Die
Digitalisierung der Bildung ist zurzeit das grosse Thema, wenn es um die
«Schule von morgen» geht. Im «Beobachter» vom 18. August konnte man lesen, die
Zukunft der Schule sei digital, Lernen beginne dort, wo Lehren aufhöre. Vor
diesem Hintergrund werden in den einzelnen Kantonen ganze Schulhäuser digital
aufgerüstet; Millionen fliessen in die Anschaffung teurer Hard- und Software.
Die mächtigen gewinnorientierten Bildungskonzerne drängen in die Schulen, weil
sie das grosse Geschäft mit der Digitalisierung wittern. Die öffentliche
Bildung droht zu einer privaten Geldquelle zu verkommen. Und dies umso mehr,
als die Investition von Millionenbeträgen in die Informatikbildung von den
Regierungen ausschliesslich mit wirtschaftlichen Argumenten begründet wird,
während pädagogische, psychologische, kindermedizinische und staatspolitische
Überlegungen vollkommen fehlen.
Verkommt die Schule zur digitalen Diktatur?, Thurgauer Zeitung, 4.12. von Mario Andreotti
Gegen den
Einsatz digitaler Medien in unseren Schulen ist im Grunde nichts einzuwenden.
Aber sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden, sondern haben als Hilfsmittel
vielmehr unterrichtspraktischen und pädagogischen Zielsetzungen zu dienen. Doch
hier liegt das Problem. Die Digitalisierung der Bildung wird heute von
Bildungsforschern und Politikern ähnlich unreflektiert angepriesen wie
seinerzeit die Globalisierung, von der wir nach zwanzig Jahren wissen, welch
enorme soziale und kulturelle Schäden sie verursacht hat. Es ist zu befürchten,
dass mit der Digitalisierung unserer Schulen Ähnliches passiert.
Die
digitalen Medien ermöglichten individuelles Lernen und könnten deshalb optimal
auf die eigenen Lernschritte und die Erfolgskurve abgestimmt werden. So die
Befürworter der Digitalisierung, die für die Schule radikale Veränderungen
fordern. Die Klasse als soziales Ganzes gerät bei dieser völligen
Individualisierung des Unterrichts ganz aus dem Blick. Gefördert werden nicht
mehr junge Menschen, die rücksichtsvoll miteinander umgehen, die lernen,
gegenüber der Gemeinschaft Verantwortung zu tragen, gefördert werden vielmehr
Individualisten, die in einer virtuellen Parallelwelt leben und dabei die für
das Bestehen ihres wirklichen Lebens notwendigen sozialen Kompetenzen kaum noch
entwickeln. Lernen in der Schule geschieht in einer Wechselbeziehung zwischen
Lehrern und Schülern. Die Digitalisierung der Bildung weist aber in eine ganz
andere Richtung: Die Lehrkräfte wer-den durch Computerprogramme und das
Internet ersetzt, werden zu Coachs herabgestuft, die den Schülern bei der
Handhabung der Computer bestenfalls noch Hilfestellung leisten dürfen. Das ist
billiger und vor allem für die auf Profit ausgerichteten IT-Konzerne
einträglicher. Die Frage ist nur, ob sich die künftigen Lehrerinnen und Lehrer
mit der Rolle des reinen Lernbegleiters begnügen wollen.
Es ist
längst kein Geheimnis mehr, dass vor allem junge Männer den Lehrerberuf
zunehmend meiden. Offenbar hat sich das Bild der Lehrerpersönlichkeit bei der
jungen Generation stark gewandelt. Die Vorstellung, als Lehrerin oder Lehrer
für eine Klasse voll verantwortlich zu sein, wird abgelöst vom Bild des
Mannschaftsspielers, der im Team mit andern Lehrkräften die Schüler durch
individuelle Lernprogramme hetzt, «damit sie die gewünschten standardisierten
Tests bestehen, die anstelle der Lehrpersonen die promotionswirksame
Beurteilung übernehmen», wie Jürg Brühlmann vom Lehrer-Dachverband schreibt.
Das kommt einer schleichenden Entmündigung der Lehrkräfte gleich. Und das
Ergebnis: Der Lehrermangel, der heute schon akut ist, wird sich noch zuspitzen,
zumal in den nächsten Jahren die Schülerzahlen in der Schweiz auf Rekordwerte
steigen.
Keine
Frage: IT-Techniken und ihre Handhabung sollen im Schulunterricht thematisiert
werden. Das Problem beginnt dort, wo dies völlig unreflektiert, kritiklos
geschieht, wo der digitale Unterricht zu einem industriellen Betrieb verkommt,
in dem die Interaktion zwischen Lehrern und Schülern nicht mehr spielt. Halten
wir uns eines vor Augen: Wie gut die Schule funktioniert, hängt auch in Zukunft
von tüchtigen Lehrerinnen und Lehrern ab – und nicht vom Computer.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen