Jürg Forster, Leiter schulpsychologischer Dienst
Stadt Zürich, über den Wandel in der Volksschule
«Dauerhaftes Schulschwänzen ist oft ein Tabu», NZZ, 13.11. von Rebekka Haefeli
Herr Forster, Ende Monat gehen Sie in Pension. Wenn
Sie auf die letzten 23 Jahre im schulpsychologischen Dienst zurückblicken: Gibt
es einen Fall, der Sie besonders erschüttert hat?
Ich erinnere mich an einen Jugendlichen, der schon
im Kindergarten und in der Primarschule immer wieder Lernschwierigkeiten hatte.
Ich habe ihn über viele Jahre begleitet. Seine Probleme waren auf eine
vorgeburtliche Schädigung zurückzuführen; seine Mutter hatte während der
Schwangerschaft viel Alkohol getrunken. In der Schule gab es ein Gerede, nur
der Jugendliche selber wusste nichts davon. Ich habe die Mutter, die ihre
Alkoholsucht überwunden hatte, dazu motiviert, es ihm zu sagen. Dieser Moment
war sehr schwierig. Der Jugendliche war enttäuscht und traurig. Ihm wurde klar,
dass er gewisse Ziele nie erreichen würde, und nun kannte er den Grund dafür.
Die Mutter hingegen empfand es als Entlastung, ihrem Sohn endlich die Wahrheit
gesagt zu haben.
Es gibt Fälle wie diesen, die sich im Stillen
abspielen. Andere schlagen Wellen in der Öffentlichkeit wie kürzlich Berichte
über Mobbing und den Suizid einer Schülerin. Haben Sie Ähnliches erlebt?
Cybermobbing, also Mobbing im Internet mittels
Handy und Computer, hat ganz klar zugenommen. Es beschäftigt uns; allerdings
nicht täglich. Mobbing in den Klassen hat man heute besser unter Kontrolle,
weil die Lehrpersonen auf einen respektvollen Umgang und ein gutes Schulklima
Wert legen. Aber in der Freizeit können weder die Eltern noch die Schule
kontrollieren, wie Schüler übers Internet kommunizieren. Die Gefahr, dass
Einzelne auf fiese Art unter Druck gesetzt werden, ist da. Zum Glück gibt es
nur selten Suizide von Jugendlichen; aber jeder ist einer zu viel.
Stellen Sie fest, dass die Verbreitung von
Smartphones und Computern in den Schulen etwas Grundsätzliches verändert hat?
Die Befürchtung, dass sich die Jugendlichen
zunehmend isolieren, wenn sie mit ihrem Handy beschäftigt sind, hat sich in
meinen Augen nicht bewahrheitet. Schülerinnen und Schüler, die sich gern übers
Internet austauschen, sind auch im persönlichen Umgang kommunikativ. Ich habe
sogar den Eindruck, dass Jugendliche, die sich eher schwertun mit sozialen
Kontakten, im Internet eine neue Plattform finden. Ich sehe darin eine Chance.
Aber natürlich gibt es Auswüchse wie Mobbing.
Haben Sie Erfahrungen mit Kindern, die eine
Bildschirm- oder Onlinesucht entwickeln und dadurch die Schule vernachlässigen?
Ja, das gibt es, vor allem im Zusammenhang mit
wiederholtem und dauerhaftem Schulschwänzen. Es gibt einzelne Jugendliche, vor
allem auf der Sekundarstufe, die sich über längere Zeit weigern, zur Schule zu
gehen. Nicht selten sind das Schülerinnen oder Schüler, die sich daheim
isolieren, sich in ihrem Zimmer einschliessen und ihre Kontakte übers Internet
pflegen oder sich den ganzen Tag mit Computerspielen beschäftigen. Manchmal
entwickeln sie auch körperliche Beschwerden, sie leiden unter Schmerzen oder
unter Übelkeit, so dass ihnen der Arzt ein Zeugnis ausstellt.
Wie kann der schulpsychologische Dienst dauerhaftem
Schulschwänzen entgegenwirken?
Je länger ein Jugendlicher der Schule fernbleibt,
desto schwieriger wird es für ihn, den Schritt zurück zu machen. Darum
versuchen wir, möglichst schnell alle Beteiligten wie Schüler, Eltern und
Lehrer zusammenzubringen. Erst kürzlich habe ich von einer Schule in der Stadt
Zürich gehört, die Hausbesuche organisiert, wenn Kinder nicht zur Schule
gekommen sind. Eine Lehrperson oder die Schulleiterin besucht die Kinder daheim
und erkundigt sich nach dem Grund ihrer Absenz. Manchmal liegen die
Jugendlichen noch verschlafen im Bett, aber das Signal ist klar: Sie gehören
zur Gemeinschaft der Schule.
Wie häufig kommt es vor, dass Kinder während einer
längeren Dauer die Schule schwänzen?
Das ist schwer zu sagen, es gibt keine
verlässlichen Zahlen. Das liegt daran, dass die Absenzen nicht einheitlich
erfasst werden. Dauerhaftes Schulschwänzen von Jugendlichen ist oft ein Tabu.
