Im Kanton Luzern werden
grundsätzlich alle Kinder in der Regelschule integriert. Jene, die negativ
auffallen, können zwar in eine Sonderschule versetzt werden. Doch das kann
Jahre dauern.
Robin und 150 andere Schüler machen Lehrern das Leben schwer, Luzerner Zeitung, 24.11. von Yasmin Kunz
Nennen wir ihn Robin.
Irgendwo im Kanton Luzern besucht er derzeit die zweite Sekundarklasse. Doch
zum Lernen ist Robin nicht da. Der Bub hält sich an keine Vereinbarungen,
versäumt jegliche Termine und ist gegenüber Lehrpersonen respektlos. Auch
ausserhalb der Schule fällt Robin negativ auf. Ein Fall für die Regelschule?
Mitnichten, könnte man meinen. Der 14-Jährige gehört in eine Sonderschule, da
sind sich Lehrer, Schulleitung und Sozialpädagogen einig. Intern und extern hat
man diverse Sondermassnahmen durchgeführt – allesamt sind sie gescheitert.
Vorübergehend wurde das Kind gar von der Schule suspendiert. Etliche Gespräche
mit allen Beteiligten haben schon stattgefunden. Der Jugendliche sitzt heute
immer noch in der Regelklasse.
Kein Wunder ist Robins Klassenlehrer
frustriert: «Was muss passieren, damit endlich Massnahmen ergriffen werden?»
Obwohl der Lehrer, der schon einige Jahre Erfahrung aufweist, das integrative
Schulmodell generell begrüsst, sieht er auch dessen Grenzen. «Es muss möglich
sein, solche Querulanten aus der regulären Schule zu entlassen – zu Gunsten
des Schülers, der Mitschüler, der Lehrer, der Schulsozialarbeiter.» Der
Pädagoge betont, das Wohlergehen des Schülers liege ihm am Herzen, aber er
könne es nicht verantworten, ihn zu unterrichten, «weil die normale Schule für
ihn das falsche Umfeld ist. Er kann nichts profitieren.» Robin ist nun seit
ungefähr 1½ Jahren in dieser Klasse. Die Schwierigkeiten mit ihm waren von
Anfang an da, haben sich mit der Zeit allerdings akzentuiert. Schon in der
sechsten Primarklasse war der Schüler negativ aufgefallen, wie der jetzige
Klassenlehrer weiss.
Antrag
erst nach psychologischer Abklärung
Für solche Szenarien hat
man im Kanton Luzern einen Massnahmenkatalog mit klar definierter
Vorgehensweise. Charles Vincent, Leiter der kantonalen Dienststelle
Volksschulbildung, sagt: «Wenn alle Massnahmen der Regelschule und auch eine
Auszeit in der Time-out-Klasse getroffen wurden und sich nichts bessert, kann
die Schulleitung bei uns gestützt auf eine schulpsychologische Abklärung einen
Antrag auf Sonderschulung stellen.» Dabei muss der Fall allerdings genau
dokumentiert sein. Will heissen: Alle Bemühungen müssen von der Schulleitung
schriftlich dargelegt werden.
Zudem ist es von
Vorteil, wenn die Eltern oder die Erziehungsberechtigten mit dem Vorhaben
einverstanden sind. Doch auch wenn dies nicht der Fall ist, könne sich die
Dienststelle für eine Sonderschulung entscheiden, sagt Vincent.
Pro Jahr gehen bei der
Dienststelle Volksschulbildung aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten wie bei
Robin rund 150 Anträge zur Prüfung einer Sonderschulung ein. Bei einer
Gesamtschülerzahl von rund 40000 sind das weniger als 0,5 Prozent. Bei ganz
wenigen Verfügungen komme es zu Beschwerden, wie Vincent sagt. Dies sei vor
allem dann der Fall, wenn das Kind für die Sonderschulung in ein Internat soll.
Die Sonderschule
Mariazell in Sursee und das Schul- und Wohnzentrum in Malters sind die zwei
grössten privaten Sonderschulinstitutionen im Kanton Luzern, die
verhaltensauffällige Kinder aufnehmen. Die Plätze dort seien allerdings auf
insgesamt 200 beschränkt «und derzeit ausgelastet», ergänzt Vincent.
Neben der Sonderschulung
gibt es seit knapp fünf Jahren für alle Regelklassen die Integrative Förderung
(IF). Mit diesem System werden insbesondere lernbehinderte Kinder unterstützt,
die früher in den Kleinklassen untergebracht waren. Aber auch hochbegabte
Schüler werden im Einzelfall gefördert. Im Jahr 2015 hat man das integrative
Schulmodell erstmals im Rahmen der regulären Schulevaluation untersucht. Aus
den Ergebnissen ging damals hervor, dass die Integration in 40 Prozent aller
Luzerner Schulen nicht ausreichend institutionell geregelt ist (wir
berichteten). Gegenüber unserer Zeitung erwähnte der Leiter der Evaluation
dazumal die steigende Zahl schwieriger Schüler. Darunter fallen etwa
hyperaktive Kinder oder Kinder wie Robin, die mit ihrem respektlosen Verhalten
Grenzen überschreiten.
Langer
Weg bis zur Versetzung
Der Kanton lässt die Integrative
Förderung als System im Hinblick auf die Überprüfung des Sonderschulkonzepts
demnächst von der Universität Zürich erneut untersuchen, wie Charles Vincent
sagt.
Selbst wenn die
Integration in gewissen Fällen nicht klappt: Vincent ist überzeugt vom
integrativen Schulsystem. «Viele Kinder und Jugendliche können mit dieser
Unterstützung im normalen Rahmen einer Regelklasse gut gefördert werden und
müssen nicht separiert werden.» Dem pflichtet auch Annamarie Bürkli,
Präsidentin des Luzerner Lehrerinnen- und Lehrerverbands (LLV), bei. Sie
betont jedoch auch die Grenzen des Systems: «Wenn die Regelschule für Kinder
nicht geeignet ist, müssen Alternativen geprüft werden.» Das Prozedere dauert
jeweils lange, wie Bürkli aus eigener Erfahrung weiss. Darum kann sie auch den
Frust jener Lehrpersonen nachvollziehen, die einen solchen Fall betreuen.
«Solche Abklärungen rauben viel Energie.» Dennoch: Ein schnelleres Verfahren
ist unrealistisch: «Versetzungen in eine Sonderschule müssen seriös untersucht
werden.»
Die lange Dauer wird
auch von Robins Lehrer bemängelt. «Schwierig wird es vor allem dann, wenn die
Schulleitung mit dem Antrag an die Dienststelle zuwartet.»
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