13. November 2017

Kleingeistiges Konkurrenzdenken der staatlichen Volksschule

Katja Christ stellt in ihrem Gastbeitrag «Wodie wahren Probleme liegen – unterforderte Kinder nützen unserem Schulsystemnichts» zu Recht infrage, ob bei umfassenden Vergleichsprüfungen wie den Pisa-Tests oder den multiplen (und schrecklich teuren) «Checks» wirklich das gemessen wird, was in der Schule wesentlich ist. Sie hat auch vollkommen recht, wenn sie es fragwürdig findet, Methoden aus der Betriebswirtschaft auf das Bildungswesen und die Schulen anzuwenden, wie es von der Bildungsbürokratie immer mehr gemacht wird. Sie hat nochmals recht, wenn sie den Leistungswahn bei den Jüngsten skandalös findet und feststellt, dass die flächendeckenden Vergleichstests und der Ausbau der Bildungsbürokratie Ressourcen abziehen, die man dringend für die wirklichen Bedürfnisse in den Schulen brauchte. Tolle Erkenntnisse einer Politikerin!
Wider den Leistungswahn, Basler Zeitung, 13.11. von Bernhard Bonjour

Doch dann packt sie anscheinend die Panik vor ihren eigenen Erkenntnissen: «Spätestens» ab der dritten Klasse findet sie den Leistungswahn plötzlich nicht mehr schlimm und verwechselt Leistung mit Leistungsmessung. Christ meint offenbar, wenn Kinder nicht vermessen würden, würden sie unterfordert. Das ist eine jämmerliche Vorstellung: Aus eigenem Antrieb, ohne Konkurrenzdenken, lernten Kinder nichts. Was für eine menschen- und kinderverachtende Einstellung! Von hier ist es nicht mehr weit bis zur – eigentlich unsäglichen, aber leider trotzdem ausgesprochenen – Aussage des Leiters der Volksschulen Basel-Stadt, Dieter Baur, Schulkinder brauchten Leistungsdruck genauso wie Spitzensportler.

Alternativschulen wie die Schule für Offenes Lernen (SOL) in Liestal kümmern sich sowohl um diejenigen Kinder, die am Leistungsdruck und an der Vermesserei und dem Wettbewerb in den Regelschulen zerbrechen, als auch um die Begabten, die sich in der Regelschule langweilen und die gleichen Symptome zeigen wie die Überforderten.

Diese Schulen zeigen, dass sich beide Schüler/Schülerinnen-Segmente (die Sensiblen und Verletzlichen und die sogenannten Hochbegabten) bestens fördern lassen, sodass beide ihre Talente und Stärken entfalten können, und zwar in einem Inklusions-Modell und einer Schulpraxis, die das Selbstvertrauen und die Selbstständigkeit und die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage pflegt. Das ist Ausschöpfung der Bildungsreserven und gleichzeitig Förderung der «Hochleister» (und übrigens auch der «Hochleisterinnen») und spart nebenbei enorme Kosten. Schülerinnen und Schüler, welchen man dies nie zugetraut hätte, können danach erfolgreich eine Lehre absolvieren und andere werden Spitzenschülerinnen und Spitzenschüler an den Gymnasien.

Frau Christ und alle, die das für nicht möglich halten, könnten sehen (wenn sie bereit wären, vorurteilslos hinzuschauen): Die SOL fordert (und erreicht) Leistung, ohne je eine Note auszustellen, das heisst, sie verzichtet von der 1. bis zur 9. Klasse konsequent darauf, einen Schüler, eine Schülerin mit einer anderen, einem anderen zu vergleichen. Und sie lebt dabei ihrem Leitgedanken nach: Schulzeit ist Lebenszeit, sich wohlzufühlen ist die Voraussetzung dafür, sinnvoll lernen zu können. Das versuchen selbstverständlich auch viele Lehrerinnen und Lehrer in den staatlichen Schulen zu verwirklichen, aber die Bildungsbürokratie und die Leitung der Volksschulen legen sich quer, und die politische Leitung wagt dummerweise nicht, das infrage zu stellen.

Die derzeitigen Leitungen der staatlichen Volksschule in beiden Halbkantonen wollen in ihrem kleingeistigen Konkurrenzdenken nichts wissen von den Erfahrungen, die Schulen wie die SOL machen. Es wäre hübsch, wenn wenigstens die Parlamentarier und die Parlamentarierinnen, die sich in die Schuldiskussion einmischen (was sehr erwünscht ist), sich informieren würden, «wo die wahren Probleme liegen».


Bernhard Bonjour aus Liestal ist Stiftungsratspräsident der Schule für offenes Lernen in Liestal und pensionierter Lehrer des Gymnasiums Muttenz.

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