13. November 2017

Klare Zunahme von Cybermobbing

Jürg Forster, Leiter schulpsychologischer Dienst Stadt Zürich, über den Wandel in der Volksschule
«Dauerhaftes Schulschwänzen ist oft ein Tabu», NZZ, 13.11. von Rebekka  Haefeli


Herr Forster, Ende Monat gehen Sie in Pension. Wenn Sie auf die letzten 23 Jahre im schulpsychologischen Dienst zurückblicken: Gibt es einen Fall, der Sie besonders erschüttert hat?
Ich erinnere mich an einen Jugendlichen, der schon im Kindergarten und in der Primarschule immer wieder Lernschwierigkeiten hatte. Ich habe ihn über viele Jahre begleitet. Seine Probleme waren auf eine vorgeburtliche Schädigung zurückzuführen; seine Mutter hatte während der Schwangerschaft viel Alkohol getrunken. In der Schule gab es ein Gerede, nur der Jugendliche selber wusste nichts davon. Ich habe die Mutter, die ihre Alkoholsucht überwunden hatte, dazu motiviert, es ihm zu sagen. Dieser Moment war sehr schwierig. Der Jugendliche war enttäuscht und traurig. Ihm wurde klar, dass er gewisse Ziele nie erreichen würde, und nun kannte er den Grund dafür. Die Mutter hingegen empfand es als Entlastung, ihrem Sohn endlich die Wahrheit gesagt zu haben.

Es gibt Fälle wie diesen, die sich im Stillen abspielen. Andere schlagen Wellen in der Öffentlichkeit wie kürzlich Berichte über Mobbing und den Suizid einer Schülerin. Haben Sie Ähnliches erlebt?
Cybermobbing, also Mobbing im Internet mittels Handy und Computer, hat ganz klar zugenommen. Es beschäftigt uns; allerdings nicht täglich. Mobbing in den Klassen hat man heute besser unter Kontrolle, weil die Lehrpersonen auf einen respektvollen Umgang und ein gutes Schulklima Wert legen. Aber in der Freizeit können weder die Eltern noch die Schule kontrollieren, wie Schüler übers Internet kommunizieren. Die Gefahr, dass Einzelne auf fiese Art unter Druck gesetzt werden, ist da. Zum Glück gibt es nur selten Suizide von Jugendlichen; aber jeder ist einer zu viel.

Stellen Sie fest, dass die Verbreitung von Smartphones und Computern in den Schulen etwas Grundsätzliches verändert hat?
Die Befürchtung, dass sich die Jugendlichen zunehmend isolieren, wenn sie mit ihrem Handy beschäftigt sind, hat sich in meinen Augen nicht bewahrheitet. Schülerinnen und Schüler, die sich gern übers Internet austauschen, sind auch im persönlichen Umgang kommunikativ. Ich habe sogar den Eindruck, dass Jugendliche, die sich eher schwertun mit sozialen Kontakten, im Internet eine neue Plattform finden. Ich sehe darin eine Chance. Aber natürlich gibt es Auswüchse wie Mobbing.

Haben Sie Erfahrungen mit Kindern, die eine Bildschirm- oder Onlinesucht entwickeln und dadurch die Schule vernachlässigen?
Ja, das gibt es, vor allem im Zusammenhang mit wiederholtem und dauerhaftem Schulschwänzen. Es gibt einzelne Jugendliche, vor allem auf der Sekundarstufe, die sich über längere Zeit weigern, zur Schule zu gehen. Nicht selten sind das Schülerinnen oder Schüler, die sich daheim isolieren, sich in ihrem Zimmer einschliessen und ihre Kontakte übers Internet pflegen oder sich den ganzen Tag mit Computerspielen beschäftigen. Manchmal entwickeln sie auch körperliche Beschwerden, sie leiden unter Schmerzen oder unter Übelkeit, so dass ihnen der Arzt ein Zeugnis ausstellt.

Wie kann der schulpsychologische Dienst dauerhaftem Schulschwänzen entgegenwirken?
Je länger ein Jugendlicher der Schule fernbleibt, desto schwieriger wird es für ihn, den Schritt zurück zu machen. Darum versuchen wir, möglichst schnell alle Beteiligten wie Schüler, Eltern und Lehrer zusammenzubringen. Erst kürzlich habe ich von einer Schule in der Stadt Zürich gehört, die Hausbesuche organisiert, wenn Kinder nicht zur Schule gekommen sind. Eine Lehrperson oder die Schulleiterin besucht die Kinder daheim und erkundigt sich nach dem Grund ihrer Absenz. Manchmal liegen die Jugendlichen noch verschlafen im Bett, aber das Signal ist klar: Sie gehören zur Gemeinschaft der Schule.

