Trends zu verzeichnen“, schreiben die Studienautoren eines weiteren
Vergleichstests. (2) „Bankrotterklärung für Grundschulen“, lautet das Fazit in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ. Gar von „Schule im Niedergang“ ist die
Rede. (3) Ein beunruhigender, ja blamabler Befund. Er lässt aufhorchen, denn er
sei „schlicht und ergreifend eine einzige Schande“, so der verantwortliche
Studienleiter.
Reformen führen nicht an die Spitze
Auffallend
ist die Korrelation zwischen ungenügenden Grundkenntnissen und besonders
reformfreudigen Bundesländern. Dramatisch zeigt sich der Leistungseinbruch bei
den Grundschülern in Baden-Württemberg. Das einstige Bildungsvorzeigeland hat
seine Schulen gründlich reformiert. Heute platziert es sich nur noch knapp vor
den Stadtstaaten Berlin und Bremen; sie bilden das Schlusslicht im Ranking der
deutschen Schulsysteme. Die bildungskonservativen Bundesländer Bayern oder
Sachsen dagegen liegen an der Spitze. (4)
Kaspar Hausers heimliche Rückkehr
Das
schlechte Ergebnis lässt sich nicht monokausal erklären – und auch nicht mit
der zunehmenden Heterogenität durch die Immigration. Doch es hat seine Gründe:
Basiskönnen wie verstehendes Lesen, kohärentes, grammatikalisch wie
orthografisch korrektes Schreiben und intensives Rechnen kamen in den
vergangenen Jahren an vielen Schulen zu kurz, ebenso nachhaltiges Üben und
Festigen.
Dazu
kommt, dass sich Kinder heute in Lernateliers und auf Lernparcours vieles
selber aneignen müssen: selbstorientiert und interessengesteuert in der Art von
Autodidakten. Dabei werden die soziale Dimension des Unterrichts und der Wert
des pädagogischen Bezugs zur Lehrperson vergessen. Heutige Schulkinder sind
Lerner, Lernorganisator und Lernevaluator in Personalunion: moderne Kaspar
Hauser-Figuren – oft auf sich allein gestellt und selbstverantwortlich für ihr
Lernen.
Die Schriftsprache lautgetreu selber lernen
Deutschlands
Schüler stagnieren beim Lesen auf mässigem Niveau und fallen beim Schreiben
deutlich zurück. Als besonders problematisch erwiesen sich die neuen, angeblich
„genialen“ Unterrichtsmethoden des Sprachenlernens. Jahrelang wurden im
deutschsprachigen Raum viele Kinder mit dem Konzept „Schreiben nach Gehör"
alphabetisiert, wissenschaftlich „Lesen durch Schreiben“ genannt.
Entwickelt
hat dieses lautgetreue Schreiben der Schweizer Pädagoge Jürgen Reichen
(1939–2009). Schüler können sich die Schriftsprache selber erarbeiten, ähnlich
wie Kleinkinder das Laufen und Sprechen erlernen, lautete Reichens
apodiktisches Credo. Sein Programm basiert auf einer sogenannten Anlauttabelle,
dem „Buchstabentor“. Ein passendes Bildchen illustriert jeden Buchstaben. Ein
Fisch zum Beispiel steht für das „F“. Das Konzept lässt die Kinder das
Schreiben individuell und nach eigenem Tempo lernen. Selbstgesteuert und in
Lernwerkstätten.
Mit
Hilfe dieses Buchstabentors setzen sich die Schüler „alle Wörter der Welt“ aus
Lauten zusammen. Will ein Kind etwa „Ballon“ schreiben, murmelt es die
einzelnen Laute vor sich hin und sucht die Buchstaben aus den Bildchen der
Tabelle zusammen: das „B“ von der Banane, das „A“ vom Affen und so weiter. Die
Abc-Schützen schreiben nach Gehör – wie sie es vom Klang der Worte her für
korrekt halten, eben: lautgetreu. Auf die Orthografie müssen sie keine
Rücksicht nehmen. Vielleicht entsteht so das Wörtlein „balon“ oder nach drei
bis vier Unterrichtsjahren ein Sätzlein wie: „Du kanst gut tenis spilen.“
Absolute Fehlertoleranz
Die
Freude am freien Fabulieren ist oberstes Prinzip. Dabei sollen die Kinder nicht
gestört werden. Niemand darf eingreifen. Wortschatz und Grammatik werden nicht
beachtet. Fehlerhafte Formen gehören dazu. Sie würden sich später korrigieren;
das Korrekte komme automatisch, so Reichens Annahme. Auch das Lesen soll sich
dann von alleine einstellen.
