Christoph Türcke über die Ökonomisierung des Bildungsbetriebs, Lehrer,
die zu Lernbegleitern mutieren, neue autoritäre Strukturen in der Schule und
alte Effizienzfantasien, die in ihr Gegenteil kippen.
Philosoph Christoph Türcke: "Man braucht die Schulen eigentlich nicht mehr", Standard, 21.11. von Lisa Nimmervoll
STANDARD: Sie haben in einem Buch die "Lehrerdämmerung"
ausgerufen. Wer oder was bedroht denn die Spezies Lehrer?
Türcke: Ein neoliberales Bildungssystem, das unter dem Stichwort
"Neue Lernkultur" geführt wird, wo die Lehrer ihre ursprüngliche
Rolle, nämlich das Zeigen von Sachverhalten, nicht mehr ausüben, sondern nur
noch als Lernbegleiter fungieren sollen. Die Schüler lernen an vorgegebenen
Lernmaterialien, die die Lernbegleiter bereitzustellen haben, möglichst für
jeden individuell einen eigenen Arbeitsblattstapel. Das soll ganz wunderbar
sein, weil dann jeder nach eigenem Wunsch, in eigener Reihenfolge, in eigenem
Tempo voranschreiten kann und die Autonomie und Selbstständigkeit des Lernens
die schönsten Blüten treibt. Keine autoritären Säcke mehr, die einer ganzen
Klasse Inhalte vorgeben, wo doch jedes Individuum anders tickt und anders
gestrickt ist. Statt Lehrern nur noch Ratgeber, die bei Bedarf zur Stelle sind,
Tipps geben und spontanes Coaching durchführen.
STANDARD: Da klingt viel Ironie durch. Was stört Sie daran?
Türcke: Es geschieht mit Begriffen, die zuckersüß und verführerisch
klingen: Endlich wird der Schüler ernst genommen. Der Lerner oder die Lernerin,
wie dieses neue Kunstwort heißt, sei doch das Zentrum aller Bildung. Es werden
Selbstentfaltung und Abschaffung von autoritären Strukturen versprochen. Dabei
läuft das Ganze auf eine gesteuerte Form von Verwahrlosung hinaus. Und die
autoritären Strukturen hören überhaupt nicht auf, sie gehen nur über auf die
Lehrmaterialien.
STANDARD: Bitte erklären Sie das.
Türcke: Es passiert Folgendes: Der Lehrer als Frontalunterrichter wird
endlich abgeschafft, und jedes Kind bekommt seinen individuellen
Frontalunterricht durch Arbeitsblätter. Darauf steht dann eine knapp
umschriebene Aufgabenstellung in der Sprache des Imperativs. Fülle dies aus!
Rechne jenes zusammen! Mache dieses und jenes! Der Imperativ, nun anonym in
Gestalt des Arbeitsblatts und des scheinbaren Sachzwangs, deutet darauf hin,
dass die autoritäre Struktur in gewisser Weise sogar potenziert wird. Nur nicht
mehr durch die Lehrperson ausgeübt, sondern gleichsam als neutrale
Notwendigkeit. Die Lernbegleiter sind dann die Softies, die dazu dienen, dieser
Methode die notwendige Akzeptanz zu verschaffen, bei der ganz offensichtlich
ist, dass dabei mit ungeheuren Ersparnispotenzialen kalkuliert wird, wenn man
faktischen Unterricht an Arbeitsblätter delegiert. So können weniger Lehrer
mehr Schüler zwar nicht unterrichten, aber beaufsichtigen.
STANDARD: Steht die von Ihnen kritisierte Degradierung der Lehrerinnen und
Lehrer zu Lernbegleitern auch im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der
Digitalisierung?
Türcke: Selbstverständlich. Die Arbeitsblätter und vor allem die
Lückentexte – es werden ja gar keine ganzen Texte mehr geschrieben, sondern nur
noch Lücken ausgefüllt – sind eine Vorform der digitalen Masken. Es wird eine
Art Lückenfüllermentalität eingeübt. Wenn demnächst aller Unterricht digital
läuft, wird man die Papierform nicht mehr brauchen. Aber das Ganze hat noch
einen Haken: Nehmen wir an, die Politiker würden die Schulen wirklich so
großzügig digitalisieren, wie sie sagen, dann stellt sich die Frage: Warum
sollen Schüler einen aufwendigen Schulweg auf sich nehmen, um in einem Klassenraum,
wo jeder seines macht, irgendwelche Aufgaben zu lösen, die man genauso gut zu
Hause lösen kann? Die Notwendigkeit des gemeinsamen Klassenraums wird durch die
Digitalisierung der Schulen untergraben. Man braucht die Schulen streng
genommen eigentlich nicht mehr.
STANDARD: Heute sind digitale Geräte aber alltägliche Begleiter der Kinder.
Ist es da nicht naheliegend und notwendig, sie auch im Unterricht kritisch
reflektierend einzusetzen? Die Digitalisierung der Gesellschaft ist ja ein
Faktum.
Türcke: Ja, aber was heißt kritisch reflektierend? Würde man Fünfjährigen,
um sie rechtzeitig auf einen kritisch-reflektierten Umgang mit Alkohol einzustellen, erst mal zur
kritischen Reflexion und zum eigenständigen Umgang Schnaps verabreichen? Nein.
