Wilde Kinder, ruhige
Kinder, laute Kinder, stille Kinder, behinderte Kinder: Sie alle werden heute
in derselben Schulklasse unterrichtet. Seit gut 13 Jahren ist das so oder
spätestens seit 2010, seit beim Basler Beitritt zum Sonderpädagogik-Konkordat
die Klein- und Sonderklassen Schritt für Schritt abgeschafft wurden.
Als das
Erziehungsdepartement (ED) unter alt Regierungsrat Christoph Eymann (LDP) die
Umsetzung der integrativen Schule ankündigte, beschlich die Lehrerschaft ein
ungutes Gefühl. Die komplette Integration von verhaltensauffälligen Kindern
werde einen Zusatzaufwand mit sich bringen, dem sie nicht gewachsen seien,
prophezeite ein Teil der Pädagogen damals mit tatkräftiger Unterstützung des
Verbands des Personals der öffentlichen Dienste (VPOD).
Das Leiden der Lehrer, Basler Zeitung, 12.11. von Serkan Abrecht
Doch hatte
die Einführung der integrativen Schule und die Abschaffung der Kleinklassen
tatsächlich einen negativen Einfluss auf den Alltag der Pädagogen? Schweizweit
schweigen die Erziehungsdirektionen zu diesem Thema. Öffentlicher Diskurs
findet kaum mehr statt. Eine Umfrage der interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik bringt nun etwas Licht ins Dunkel – und sorgt für Gesprächsstoff.
Fehlende Unterstützung
Die Schule
hat bei ihrer Umfrage 27 Klassen aus den Kantonen Zürich, St. Gallen und Schwyz
befragt. Die Klassen meldeten sich alle freiwillig, was die Studie nicht
repräsentativ macht. Doch ihre Resultate lassen aufhorchen. Gemäss dem
Tages-Anzeiger, dem die Studie vorliegt, erfüllt von 429 Kindern ein Drittel
der nicht-förderbedürftigen und zwei Drittel der förderbedürftigen Schüler in
Leistungstests das Minimalniveau in Mathematik und Deutsch nicht. Das heisst,
dass auch die «normalen» Kinder in ihrer Leistung abfallen.
Während die
befragten Kinder angaben, in ihren Klassen glücklich zu sein, reklamierten fast
70 Prozent der Lehrkräfte, dass ihnen die notwendigen Ressourcen für die
angemessene Unterstützung der Kinder nicht zur Verfügung stünden. Grund für die
Unzufriedenheit der Pädagogen: Es fehle an den notwendigen Heilpädagogen,
welche die Lehrer bei der Betreuung der förderungsbedürftigen Kinder
unterstützen. Vor diesem Missstand fürchteten sich damals auch die Basler
Lehrkräfte.
«In Basel
haben wir mindestens den gleichen Prozentwert an überforderten Lehrkräften wie
in den drei befragten Kantonen», sagt alt Grossrätin Heidi Mück (BastA!). Sie
kämpfte ab 2010 an vorderster Front gegen die Abschaffung der Klein- und
Sonderklassen. Mück unterrichtete selber in Kleinklassen und war
Bildungssekretärin im VPOD. «Seit der Abschaffung der Kleinklassen in Basel
hatten wir sehr viele Beschwerden von Lehrkräften, die aufgrund der
integrativen Massnahmen in ihrem Job überlastet sind. Ich gehe deshalb davon
aus, dass in Basel die gleichen Zustände wie in Zürich, St. Gallen und Schwyz
herrschen», sagt Mück.
Gewerkschaft will
Entlastung
Dass die
hiesigen Lehrkräfte tatsächlich zu wenig Unterstützung erhalten, sagt auch
Kerstin Wenk (SP). Sie ist Mücks Nachfolgerin als Bildungssekretärin des VPOD.
