Platon
entwarf für den idealen Staat eine Regierungsform, in der die weisesten Bürger,
die Philosophen, den Ton angeben: eine Epistokratie. Im sozialen Klima nach der
Französischen Revolution aspirierte eine andere Berufsgruppe auf dieses Amt:
die Ingenieure. Philosophen wie Auguste Compte oder Henri de Saint-Simon
suchten das alte aristokratische System der Nepotismen und Standesprivilegien
durch eine neue Elite vom Tisch zu wischen: die Polytechniker. Die Idee der
Technokratie war geboren. Und sie übt ihren Einfluss bis heute aus. Gerade
heute, da Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook oder Apple eine noch kaum
ausgelotete Macht über uns ausüben. Im Kern dieser Macht stecken Algorithmen.
Deshalb wurde auch schon von einer Algokratie gesprochen.
Beherrschen uns Algorithmen wirklich? NZZ, 23.11. Gastkommentar von Eduard Kaeser
100 ungeordnete Socken
Aber worin besteht eigentlich diese Macht? Algorithmen sind Problemlösungsverfahren, die man auf kleine, geistlose Schritte herunterbrechen kann. Wir alle gehen in unserem Alltag dann und wann algorithmisch vor, das heisst: Wir lösen ein Problem Schritt für Schritt nach einer bestimmten Regel.
Angenommen,
ich will hundert ungeordnete Socken im Wäschetrockner zu Paaren ordnen und ich
wähle folgendes Verfahren: Zufällig eine Socke herausfischen, dann eine zweite.
Passen sie zusammen, lege ich sie weg; passen sie nicht zusammen, werfe ich die
zweite in die Trommel zurück und fische auf gut Glück eine andere heraus. Und
so weiter.
Das
Verfahren ist ein sogenannter Sortieralgorithmus. Er ist ziemlich dumm und
umständlich, im schlimmsten Fall muss ich die gezogene Socke mit 99 andern
vergleichen, bis ich das erste Paar gefunden habe. Dann führe ich mit den
restlichen 98 Socken die gleiche Prozedur durch: gezogene Socke mit 97 andern
Socken vergleichen. Und so weiter. Insgesamt müsste ich schlimmstenfalls über
2500 Mal Socken vergleichen, bis ich alle geordnet habe. Ich kann die Prozedur
verbessern, indem ich die Sockenmenge halbiere, und mit den Hälften dasselbe
Verfahren durchspiele. Immerhin hätte ich dann «nur» etwa 1300 Mal die Socken
zu vergleichen.
Das
banale Beispiel hebt bereits eine der kardinalen Aufgaben der Algorithmik
hervor: Effizienz, Abkürzung von Verfahren. Algorithmen sind wundervolle
Werkzeuge, sie bilden ein Universum des automatischen Geistes; und sie erweisen
sich auf den immensen Datenfeldern der Cloud als unentbehrlich. Je komplexer
ein Verfahren, desto wichtiger wird es, einen effizienten Algorithmus zu
finden. Algorithmen sind die Schürfmaschinen des digitalen Goldrausches. Aber
eben: Es handelt sich um Werkzeuge – um nicht mehr und nicht weniger.
Die
ökonomische und soziale Macht der Algorithmen – ausgehend vom Stellenwert der
Technologiegiganten, die sie einsetzen – ist unbestritten. Wir sollten
allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass sich diese Macht auch
beträchtlich der symbolischen Macht der Computermetapher verdankt. Ich hege den
Verdacht, dass viele Leute, die heute unentwegt das Wort «Algorithmus» im Munde
führen, im Grunde nicht oder nur diffus wissen, wovon sie sprechen. Und gerade
aufgrund seiner hippen Schwammigkeit hat sich das Wort zu seiner metaphorischen
Vormachtstellung aufschwingen können.
Algorithmen
werden zusehends undurchsichtiger. Sie zerfliessen zu einem «Code-Brei».
Wahrscheinlich verstehen die Algorithmen-Designer ihre Artefakte selber nicht
mehr vollständig. Sie schreiben einfach weitere Code-Schichten auf bereits
existierenden Code, so wie mittelalterliche Mönche auf bereits beschriebene
Pergamente neue Texte schrieben: Palimpseste.
Ich
sehe hier eine allgemeine Tendenz, sozusagen eine Kassation alter
aufklärerischer Ideale auf fortgeschrittener wissenschaftlich-technischer
Entwicklungshöhe. Ihre Undurchsichtigkeit verleiht Algorithmen eine fast
mystische Aura. Wir kippen ihnen gegenüber in eine Devotionshaltung – eine
Ironie sondergleichen: Während die Aufklärung die Potenz des rationalen Geistes
– verkörpert durch Naturwissenschaften und Technik – gegen die Mächte des
Glaubens und Aberglaubens richtete, pervertiert diese Potenz nun zur Idolatrie
der Technik.
