Katja Christ stellt in ihrem Gastbeitrag «Wodie wahren Probleme liegen – unterforderte Kinder nützen unserem Schulsystemnichts» zu Recht infrage, ob bei umfassenden Vergleichsprüfungen wie den
Pisa-Tests oder den multiplen (und schrecklich teuren) «Checks» wirklich das
gemessen wird, was in der Schule wesentlich ist. Sie hat auch vollkommen recht,
wenn sie es fragwürdig findet, Methoden aus der Betriebswirtschaft auf das
Bildungswesen und die Schulen anzuwenden, wie es von der Bildungsbürokratie
immer mehr gemacht wird. Sie hat nochmals recht, wenn sie den Leistungswahn bei
den Jüngsten skandalös findet und feststellt, dass die flächendeckenden
Vergleichstests und der Ausbau der Bildungsbürokratie Ressourcen abziehen, die
man dringend für die wirklichen Bedürfnisse in den Schulen brauchte. Tolle
Erkenntnisse einer Politikerin!
Wider den Leistungswahn, Basler Zeitung, 13.11. von Bernhard Bonjour
Doch
dann packt sie anscheinend die Panik vor ihren eigenen Erkenntnissen:
«Spätestens» ab der dritten Klasse findet sie den Leistungswahn plötzlich nicht
mehr schlimm und verwechselt Leistung mit Leistungsmessung. Christ meint
offenbar, wenn Kinder nicht vermessen würden, würden sie unterfordert. Das ist
eine jämmerliche Vorstellung: Aus eigenem Antrieb, ohne Konkurrenzdenken, lernten
Kinder nichts. Was für eine menschen- und kinderverachtende Einstellung! Von
hier ist es nicht mehr weit bis zur – eigentlich unsäglichen, aber leider
trotzdem ausgesprochenen – Aussage des Leiters der Volksschulen Basel-Stadt,
Dieter Baur, Schulkinder brauchten Leistungsdruck genauso wie Spitzensportler.
Alternativschulen
wie die Schule für Offenes Lernen (SOL) in Liestal kümmern sich sowohl um
diejenigen Kinder, die am Leistungsdruck und an der Vermesserei und dem
Wettbewerb in den Regelschulen zerbrechen, als auch um die Begabten, die sich
in der Regelschule langweilen und die gleichen Symptome zeigen wie die
Überforderten.
Diese
Schulen zeigen, dass sich beide Schüler/Schülerinnen-Segmente (die Sensiblen
und Verletzlichen und die sogenannten Hochbegabten) bestens fördern lassen,
sodass beide ihre Talente und Stärken entfalten können, und zwar in einem
Inklusions-Modell und einer Schulpraxis, die das Selbstvertrauen und die
Selbstständigkeit und die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage pflegt. Das ist Ausschöpfung
der Bildungsreserven und gleichzeitig Förderung der «Hochleister» (und übrigens
auch der «Hochleisterinnen») und spart nebenbei enorme Kosten. Schülerinnen und
Schüler, welchen man dies nie zugetraut hätte, können danach erfolgreich eine
Lehre absolvieren und andere werden Spitzenschülerinnen und Spitzenschüler an
den Gymnasien.
Frau
Christ und alle, die das für nicht möglich halten, könnten sehen (wenn sie
bereit wären, vorurteilslos hinzuschauen): Die SOL fordert (und erreicht)
Leistung, ohne je eine Note auszustellen, das heisst, sie verzichtet von der 1.
bis zur 9. Klasse konsequent darauf, einen Schüler, eine Schülerin mit einer
anderen, einem anderen zu vergleichen. Und sie lebt dabei ihrem Leitgedanken
nach: Schulzeit ist Lebenszeit, sich wohlzufühlen ist die Voraussetzung dafür,
sinnvoll lernen zu können. Das versuchen selbstverständlich auch viele
Lehrerinnen und Lehrer in den staatlichen Schulen zu verwirklichen, aber die
Bildungsbürokratie und die Leitung der Volksschulen legen sich quer, und die
politische Leitung wagt dummerweise nicht, das infrage zu stellen.
Die
derzeitigen Leitungen der staatlichen Volksschule in beiden Halbkantonen wollen
in ihrem kleingeistigen Konkurrenzdenken nichts wissen von den Erfahrungen, die
Schulen wie die SOL machen. Es wäre hübsch, wenn wenigstens die Parlamentarier
und die Parlamentarierinnen, die sich in die Schuldiskussion einmischen (was
sehr erwünscht ist), sich informieren würden, «wo die wahren Probleme liegen».
Bernhard
Bonjour aus Liestal ist Stiftungsratspräsident der Schule für offenes Lernen in
Liestal und pensionierter Lehrer des Gymnasiums Muttenz.
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