11. Dezember 2017

Mille feuilles missachtet Grundprinzipien des Lernens

Wie Thomas Dähler in seinem Beitrag «Frühfranzösisch-Flop wird korrigiert» festhält, sind die Ergebnisse nach sechs Jahren Fremdsprachenunterricht mit den Passepartout-Lehrmitteln «Mille feuilles», «Clin d’oeil» und «New World» enttäuschend. Nun sollen die Bände umgearbeitet werden, und anschliessend wird noch mehr Ergänzungsmaterial zur Verfügung stehen. Ob dies aber weiterhilft, ist fraglich. Warum?
«Mille feuilles» – Theorie gegen Vernunft, Basler Zeitung, 11.12. von Felix Schmutz

Man setzte Hoffnungen in Erkenntnisse, die eine andere Ausrichtung des Unterrichts verlangten, und stützte sich im Wesentlichen auf zwei Hypothesen. Die eine stammt von Stephen Krashen (1982): Der Aufbau eines Sprachlehrgangs, sagt Krashen, habe keinen Einfluss auf das Lernen der Fremdsprache, denn der Spracherwerb folge einer «fixen angeborenen Reihenfolge». Was auch immer Lehrpersonen den Lernenden vorsetzten, deren Gehirn picke sich das heraus, was dieser Reihenfolge gerade entspreche. Daher verwende man keine schrittweise aufbauenden Materialien mehr, sondern nur noch «authentische Texte» und tauche ins «Sprachbad» ein. Daraus konstruierten sich Kinder und Jugendliche ganz von selbst die Sprache. Plausibel an dieser Theorie ist nur, dass sich Sprachenlernen in Stufen vollzieht, die allerdings individuell stark differieren. Empirisch widerlegt ist die Behauptung, dass sich der Spracherwerb nicht durch Unterricht systematisch lenken, aufbauen und beschleunigen liesse.

Die zweite Hypothese nimmt an, die Kenntnis einer Sprache beeinflusse das Lernen weiterer Sprachen (Mehrsprachigkeitsdidaktik, Meissner 1998). Dass dies zutrifft, wird kaum jemand bestreiten. Allerdings ist sehr umstritten, wie genau diese Beziehungen zwischen den Sprachen spielen und wie sich das im Unterricht nutzen lässt, um das Lernen zu erleichtern. Hauptsächlich vier Ideen leiten die Didaktiker von Passepartout dennoch aus der Mehrsprachigkeit ab: 

1. Wortschatz- und Strukturvergleiche zwischen Sprachen sollen Ähnlichkeiten und Unterschiede aufdecken und zum gleichzeitigen Erwerb mehrerer Sprachen dienen.

2. Lernende entwickeln eine vorläufige «Zwischensprache», die sich allmählich automatisch zur Zielsprache hin perfektioniert. Deshalb sei Fehlerkorrektur unnötig.

3. Erschliessungsstrategien erleichterten das Verständnis schwieriger Texte.

4. Es genüge, wenn man alle Sprachen der Spur nach könne oder sie ein bisschen vermische, also eine «funktionale Mehrsprachigkeit» erreiche.

Hier fällt zunächst die Kopflastigkeit ins Auge: Wie sollen Unerfahrene ohne linguistische Kenntnisse Sprachvergleiche beim Sprechen und Lesen anstellen, Analysen vornehmen oder Strategieraster durchexerzieren? Zweitens ist Mehrsprachigkeit von individuellen Faktoren abhängig, sodass es heikel ist, auf allgemeine Gesetzmässigkeiten zu schliessen. Drittens bekommt Fehlermachen eine Art Kultstatus: Dass man aber elementare Fehler, die man sich angewöhnt hat, nur noch mit allergrösster Anstrengung wieder loswird, erfährt jeder Mensch nicht nur beim Sprachenlernen. Viertens vernachlässigt die funktionale Mehrsprachigkeit, dass jede Sprache ihre eigene identitätsstiftende Denkart und Weltsicht vermittelt, die nicht mechanisch in eine andere umzuwandeln ist, wenn man sie nicht einebnen und ihrer Eigenart berauben will.

Die obigen Hypothesen werden in den Passepartout-Lehrmitteln doktrinär umgesetzt: kein Aufbau vom Einfachen zum Schwierigen, sperrige Texte, beliebiger Wortschatz, Seiten voller Sprechblasen mit Strategien, trockene Listen von Wörtern und Wendungen ohne Dialogmuster, eine verwirrende Vielfalt von Texten, Bildern, Rastern, die über mehrere Medien verzettelt sind, eine nicht zu bewältigende Materialfülle, schwierige Anwendungsaufgaben, wenig Übungen.

Damit missachtet Passepartout Grundtatsachen des Lernens. Andere moderne Lehrmittel der letzten Jahre sind übersichtlicher und folgen in etwa den «10 Prinzipien eines angeleiteten Sprachenlernens» (Ten Principles of Instructed Language Learning, 2005) von Rod Ellis, der das bisher gesicherte Erfahrungswissen zusammengefasst hat und ein breites Spektrum an Methoden empfiehlt.

Trotz des offensichtlichen Misserfolgs schalten die Verantwortlichen auf stur. Das zeigen nachgelieferte Materialien, wie zum Beispiel die Grammatik, bei der Primarschulkinder Französisch mit Suaheli, Arabisch, Finnisch, Dari, Kantonesisch und zirka 30 weiteren Sprachen vergleichen sollen, um Dinge wie die Verneinung oder die Zahlen zu lernen. Entgegen aller Vernunft wird das abwegige Konzept beibehalten. Anstatt noch mehr Geld in ein verunglücktes Projekt zu stecken, empfiehlt sich ein abrupter Abbruch des Experiments. Das würde die Möglichkeit bieten, schnell auf geeignetere Lehrmittel umzusteigen und erfolgreichere Methoden anzuwenden.

Felix Schmutz war bis zur Pensionierung 2011 während 38 Jahren Lehrer für Deutsch, Französisch und Englisch an der Sekundarstufe I in Basel; Mitarbeit an Lehrplanreformen und Tätigkeit in der Lehrerausbildung als Dozent für Deutschdidaktik an der Universität Basel.


1 Kommentar:

  1. Ich finde die Überarbeitung der Lehrmittel eigentlich eine Frechheit und besonders unfair gegenüber den anderen Bewerbern, welche von Beginn an brauchbare Lehrmittel konzipiert hatten. Hier muss die Notbremse gezogen werden, wie es seinerzeit der Kanton Zürich mit dem völlig verunglückten Explorers-Primarenglischlehrmittel (10 Millionen in den Sand gesetzt) getan hat.

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