Reichens
Konzept wurde erst vor zwei, drei Jahren auf seine Wirkung hin untersucht. „Die
Ergebnisse sind katastrophal, eigentlich müsste ‚Lesen durch Schreiben‘ sofort
verboten werden“, urteilte der emeritierte Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen
Oelkers. Lautsprache und Schriftsprache sind eben zwei ganz verschiedene
Systeme. Besonders benachteiligt, und das ist das Unsoziale, sind
fremdsprachige Schüler und Kinder ohne Elternhilfe. Das lautgetreue Schreiben
sei „keine Methode, sondern unterlassene Hilfeleistung“, schrieb die FAZ und
ergänzte: „Wie eine solche haarsträubende Methode flächendeckend Eingang in die
Grundschulen finden konnte, bleibt ein Rätsel.“ (5)
Wer nicht schreiben kann, hat Mühe mit Lesen
Doch
ist es letztlich entscheidend, ob es nun „Ballon“ oder „balon“ heisst? Leben
wir nicht in Zeiten von Korrekturprogrammen und
Facebook-Twitter-Blog-Kommunikation? Wer so fragt, verkennt, wie wichtig
korrektes Schreiben ist. Es geht um mehr als das „ck“ oder das Dehnungs-h, es
geht um mehr als richtiges und rasches Recherchieren im Internet, um mehr als
eine soziale „Visitenkarte“; es geht letztlich auch ums Lesen.
Wer
nicht weiss, wie man schreibt, hat Mühe mit Lesen. Er muss zeitraubend
entziffern und bleibt auf der Ebene des Worterkennens stecken – und damit
letztlich Analphabet. Wie so manche.
Systemversagen
Ob’s
ums Lesen und Schreiben der Schweizer Kinder besser bestellt ist? Eine Studie
der Universität Freiburg von 2016 lässt daran zweifeln. (6) Wer genau hinsieht
und die Lehrmeister in den Betrieben fragt, weiss es schon lange: Viele
Schulabgänger zeigen eklatante Schwächen im Fach Deutsch sowohl bei der
Textkohärenz wie in Orthografie und Grammatik. „Viele KV-Bewerber bringen nicht
den gewünschten Schulrucksack mit“, heisst es beim Ausbildungsverbund Aprentas.
2017 schieden zwei Drittel der Lehrlingsanwärter aus; sie erfüllten die
Qualifikationen nicht. (7)
Dass
jeder Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen
Grundkenntnisse verlässt, ist schlicht ein „Systemversagen“, wie es Stefan C.
Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung,
auf den Punkt bringt. Und er fügt hinzu: „Bei einer durchschnittlichen
Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis
drei Schüler pro Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.“
Überholte pädagogische Reformen überprüfen
In
Baden-Württemberg, dem einstigen Bildungsspitzenreiter unter den deutschen
Bundesländern, führten die Ergebnisse zu kontroversen schulpolitischen
Debatten. Dort wurde das Konzept „Schreiben nach Gehör“ bereits abgeschafft –
wie vielerorts in Deutschland. Die Verantwortlichen handeln.
Wie
wenig sich die Schweizer Erziehungsdirektoren um diese Problematik kümmern,
zeigt beispielsweise die Reaktion des St. Galler Bildungsdirektors nach einem
Gespräch mit kantonalen Wirtschaftsvertretern. Sie beklagten die mangelnden
Deutschkenntnisse der Schulabgänger. Bis zu fünfzig Prozent der Bewerber
bestehen den Eignungstest zur Stadtpolizei der St. Gallen nicht. Sie scheitern
an der Muttersprache. Die Bildungsdirektion, so die Antwort, werde „die
Deutschkenntnisse gezielt fördern“ – und mit einer „neuen Generation adaptiver
Lernfördersysteme“ reagieren. (8)
Vom
Überprüfen modischer Methoden stand kein Wort. Zu gutem Deutsch gelangt man
nicht auf diesem Weg. Da ist mehr zu tun.
(1)
Anke Hussmann et al. (Hrsg.): IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern
in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann Verlag 2017. Die
Schweiz nahm an dieser Vergleichsstudie nicht teil.
(2)
Petra Stanat et al. (Hrsg.): IQB-Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern
Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten
Ländervergleich. Münster: Waxmann Verlag 2017. Diese Vergleichsstudie gilt als
deutsches Pendant zur internationalen Pisa-Studie.
(3)
Regina Mönch: Schule im Niedergang. In: FAZ, 7. Dez. 2017, Nr. 284, S. 11.
(4)
Bundesweites Bildungsniveau. Grundschüler schlechter in Mathe und Deutsch. In:
Spiegel Online, 10. 12. 1017
(5) Uta
Rasche: Orthographie in Schulen: Schraibm nach gehöa. In: Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung, 1. März 2015, Nr. 9, S.10.
(6)
Sabine Kuster: Schweizer Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche und
österreichische. In: Aargauer Zeitung, 10. Aug. 2016.
(7)
Franziska Pfister: Mangel an KV-Lehrlingen nimmt zu. In: NZZaS, 18. Juni 2017,
Nr. 35, S. 29.
(8)
Firmenchefs fordern besseres Deutsch. In: Wiler Zeitung, 4. Dez. 2017.
Von all den vielen Sünden ist die Untätigkeit im Bereich Lesen wohl die schwerwiegendste. Hier sollte, könnte, müsste man doch dringend handeln. Das Problem ist ja seit Jahren identifiziert. Nur geschieht halt nichts. In der Primar hat man Platz geschaffen für die Fremdsprachen, die ihrerseits auf einer hohen muttersprachlichen Kompetenz beruhen. Weiss jemand, wie verbreitet die Methode "Schreiben nach Gehör" in der Schweiz ist?
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