23. November 2017

Pilotstudie zur Integration

Verhaltensauffällige, behinderte und lernschwache Schüler: Sie alle werden heute nicht mehr in Sonder- und Kleinklassen unterrichtet, sondern wenn immer möglich in die Regelschule integriert. Das Behindertengleichstellungsgesetz und vielerorts auch die Volksschulgesetze verpflichten die Kantone seit 2004 dazu. Dafür erhalten die Klassenlehrer lektionenweise Unterstützung von Heilpädagogen.
Integrationsklassen schneiden bei Leistungstests schlecht ab, Tages Anzeiger, 22.11. von Raphaela Birrer


Die Lehrerschaft ächzt seit Jahren unter der Last dieses politischen Auftrags, der den Unterricht teilweise massiv erschwere. Doch ihre Klagen fanden bislang wenig Gehör – auch weil Daten fehlten, die eine Bilanz der Reform ermöglicht hätten. Nun zeigt eine Pilotstudie erstmals auf, wie sich die integrativen Regelklassen auf die Leistungen und das Verhalten der Schüler auswirken – auf jene mit und jene ohne besonderen Förderbedarf. Im Fokus standen dabei die Qualität des Unterrichts, die individuelle Förderung und das Befinden der Schüler.

Ein Drittel ist förderbedürftig
Die Untersuchung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, die dieser Zeitung vorliegt, umfasst 27 Mittelstufe-Klassen aus den Kantonen Zürich, St. Gallen und Schwyz. Sie meldeten sich freiwillig für das Projekt, weshalb die Stichprobe nicht repräsentativ ist. Fast jedes dritte der 429 Kinder wurde zu einem der drei Messzeitpunkte im Schuljahr 2016 mit individuellen Massnahmen in den Bereichen Lernen und Verhalten unterstützt. Daneben ist auch ein ­Förderbedarf in den Bereichen Deutsch für Fremdsprachige, Logopädie und Psychomotorik verbreitet.

Mittels Leistungstests und Befragungen von Schülern, Lehrern, Heilpädagogen und Eltern kommt die Studie zu drei Kernbefunden:

Integration: Alle Kinder verbleiben im Untersuchungszeitraum in der Regelklasse. Beide Schülergruppen geben an, sich in ihrer Klasse wohlzufühlen; die Lehrer beurteilen das Klima negativer.

Verhalten: Problematische Verhaltensweisen in den Klassen bleiben konstant oder nehmen ab. Kinder mit besonderem Förderbedarf haben mehr Verhaltensprobleme als Schüler ohne. Die Studie weist zudem eine Wechselwirkung zwischen der Einschätzung der Verhaltensprobleme durch die Lehrer und dem tatsächlichen Verhalten der Schüler nach. Konkret: Ist die Lehrperson pessimistisch bezüglich der Lern- und Verhaltensfortschritte eines Schülers, tritt die negative Entwicklung eher ein.

Leistung: Ein Drittel der nicht förderbedürftigen und zwei Drittel der förderbedürftigen Schüler erreichen in den standardisierten Cockpit-Leistungstests das Minimalniveau in Mathematik und Deutsch nicht. Damit schneiden die Kinder schlechter ab als die repräsentative Stichprobe von 500 Schülern, an der die Tests geeicht wurden. Gleichzeitig haben die meisten förderbedürftigen Schüler eine genügende Zeugnisnote (Mathe: zwei Drittel, Deutsch: drei Viertel). Bei den nicht Förderbedürftigen sind es fast alle.
Daraus folgert Projektleiterin Simona Altmeyer, es gelinge «weitgehend, Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gut zu integrieren, aber nur teilweise, diese auch gut zu qualifizieren». Unerwartet ist für die Forscherin die Diskrepanz zwischen der Lehrer- und der Kinderbeurteilung: Lehrer und Heilpädagogen schätzten die soziale und leistungsbezogene Integration dieser Schüler «deutlich problematischer ein als die Kinder selber», sagt sie. Als Lösung schlägt Altmeyer Weiterbildungen vor, «um die Lehrer für die Wirkung zu sensibilisieren, die ihre Einschätzungen auf die Entwicklung der Schüler haben». Denn die Lehrperson sei der Schlüsselfaktor für den Schulerfolg der Kinder.