Zum kritischen und reflektierenden Umgang gehört zunächst einmal auch, gerade
in frühen Jahren, eine gewisse Abstinenz beziehungsweise die äußerste Form der
Dosierung. Kleine Kinder können überhaupt nicht überblicken, was diese neue
Technologie mit ihrer seelischen Stabilität zu tun hat. Natürlich tut das den
Kleinen nicht weh, wenn sie als Zwei-, Dreijährige vor so ein Gerät gesetzt
werden, rumdaddeln können und sich sprunghaft zwischen irgendwelchen Bildern
und Masken hin und her bewegen, ohne dass das noch an Sprache geknüpft wird.
Das ist aber entscheidend: Wir erleben dabei Sprachverluste, weil die Bilder so
schnell dahinflutschen, dass die Zeit, sie an Sprache zurückzubinden, gar nicht
mehr vorhanden ist. Das hat Langzeitwirkungen, die sich allmählich zeigen.
STANDARD: Kritiker könnten dem entgegnen, das klinge etwas sehr restaurativ,
was Sie sagen. War denn an der alten Schule wirklich alles gut?
Türcke: Natürlich war nicht alles gut, und ich will nicht zum alten
Schulsystem und dem, was in den 1960ern mit Recht Frontalunterricht genannt
wurde, zurück. Wo wir noch eine ganze Menge alter Nazis als Lehrer hatten und
es nur den Lehrervortrag gab und die Schüler antworteten. Dagegen wurde zu Recht
rebelliert und gesagt: Nein, da muss eine Vielzahl von Unterrichtsmethoden her,
dieses bloß von vorne Dozieren kann nicht sein. Inzwischen hat sich das
umgekehrt.
STANDARD: Inwiefern?
Türcke: Wenn überhaupt jemand vor einer Gruppe steht und dieser einen
Sachverhalt eröffnet, dann heißt es: Das ist Frontalunterricht, da wird
Gleichschritt gefordert. Die Begriffe Frontalunterricht und Gleichschritt sind
inzwischen zu regelrecht demagogischen Begriffen geworden. Es wird suggeriert:
Wann immer sich eine Gruppe gemeinsam in einen Sachverhalt vertieft, ist das
Gleichschritt, und das ist gleich Militär, das wollen wir nicht mehr. Endlich
demilitarisieren wir die Schule.
STANDARD: Dafür soll sie nun ja für die digitale Zukunft gerüstet werden.
Österreichs alte Regierung wollte jedes Kind in der fünften und neunten
Schulstufe mit einem eigenen Tablet oder Laptop ausstatten.
Türcke: Mit dem permanenten Argument "Fit für morgen machen".
Dahinter stehen natürlich auch massive ökonomische Interessen der IT-Firmen,
die in der Bildungspolitik als Berater mitmischen. Der Hauptgedanke ist, dass
man nichts mehr lernen muss, man kann ja alles nachschlagen. Auch so ein
Trugschluss, dass man, wenn man nichts mehr weiß, alles finden könnte. Denn man
findet nur etwas, wenn man schon eine ganze Menge weiß. Mit diesen
Rattenfängertönen wird versucht, dem globalen Konkurrenz- und
Flexibilisierungsdruck, der tatsächlich überall besteht, gerecht zu werden. Man
glaubt, maximal effizient zu sein. Das Paradoxe ist: Wir haben die vollkommene
Ökonomisierung des Bildungsbetriebs, alles wird auf Effizienz ein- und
ausgerichtet, und zugleich erfolgt es mit Methoden, die dazu führen, dass
elementare Fähigkeiten wie Rechtschreibung und Rechnen erodieren.
STANDARD: Welche Mechanismen sind hier am Werk?
Türcke: Relativ alte. Um 1900 ging der Ingenieur Frederick Taylor daran,
die ganze Fabrikarbeit mit Stoppuhr und Bewegungsanalyse durchzuplanen.
Manuelle Arbeit wurde auf kleinste Handgriffe reduziert und sollte dadurch
maximal effizient werden. Doch die Menschen haben den Taylorismus nicht
ausgehalten. Die Obsession des Effizienzmaximums schlug um in Ineffizienz.
Ähnliches erleben wir jetzt in der Schule mit dem Ersetzen der Lehrer durch
Programme und Maschinen.
STANDARD: Sie stoßen sich auch am "Kompetenzwahn" der
Bildungspolitik. Warum?
Türcke: Weil ein behavioristisch verkürzter Kompetenzbegriff um sich
greift. Gegen Kompetenz, also sachkundig für etwas zuständig sein, kann ja
niemand etwas haben. Aber wenn ganz eng gefasste, isolierte Verhaltensweisen
Kompetenzen sein sollen – man spricht ja schon von Säuglingskompetenzen, wenn
das Kind mit den Augen ein Objekt verfolgen kann -, dann werden eigentlich
Maschinenvorstellungen umgesetzt. Wirklich genau umschreibbare Kompetenzen
haben nur Maschinen – in Gestalt ihrer Programme. Maschinen sind, solange sie
funktionieren, reine Könner. Sie haben Kompetenz pur, es ist aber nichts
dahinter.
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