Wie häufig kommt es vor, dass Kinder während einer längeren Dauer die Schule schwänzen?
Das ist schwer zu sagen, es gibt keine verlässlichen Zahlen. Das liegt daran, dass die Absenzen nicht einheitlich erfasst werden. Dauerhaftes Schulschwänzen von Jugendlichen ist oft ein Tabu. Bei den Eltern kommen Selbstzweifel auf, und auch Schulen haben Mühe, damit umzugehen. Wenn ein Kind nicht zur Schule gehen will, kann das verschiedene Gründe haben. Manche haben das Gefühl, vom Lehrer oder von anderen Kindern schlecht behandelt zu werden. Für andere ist die Schule ein Ort, wo sie keine Erfolgserlebnisse haben. Sie fürchten sich etwa vor schlechten Noten. Die Eltern fühlen sich häufig machtlos und haben schon vieles versucht, bevor der schulpsychologische Dienst hinzugezogen wird.

Wir haben nun eher über Ausnahmen geredet. Welches sind denn die häufigsten Schwierigkeiten, mit denen der schulpsychologische Dienst heute konfrontiert ist?
Wir sind am meisten mit Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten konfrontiert. Das heisst konkret, dass ein Kind zum Beispiel schlecht aufpassen kann, andere Kinder stört, sich respektlos benimmt. Verhaltensauffälligkeiten kommen nicht selten bei einem schlechten Einvernehmen zwischen Schule und Eltern vor. Die Kinder spielen die Lehrperson und die Eltern unter Umständen gegeneinander aus, wenn sie merken, dass die Eltern mit dem Lehrer nicht einverstanden sind. Wir werden dann als aussenstehende Stelle hinzugezogen, die alle Beteiligten an einen Tisch bringt und Lösungen vorschlägt, die das Kind weiterbringen. Wir verstehen uns nicht als die rechte Hand der Schulbehörden, sondern als Beratungsstelle für Eltern und Schule. Eltern können sich mit ihren Anliegen auch direkt an uns wenden.

Man hört allenthalben, in der Stadt Zürich erhalte jedes zweite Schulkind eine Stütz- oder Fördermassnahme; es werde keine Abweichung vom Durchschnitt mehr toleriert. Die Rede ist von einer Art Therapiewahn . . .
Das habe ich auch schon gehört. Ich würde nicht sagen, dass übermässig viel therapiert wird. Man soll Massnahmen gezielt einsetzen und sie auch wieder beenden, wenn es sie nicht mehr braucht. Die Volksschule bietet die unterschiedlichsten Unterstützungen an, darunter etwa Logopädie, Psychomotorik, in gewissen Fällen auch Psychotherapie. Der personelle Aufwand für diese Massnahmen ist durch eine kantonale Verordnung kontingentiert, es gibt also eine Grenze nach oben. Wir vom schulpsychologischen Dienst sehen uns in der Rolle des Vermittlers; wir führen Abklärungen durch und geben Empfehlungen ab für Unterstützungsmassnahmen. Ausserdem fördert die Volksschule nicht nur die schwächeren, sondern auch besonders begabte Kinder.

Bis zur Einführung des neuen Volksschulgesetzes 2006 gab es Kleinklassen. Diese wurden abgeschafft, und man setzte auf Integration. Gewisse Eltern, aber auch Lehrer beklagen, das Konzept sei gescheitert. Wie sehen Sie das?
Die Reform in der Volksschule hat einschneidende und in meinen Augen wichtige Neuerungen gebracht; unter anderem wurde die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in den Regelklassen vorangetrieben. Es ist zugegebenermassen nicht einfach, mit Schülerinnen und Schülern zu arbeiten, die grosse Förderbedürfnisse haben. Der Aufwand ist erheblich, lohnt sich aber mittelfristig. Das zeigen Erfahrungen im In- und Ausland.

Wir haben von Überbetreuung gesprochen. Gibt es auch unterbetreute Kinder?
Ja, es gibt Eltern, die gar nichts von Unterstützung wissen wollen und unser Engagement als Einmischung in ihre privaten Angelegenheiten betrachten. Die Schule hat in diesen Fällen kaum eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, es sei denn, das Kindswohl sei gefährdet. Dann kann unsere Empfehlung bis zu Kindesschutzmassnahmen führen, so dass das Kind zum Beispiel vorübergehend in ein Heim kommt. Dies kann manchmal auch gegen den Willen der Eltern geschehen.

Wurden Sie von Eltern einmal persönlich angegriffen?
Vor 20 Jahren habe ich meine private Telefonnummer aus dem Telefonbuch entfernen lassen, weil ich von einem Vater bedroht wurde und meine Familie schützen wollte. Es ging um eine Fünftklässlerin, die ihrer Lehrerin erzählt hatte, sie wolle nicht mehr nach Hause, da sie geschlagen werde.

Ist der Leistungsdruck in der Schule in den letzten 23 Jahren gestiegen?
Der Druck auf die Lehrer ist sicher gewachsen. Die Eltern sind zu Partnern der Schule geworden und wollen mitreden, was in einzelnen Fällen zu Konflikten führen kann. Es gibt auch solche, die ihre Kinder überschätzen. Sie setzen unter Umständen grosse Hoffnungen in ihr Kind. Insofern ist manchmal auch der Leistungsdruck, dem die Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind, hoch. Dazu kommt der Druck, nach der Volksschule eine gute Lehrstelle zu finden oder den Übertritt ans Gymnasium zu schaffen.

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