Verhaltensauffällige, behinderte und lernschwache Schüler: Sie alle
werden heute nicht mehr in Sonder- und Kleinklassen unterrichtet, sondern wenn
immer möglich in die Regelschule integriert. Das
Behindertengleichstellungsgesetz und vielerorts auch die Volksschulgesetze
verpflichten die Kantone seit 2004 dazu. Dafür erhalten die Klassenlehrer
lektionenweise Unterstützung von Heilpädagogen.
Integrationsklassen schneiden bei Leistungstests schlecht ab, Tages Anzeiger, 22.11. von Raphaela Birrer
Die Lehrerschaft ächzt seit Jahren unter der Last dieses politischen
Auftrags, der den Unterricht teilweise massiv erschwere. Doch ihre Klagen
fanden bislang wenig Gehör – auch weil Daten fehlten, die eine Bilanz der
Reform ermöglicht hätten. Nun zeigt eine Pilotstudie erstmals auf, wie sich die
integrativen Regelklassen auf die Leistungen und das Verhalten der Schüler
auswirken – auf jene mit und jene ohne besonderen Förderbedarf. Im Fokus
standen dabei die Qualität des Unterrichts, die individuelle Förderung und das
Befinden der Schüler.
Ein Drittel ist förderbedürftig
Die Untersuchung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, die
dieser Zeitung vorliegt, umfasst 27 Mittelstufe-Klassen aus den Kantonen
Zürich, St. Gallen und Schwyz. Sie meldeten sich freiwillig für das Projekt,
weshalb die Stichprobe nicht repräsentativ ist. Fast jedes dritte der 429
Kinder wurde zu einem der drei Messzeitpunkte im Schuljahr 2016 mit
individuellen Massnahmen in den Bereichen Lernen und Verhalten unterstützt.
Daneben ist auch ein Förderbedarf in den Bereichen Deutsch für Fremdsprachige,
Logopädie und Psychomotorik verbreitet.
Mittels Leistungstests und Befragungen von Schülern, Lehrern,
Heilpädagogen und Eltern kommt die Studie zu drei Kernbefunden:
Integration: Alle Kinder verbleiben im Untersuchungszeitraum in der
Regelklasse. Beide Schülergruppen geben an, sich in ihrer Klasse wohlzufühlen;
die Lehrer beurteilen das Klima negativer.
Verhalten: Problematische Verhaltensweisen in den Klassen bleiben konstant
oder nehmen ab. Kinder mit besonderem Förderbedarf haben mehr
Verhaltensprobleme als Schüler ohne. Die Studie weist zudem eine Wechselwirkung
zwischen der Einschätzung der Verhaltensprobleme durch die Lehrer und dem
tatsächlichen Verhalten der Schüler nach. Konkret: Ist die Lehrperson
pessimistisch bezüglich der Lern- und Verhaltensfortschritte eines Schülers,
tritt die negative Entwicklung eher ein.
Leistung: Ein Drittel der nicht förderbedürftigen und zwei Drittel der
förderbedürftigen Schüler erreichen in den standardisierten
Cockpit-Leistungstests das Minimalniveau in Mathematik und Deutsch nicht. Damit
schneiden die Kinder schlechter ab als die repräsentative Stichprobe von 500
Schülern, an der die Tests geeicht wurden. Gleichzeitig haben die meisten
förderbedürftigen Schüler eine genügende Zeugnisnote (Mathe: zwei Drittel,
Deutsch: drei Viertel). Bei den nicht Förderbedürftigen sind es fast alle.
Daraus folgert Projektleiterin Simona Altmeyer, es gelinge «weitgehend,
Kinder mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gut zu integrieren, aber nur
teilweise, diese auch gut zu qualifizieren». Unerwartet ist für die Forscherin
die Diskrepanz zwischen der Lehrer- und der Kinderbeurteilung: Lehrer und
Heilpädagogen schätzten die soziale und leistungsbezogene Integration dieser
Schüler «deutlich problematischer ein als die Kinder selber», sagt sie. Als
Lösung schlägt Altmeyer Weiterbildungen vor, «um die Lehrer für die Wirkung zu
sensibilisieren, die ihre Einschätzungen auf die Entwicklung der Schüler
haben». Denn die Lehrperson sei der Schlüsselfaktor für den Schulerfolg der
Kinder.