Bei den Eltern kommen Selbstzweifel auf, und auch Schulen haben Mühe, damit
umzugehen. Wenn ein Kind nicht zur Schule gehen will, kann das verschiedene
Gründe haben. Manche haben das Gefühl, vom Lehrer oder von anderen Kindern
schlecht behandelt zu werden. Für andere ist die Schule ein Ort, wo sie keine
Erfolgserlebnisse haben. Sie fürchten sich etwa vor schlechten Noten. Die
Eltern fühlen sich häufig machtlos und haben schon vieles versucht, bevor der
schulpsychologische Dienst hinzugezogen wird.
Wir haben nun eher über Ausnahmen geredet. Welches
sind denn die häufigsten Schwierigkeiten, mit denen der schulpsychologische
Dienst heute konfrontiert ist?
Wir sind am meisten mit Lernstörungen und
Verhaltensauffälligkeiten konfrontiert. Das heisst konkret, dass ein Kind zum
Beispiel schlecht aufpassen kann, andere Kinder stört, sich respektlos benimmt.
Verhaltensauffälligkeiten kommen nicht selten bei einem schlechten Einvernehmen
zwischen Schule und Eltern vor. Die Kinder spielen die Lehrperson und die
Eltern unter Umständen gegeneinander aus, wenn sie merken, dass die Eltern mit
dem Lehrer nicht einverstanden sind. Wir werden dann als aussenstehende Stelle
hinzugezogen, die alle Beteiligten an einen Tisch bringt und Lösungen
vorschlägt, die das Kind weiterbringen. Wir verstehen uns nicht als die rechte Hand
der Schulbehörden, sondern als Beratungsstelle für Eltern und Schule. Eltern
können sich mit ihren Anliegen auch direkt an uns wenden.
Man hört allenthalben, in der Stadt Zürich erhalte
jedes zweite Schulkind eine Stütz- oder Fördermassnahme; es werde keine
Abweichung vom Durchschnitt mehr toleriert. Die Rede ist von einer Art
Therapiewahn . . .
Das habe ich auch schon gehört. Ich würde nicht
sagen, dass übermässig viel therapiert wird. Man soll Massnahmen gezielt
einsetzen und sie auch wieder beenden, wenn es sie nicht mehr braucht. Die
Volksschule bietet die unterschiedlichsten Unterstützungen an, darunter etwa
Logopädie, Psychomotorik, in gewissen Fällen auch Psychotherapie. Der
personelle Aufwand für diese Massnahmen ist durch eine kantonale Verordnung
kontingentiert, es gibt also eine Grenze nach oben. Wir vom
schulpsychologischen Dienst sehen uns in der Rolle des Vermittlers; wir führen
Abklärungen durch und geben Empfehlungen ab für Unterstützungsmassnahmen.
Ausserdem fördert die Volksschule nicht nur die schwächeren, sondern auch
besonders begabte Kinder.
Bis zur Einführung des neuen Volksschulgesetzes
2006 gab es Kleinklassen. Diese wurden abgeschafft, und man setzte auf
Integration. Gewisse Eltern, aber auch Lehrer beklagen, das Konzept sei
gescheitert. Wie sehen Sie das?
Die Reform in der Volksschule hat einschneidende
und in meinen Augen wichtige Neuerungen gebracht; unter anderem wurde die
Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in den Regelklassen
vorangetrieben. Es ist zugegebenermassen nicht einfach, mit Schülerinnen und
Schülern zu arbeiten, die grosse Förderbedürfnisse haben. Der Aufwand ist
erheblich, lohnt sich aber mittelfristig. Das zeigen Erfahrungen im In- und
Ausland.
Wir haben von Überbetreuung gesprochen. Gibt es
auch unterbetreute Kinder?
Ja, es gibt Eltern, die gar nichts von
Unterstützung wissen wollen und unser Engagement als Einmischung in ihre privaten
Angelegenheiten betrachten. Die Schule hat in diesen Fällen kaum eine
Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, es sei denn, das Kindswohl sei gefährdet. Dann
kann unsere Empfehlung bis zu Kindesschutzmassnahmen führen, so dass das Kind
zum Beispiel vorübergehend in ein Heim kommt. Dies kann manchmal auch gegen den
Willen der Eltern geschehen.
Wurden Sie von Eltern einmal persönlich
angegriffen?
Vor 20 Jahren habe ich meine private Telefonnummer
aus dem Telefonbuch entfernen lassen, weil ich von einem Vater bedroht wurde
und meine Familie schützen wollte. Es ging um eine Fünftklässlerin, die ihrer
Lehrerin erzählt hatte, sie wolle nicht mehr nach Hause, da sie geschlagen
werde.
Ist der Leistungsdruck in der Schule in den letzten
23 Jahren gestiegen?
Der Druck auf die Lehrer ist sicher gewachsen. Die
Eltern sind zu Partnern der Schule geworden und wollen mitreden, was in
einzelnen Fällen zu Konflikten führen kann. Es gibt auch solche, die ihre
Kinder überschätzen. Sie setzen unter Umständen grosse Hoffnungen in ihr Kind.
Insofern ist manchmal auch der Leistungsdruck, dem die Schülerinnen und Schüler
ausgesetzt sind, hoch. Dazu kommt der Druck, nach der Volksschule eine gute
Lehrstelle zu finden oder den Übertritt ans Gymnasium zu schaffen.
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