Lehrer wehren sich
Dagegen wehrt sich Franziska Peterhans vom Lehrerdachverband (LCH): «Es ist geradezu zynisch, den Lehrern die Schuld zuzuschieben. Sie müssen diese anspruchsvolle Aufgabe unter oft völlig ungenügenden Bedingungen erfüllen», sagt sie. So würden die Klassenlehrer zum Beispiel nur für gewisse Stunden von Heilpädagogen unterstützt, die sich um die Kinder mit besonderen Bedürfnissen kümmern. Und in jedem zweiten Fall verfüge diese Person nicht einmal über ein entsprechendes Diplom. Stattdessen setzten die Gemeinden zum Teil gar auf Schulassistenten ohne pädagogische Ausbildung. Dazu komme, dass die Kantone just bei der Bildung sparten. «Unter diesen Umständen sehe ich schwarz für den Erfolg der Integration», sagt Peterhans.

Diese Probleme widerspiegeln sich auch in der Studie: Zwei Drittel der 80 befragten Lehrer und Heilpädagogen gaben an, ihnen stünden nicht genügend Ressourcen für eine angemessene Unterstützung aller Kinder zur Verfügung. Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbands (VSLCH), warnt deshalb vor überzogenen Erwartungen an die schulische Integration: «Allein mit etwas Weiterbildung der Lehrer ist es nicht ­getan. Damit die Integration gelingt, braucht es ein klares gesellschaftliches Bekenntnis sowie ausreichend personelle und fachliche Ressourcen.»

Dass auch die Schüler ohne besonderen Förderbedarf bei den Leistungstests unterdurchschnittlich abschneiden, macht die Experten hellhörig. Wirkt sich die Integration auf das Niveau der gesamten Klasse aus? Oder liegt es daran, dass sich vor allem jene Klassen für die Studie meldeten, die grössere Probleme haben? Zweiteres ist laut Studienautorin Altmeyer nicht ausgeschlossen.

Leistung oder Integration?
Grundsätzlich gelten aber die Cockpit-Leistungstests als aussagekräftiges Instrument, da sie an allen Schulen regelmässig durchgeführt werden und den Lehrern als Standortbestimmung dienen. Dass trotzdem viele Schüler eine genügende Zeugnisnote erreichen, führt die Forscherin auf den Kontext zurück: Lehrer vergeben die Noten im Vergleich zu den anderen Schülern in der Klasse. Studien belegen das – Noten stimmen häufig schlecht mit den Ergebnissen von Leistungstests überein.

Auch Lehrer und Schulleiter interpretieren die Resultate der Leistungstests in der Studie vorsichtig. Gemäss Gertsch könnten sie auch auf mangelnde Motivation zurückzuführen sein. «Wenn ein Test keine Noten gibt, fehlt vielen Schülern der Anreiz, eine gute Leistung zu erbringen.» Peterhans wertet den Befund als Indiz für ein Grundproblem der integrativen Förderung: «Die Schule hat den Auftrag, zu fördern, aber auch zu selektionieren. Die Selektion steht teilweise im Widerspruch zur integrativen Förderung. Was soll also höher gewichtet werden: Leistung oder Integration?»

Weil die Frage vorerst offenbleibt, dürften sich sowohl Verfechter als auch Kritiker der Reform durch die Studie ­bestätigt sehen.


1 Kommentar:

  1. Keine Experimente mit unseren Kindern!

    ("Integrationsklassen schneiden bei Leistungstests schlecht ab", Tagesanzeiger vom 22.11.2017)

    Schon vor längerer Zeit hat die Universität Tübingen in einer Studie festgestellt, dass das Konzept Totalintegration in der Praxis untauglich ist. Die Frankfurter Allgemeine sprach gar von einem pädagogischen Himmelfahrtskommando. Völlig verantwortungslos ist, dass diese flächendeckende Systemänderung nicht zuerst in der Praxis bei einzelnen Versuchsschulen ausprobiert wurde und dass sie nicht vorgängig wissenschaftlich überprüft wurde, was natürlich auch für den Paradigmawechsel "Lehrplan 21" gilt. Gemäss UN Behindertenkonvention (Artikel 24 Bildung) dürfen Menschen mit Behinderungen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Integration bedeutet folglich innerhalb, Separation ausserhalb der unentgeltlichen und obligatorischen Volksschule. Die bewährten Sonderschulen und Kleinklassen sind demzufolge mit der UN Behindertenkonvention völlig kompatibel, da sie unter dem Dach der Volksschule allgemein zugänglich sind. Die Totalintegration in die Regelklasse, wie sie von Bildungsdirektoren und -politikern von oben durchgesetzt wurde, ist keine Forderung der UN Behindertenkonvention. Wenn heute die totale „Integration“ als das gute, neue System hochstilisiert wird und „Separation“ geradezu als Unwort verdammt wird, hat das rein politisch-ideologische Gründe und dient den behinderten und den nicht-behinderten Kindern in keiner Weise.

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