Lehrer wehren sich
Dagegen wehrt sich Franziska Peterhans vom Lehrerdachverband (LCH): «Es
ist geradezu zynisch, den Lehrern die Schuld zuzuschieben. Sie müssen diese
anspruchsvolle Aufgabe unter oft völlig ungenügenden Bedingungen erfüllen»,
sagt sie. So würden die Klassenlehrer zum Beispiel nur für gewisse Stunden von
Heilpädagogen unterstützt, die sich um die Kinder mit besonderen Bedürfnissen
kümmern. Und in jedem zweiten Fall verfüge diese Person nicht einmal über ein
entsprechendes Diplom. Stattdessen setzten die Gemeinden zum Teil gar auf
Schulassistenten ohne pädagogische Ausbildung. Dazu komme, dass die Kantone
just bei der Bildung sparten. «Unter diesen Umständen sehe ich schwarz für den
Erfolg der Integration», sagt Peterhans.
Diese Probleme widerspiegeln sich auch in der Studie: Zwei Drittel der
80 befragten Lehrer und Heilpädagogen gaben an, ihnen stünden nicht genügend
Ressourcen für eine angemessene Unterstützung aller Kinder zur Verfügung.
Bernard Gertsch, Präsident des Schulleiterverbands (VSLCH), warnt deshalb vor
überzogenen Erwartungen an die schulische Integration: «Allein mit etwas
Weiterbildung der Lehrer ist es nicht getan. Damit die Integration gelingt,
braucht es ein klares gesellschaftliches Bekenntnis sowie ausreichend
personelle und fachliche Ressourcen.»
Dass auch die Schüler ohne besonderen Förderbedarf bei den
Leistungstests unterdurchschnittlich abschneiden, macht die Experten hellhörig.
Wirkt sich die Integration auf das Niveau der gesamten Klasse aus? Oder liegt
es daran, dass sich vor allem jene Klassen für die Studie meldeten, die
grössere Probleme haben? Zweiteres ist laut Studienautorin Altmeyer nicht
ausgeschlossen.
Leistung oder Integration?
Grundsätzlich gelten aber die Cockpit-Leistungstests als
aussagekräftiges Instrument, da sie an allen Schulen regelmässig durchgeführt
werden und den Lehrern als Standortbestimmung dienen. Dass trotzdem viele
Schüler eine genügende Zeugnisnote erreichen, führt die Forscherin auf den
Kontext zurück: Lehrer vergeben die Noten im Vergleich zu den anderen Schülern
in der Klasse. Studien belegen das – Noten stimmen häufig schlecht mit den Ergebnissen
von Leistungstests überein.
Auch Lehrer und Schulleiter interpretieren die Resultate der
Leistungstests in der Studie vorsichtig. Gemäss Gertsch könnten sie auch auf
mangelnde Motivation zurückzuführen sein. «Wenn ein Test keine Noten gibt,
fehlt vielen Schülern der Anreiz, eine gute Leistung zu erbringen.» Peterhans
wertet den Befund als Indiz für ein Grundproblem der integrativen Förderung:
«Die Schule hat den Auftrag, zu fördern, aber auch zu selektionieren. Die
Selektion steht teilweise im Widerspruch zur integrativen Förderung. Was soll
also höher gewichtet werden: Leistung oder Integration?»
Weil die Frage vorerst offenbleibt, dürften sich sowohl Verfechter als
auch Kritiker der Reform durch die Studie bestätigt sehen.
Keine Experimente mit unseren Kindern!
AntwortenLöschen("Integrationsklassen schneiden bei Leistungstests schlecht ab", Tagesanzeiger vom 22.11.2017)
Schon vor längerer Zeit hat die Universität Tübingen in einer Studie festgestellt, dass das Konzept Totalintegration in der Praxis untauglich ist. Die Frankfurter Allgemeine sprach gar von einem pädagogischen Himmelfahrtskommando. Völlig verantwortungslos ist, dass diese flächendeckende Systemänderung nicht zuerst in der Praxis bei einzelnen Versuchsschulen ausprobiert wurde und dass sie nicht vorgängig wissenschaftlich überprüft wurde, was natürlich auch für den Paradigmawechsel "Lehrplan 21" gilt. Gemäss UN Behindertenkonvention (Artikel 24 Bildung) dürfen Menschen mit Behinderungen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Integration bedeutet folglich innerhalb, Separation ausserhalb der unentgeltlichen und obligatorischen Volksschule. Die bewährten Sonderschulen und Kleinklassen sind demzufolge mit der UN Behindertenkonvention völlig kompatibel, da sie unter dem Dach der Volksschule allgemein zugänglich sind. Die Totalintegration in die Regelklasse, wie sie von Bildungsdirektoren und -politikern von oben durchgesetzt wurde, ist keine Forderung der UN Behindertenkonvention. Wenn heute die totale „Integration“ als das gute, neue System hochstilisiert wird und „Separation“ geradezu als Unwort verdammt wird, hat das rein politisch-ideologische Gründe und dient den behinderten und den nicht-behinderten Kindern in keiner Weise.