Darf
man noch Schulreisen durchführen? Oder ist das zu gefährlich? Die Frage stellt
sich, nachdem zwei Aargauer Lehrern der Prozess gemacht worden ist, weil auf
einem Ausflug im Fricktal ein 12-jähriger Schüler tödlich verunfallt war. Der
Bub hatte sich von der Gruppe entfernt und stürzte eine Böschung herunter. Die
Lehrer wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Das sorgte unter Pädagogen
für Verunsicherung. Denn ein Unfall wie jener im Fricktal kann nie
ausgeschlossen werden, wenn man etwas unternimmt – auch nicht bei perfekter
Vorbereitung und Durchführung. Mancher Lehrer, manche Lehrerin fragt sich: Kann
ich mit meiner Klasse das Schulzimmer überhaupt noch verlassen, wenn ich
vermeiden möchte, am Ende vor Gericht oder gar im Gefängnis zu landen? Dass die
beiden Aargauer Lehrer am Donnerstag erstinstanzlich freigesprochen wurden,
weil sie die Sorgfaltspflicht nicht verletzt hatten, wird die Bedenken kaum zerstreuen.
Eine Vollkasko-Gesellschaft hat keine Zukunft, Schweiz am Wochenende, 18.11.
Vor
wenigen Wochen machte ein weiterer Gerichtsfall Schlagzeilen, der nicht die
Lehrer, aber manchen Hobbyfussballer verstörte. Ein Gericht verurteilte einen
4.-Liga-Torhüter wegen fahrlässiger Körperverletzung, nachdem dieser mit
gestrecktem Bein einen Stürmer gestoppt hatte, wobei sich dieser das Schienbein
brach. Ein Foul, gewiss – aber eines, das auf dem Fussballplatz geschehen kann.
Kann man sich noch bedenkenlos als Hobbykicker betätigen, ohne Angst vor einem
Strafregistereintrag zu haben?
Scharfe Rüge an den Vater
Was in
den USA begann, ist in Europa und in der Schweiz angekommen. Das erste Gebot
lautet heute: Nur keine Fehler machen, nichts riskieren. Sonst droht eine
Klage, der Stellenverlust oder die gesellschaftliche Ächtung. Man kann diese
Mentalität schon im Kleinen sehen. Mein vierjähriger Sohn liebt
Trottinettfahren. Kürzlich tuckerte ich mit ihm durchs Quartier – er (mit
Helm!) auf dem Kickboard, ich im Schneckentempo mit dem Velo neben ihm. Das
brachte mir eine scharfe Rüge eines Passanten ein, der mich auf die
Gefährlichkeit dieses Unterfangens hinwies.
Auf
Spielplätzen ist es spannend, die Eltern zu beobachten: Nebst denjenigen, die
dauernd am Handy hängen, gibt es solche, die jeden Schritt ihres Kindes
begleiten und ermahnend kommentieren. Achtung! Langsamer! Aufpassen! Überall
wittern sie Gefahren, welche mit Nonstop-Überwachung abgewendet werden müssen.
Entsprechend sind die elterlichen Erwartungen an Krippen, Horte und Schulen. In
Zürich haben Kinderkrippen Vorschriften für die Benutzung von Bobby-Cars
erlassen, nachdem zwei Knirpse damit umgekippt waren und sich Schürfungen
zugezogen hatten.
Dass
man Unfälle und Malheurs so gut wie möglichen vermeiden will, ist klar und
richtig. Doch in verschiedenen Lebensbereichen nimmt die Vollkasko-Mentalität
übertriebene und schädliche Ausmasse an. In Alters- und Pflegeheimen müssen die
Angestellten jede Handreichung dokumentieren – zu ihrer eigenen Absicherung. Am
Ende bleibt weniger Zeit für die Menschen, die sie betreuen. Ähnlich ist es bei
anderen sozialen Berufen. Eine Untersuchung förderte zutage, dass Assistenzärzte
am Kantonsspital Baden pro Tag nur 94 Minuten mit dem Patienten verbringen,
hingegen sehr viel Zeit aufwenden für Berichte, Dokumentationen und das
Nachführen von Patientenakten.
Hoch
entwickelte, wohlhabende Gesellschaften neigen zur Risikoaversion. Ökonomen
haben dieses Phänomen mehrfach erforscht, und es ist ja auch plausibel: Je
besser es einem geht, umso mehr hat man zu verlieren. Die geopolitische
Grosswetterlage fördert diese Haltung. Der Schweiz geht es gut, hier leben wir
sicher, während im Rest der Welt Unruhe, Terror und Kriege vorherrschen.
Halten! Absichern!, lautet da die kollektive Handlungsanweisung.
Ohne Risiko kein Unternehmertum
Auf die
Dauer aber ist gerade das gefährlich. Eine Angsthasen-Gesellschaft verkümmert.
Wer kein Risiko eingeht, gründet kein Unternehmen und tätigt keine Investition.
Woher aber sollen dann die Arbeitsplätze der Zukunft und der Wohlstand von
morgen kommen? Der Staat ist hier keine Hilfe, im Gegenteil. Er fördert die
Absicherungsmentalität mit immer neuen Vorschriften. Von
Lebensmittelverordnungen bis zur Bankenregulierung – Unfallvermeidung ist das
oberste Gebot.
Die
Angst vor dem Risiko ist vielleicht unser grösstes Risiko. Eine solche
Gesellschaft wächst nicht mehr, sie entwickelt sich nicht mehr, sie bringt
keine Reformen mehr zustande. Dabei wissen wir doch: Ein Leben ohne Risiko gibt
es nicht. Der Soziologe Niklas Luhmann hat es einmal so erklärt: Wir können
zwar bei jedem Wetter einen Regenschirm mitnehmen. Tun wir das, besteht aber
das Risiko, dass wir den Schirm irgendwo vergessen. Darum: Riskieren wird doch,
auch einmal nass zu werden!
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