Die
Computeringenieure sehen sich als Tempeldiener eines techno-theologischen
Kultus. Erst kürzlich hat Anthony Levandowski, Ingenieur bei Google und
Mitentwickler fahrerloser Autos, eine religiöse Vereinigung namens Way of the
Future gegründet, die sich der Verehrung einer «Gottheit basierend auf
künstlicher Intelligenz» verschreibt. Die Leute im Silicon Valley scheinen die
Warnung John McCarthys, eines der Pioniere auf dem Gebiet der künstlichen
Intelligenz, vergessen zu haben: «Wir müssen vorsichtig sein, Maschinen
Eigenschaften zuzuschreiben, die sie nicht haben. Der Mensch macht sich leicht
zum Narren, wenn es etwas gibt, woran er glauben will.»
Wie
alle Metaphern ist auch die Metapher des Algorithmus eine Karikatur.
Algorithmen sind allgegenwärtig, aber nicht alles. Betrachten wir Google Maps.
Selbstverständlich handelt es sich hier um eine Software für
Kartendienstleistung, aber Google Maps ist ein physisch-virtuelles Konglomerat.
Daran beteiligt sind geografische Informationssysteme, Satelliten und
Transponder, Sensoren auf Autos und Hausdächern, Smartphones, Routingsysteme
für Datennetzwerke, nicht zuletzt eine kleine Armee von menschlichen Operatoren
an Bildschirmen, die weltweit die Karten up to date halten.
Algorithmen
als Karikaturen zu bezeichnen, entzaubert sie. Indes bleiben sie mächtige
Instrumente, deren Macht grösstenteils darin besteht, andere Maschinen auf
abstrakter Ebene zu simulieren. Das ist die fundamentale Einsicht von Alan
Turing. Aber diese Fähigkeit kann uns zu sektiererischer Einäugigkeit und
metaphorischer Universalisierung verleiten: Alles ist «im Prinzip» ein
Computer.
Wir
kennen diesen Reduktionismus schon von der alten Maschine her: Der Mensch ist
«nichts als» eine Maschine. Er bestärkt eine Art von Techno-Fatalismus: Der
Vormarsch der Algorithmen ist unaufhaltsam. Wir beginnen alle sozialen und
kulturellen Veränderungen dem Einfluss der Technologie zuzuschreiben und
vergessen dabei, dass es «die» Technologie nicht gibt. Es gibt Menschen –
Ingenieure, Unternehmer, Investoren, Evangelisten der künstlichen Intelligenz
–, welche die Technologie zu ganz bestimmten Zwecken einsetzen – und
missbrauchen. Und vielen kommt es zupass, wenn die Nutzer ihrer Produkte in der
Herdenwärme einer lammfrommen Technikgläubigkeit verharren.
Ein Riesenzauber kehrt zurück
Beherrschen
uns die Algorithmen? Zweifellos wachsen sie in eine immer zentralere Rolle
hinein, auf fast allen sozialen Gebieten, in Medien, Politik, Wirtschaft,
Beruf, Schulen, Gefängnissen, Spitälern. Und eine Grundskepsis erscheint
angezeigt in einer Welt, die zunehmend von opaken Informationsströmen und
Algorithmen beherrscht wird.
Die
amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil gibt im Buch «Angriff der
Algorithmen» (2017) Einblicke in ein verstörendes Zeitphänomen: Ein
immaterielles Wettrüsten der Algorithmen findet statt, das für den Normalbürger
unsichtbar bleibt, ihn aber aufgrund von schlampiger Statistik,
voreingenommenen Modellen und einem fast gemeingefährlichen Vertrauen in
computergenerierte Entscheidungen als Kollateralopfer zurücklässt.
Aber
die künstliche Intelligenz der Algorithmen «greift» uns nicht «an». Vielmehr
macht sich in ihr ein Teil der menschlichen Intelligenz – nämlich der
automatisierbare – breiter und breiter. Einseitige Denkdiät. Max Weber sprach
von der Entzauberung der Welt durch wissenschaftliche und technische
Rationalität. Das Gegenteil ist heute der Fall. Ein Riesenzauber kehrt zurück,
in der Gestalt von Gadgets, die wir verehren, statt zu verstehen.
Was
uns wirklich zu beherrschen droht, ist ein neoprimitiver Technoanimismus, der
unsere Entscheidungsfähigkeit zersetzt und uns aus dem kollektiven Unbewussten
eines debil machenden Technikgebrauchs heraus steuert. Je entfesselter dieser
Gebrauch, desto stärker sind wir an ihn gefesselt. – Zeit, aufzuwachen.
Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer,
freier Publizist und Jazzmusiker tätig.
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