«Es fehlt an konstanter Unterstützung für die Lehrkräfte; zum Beispiel durch
die Heilpädagogen oder andere Massnahmen», sagt Wenk. Heutzutage müssten die
Lehrpersonen auf die Schülerinnen und Schüler individuell eingehen, sie
unterschiedlich fördern und schauen, dass alle ihre Lernziele erreichen, was
diese zusätzlich belaste. «Auch die zunehmenden Klassengrössen in den Basler
Schulhäusern machen den Alltag für die Lehrer nicht einfacher», so Wenk.
Ihre und
Mücks Aussagen bestätigen auch Lehrkräfte, mit denen die BaZ gesprochen hat. Da
das Erziehungsdepartement (ED) aktiv versucht, seinem Lehrpersonal zu
verbieten, mit der Presse zu sprechen – diverse Beispiele aus Basler
Primarschulhäusern in den vergangenen Wochen unterstreichen diese Haltung –
möchten sie anonym bleiben. Unabhängig voneinander zeichnen die Lehrkräfte
dasselbe Bild: Ein chronischer Mangel an Heilpädagogen führe zu stetiger
Überbelastung.
«Ich hatte
beispielsweise eine Klasse mit drei besonders verhaltensauffälligen Kindern,
die den Schulunterricht derart störten, dass sie die Leistung der anderen
Schüler beeinflussten. Eigentlich hätte ich für diese Schüler einen
Heilpädagogen gebraucht, der mir bei der Betreuung hilft», erklärt ein Lehrer.
Da in seinem
Schulhaus aber zu wenig Heilpädagogen vorhanden waren, konnte der Beauftragte
in seiner Klasse nur knapp zwei Stunden pro Woche anwesend sein. Eine Kollegin
von ihm hätte dasselbe Problem gehabt, es der Schulleitung gemeldet und um mehr
Unterstützung gebeten. Geschehen sei nichts. «Ein Jahr später war meine
Kollegin mit einem Burn-out krankgeschrieben.»
Der VPOD
werde sich wegen solcher Fälle mit dem Thema Klassengrössen, Teamteaching und
weiteren Formen der Entlastung befassen, kündigt Kerstin Wenk an. «Wir brauchen
dringendst Entlastungsmassnahmen für die Basler Lehrkräfte.»
Der ehemalige
Erziehungsdirektor und Nationalrat Christoph Eymann (LDP) unterstreicht, dass
man zwingend an der integrativen Schule festhalten müsse. «Für die Lehrer muss
der aufgebrachte Aufwand aber auch leistbar sein. Sollte dies nicht der Fall
sein, braucht es Massnahmen. Sei es eine Verkleinerung von betroffenen Klassen
oder zusätzliches, pädagogisches Personal für die Betreuung der Kinder.»
Keine Kleinklassen
Auf Anfrage
beim Erziehungsdepartement (ED) meldet sich Volksschulleiter Dieter Baur. Er
konstatiert, dass das ED weiterhin «separative Angebote» in Form von
«Spezialangeboten» bereitstellen würde. Im Gegensatz zu den Kleinklassen seien
diese jedoch nur temporär. Weiter sagt Baur, dass man keine Studie zum
Unterrichtseinfluss von verhaltensauffälligen Kindern durchgeführt habe und
dies auch nicht tun werde. Grund: «Das wäre methodisch sehr fragwürdig.
Verhaltensauffälligkeit ist keine Diagnose, sondern eine Folge verschiedenster
Ursachen, die schwer messbar sind.» Dass die integrative Schule sein Lehrpersonal
strapaziert, wisse er.
Man habe über
die Zeit diverse Beschwerden erhalten. «Doch das hat es schon immer gegeben»,
sagt der Volksschulleiter. «Das ist ein belastendes Thema, dem wir grosse
Aufmerksamkeit widmen und für dessen Bewältigung wir auch sehr viele Ressourcen
bereitstellen.» Jedoch sollten solche Probleme in den teilautonomen Schulen vor
Ort gelöst werden. Von einer Wiedereinführung der Sonder- und Kleinklassen will
das ED nichts wissen.
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