In
Basel-Stadt erhalten Kindergarten-Kinder Lernberichte
mit Beurteilungen nach Fachbereichen. Die Lehrpersonen bewerten
Kriterien wie: «– verfügt über einen differenzierten Wortschatz», oder: «– kann
kulturelle und religiöse Grunderfahrungen erleben, reflektieren und mit
gestalten». Was halten Sie davon, Herr Largo?
Das macht
mich nicht nur sprachlos, sondern auch traurig. Dahinter steckt ein
Leistungsdenken, das leider nun auch den Kindergarten erfasst hat. Es setzt die
Eltern und Kinder gewaltig unter Druck, was offenbar beabsichtigt ist. Wir
alle, nicht nur die Verantwortlichen im Bildungssystem, müssen uns wirklich
fragen: Was haben wir für ein Menschenbild? Was ist die Aufgabe des
Bildungssystems? Das Kind ist doch keine Knetmasse, die wir nach unserem
Gutdünken formen können. Eine sehr wichtige Frage wäre beispielsweise: Bekommt
ein Kind die notwendige Geborgenheit und Zuwendung? Denn nur dann kann es gut
lernen. Viele Fragen sollten wir nicht an die Kinder, sondern an uns Erwachsene
stellen!
"Das Kind ist doch keine Knetmasse" - Remo Largo zum Basler Schulsystem, Tageswoche, 24.10. von Jeremias Schulthess
Die
Kinder füllen mit den Kindergarten-Lehrpersonen auch eine Selbsteinschätzung
aus – mit Kategorien wie «Ich kann singen» oder «Ich verstehe, was andere
sagen». Was macht das mit den Kindern?
Die
Kinder müssen sich mit den anderen Kindern vergleichen. Das fördert das
Leistungsdenken unter den Kindern, beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl und
macht sie einsam. «Ich verstehe, was andere sagen»: Diese Fragen nehme ich in
meine Kartei unsinniger Pädagogik auf. Worum es beispielsweise wirklich geht:
Haben wir Erwachsenen die Umgebung des Kindes so gestaltet, dass es die
notwendigen entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann? Wiederum sollten
wir nicht das Kind, sondern uns selbst hinterfragen! Wenn das der Fall ist,
wird sich das Kind aus sich heraus entwickeln. Das macht es nämlich seit mehr
als 200’000 Jahren.
Vor
200’000 Jahren mussten Menschen auch eher Beeren pflücken und Tiere jagen.
Heute stellt die Gesellschaft ganz andere Anforderungen. Muss man Kinder nicht
auf den späteren Leistungsdruck vorbereiten?
Wir gehen
davon aus, dass Kinder jede Anforderung bewältigen können. Sie sollen nur
kräftig auswendig lernen, dann werden sie schon klüger. Das stimmt so nicht.
Nur – möglichst selbstbestimmte – Erfahrungen tragen zum nachhaltigen Lernen
bei. Und: Jedes Kind will sein Begabungspotenzial realisieren. Was aber kein
Kind kann, ist sein Potenzial übersteigen. Zwingen wir es dazu, wird es
demotiviert und fällt schlimmstenfalls in ein Burnout. Ja, Burnout gibt es
neuerdings auch bei Kindern. Kinder, die buchstäblich stillstehen.
Welche
Art der Beurteilung wäre aus Ihrer Sicht denn kindgerecht und ab wann sollte
man diese einführen?
Ich halte
gar nichts von Beurteilungen. Johne Hatties Metaanalyse von Tausenden Studien,
an denen 230 Millionen Kinder teilnahmen, hat gezeigt: Prüfungsnoten bringen
nichts. Eine kindgerechte Pädagogik holt die Kinder dort ab, wo sie
entwicklungsmässig stehen. In der ersten Klasse variiert der Entwicklungsstand
der Kinder zwischen 5,5 und 8,5 Jahren, mit 13 Jahren zwischen 10 und 16
Jahren. Wie sollen da Noten den Kindern gerecht werden?
Wie
können Eltern ihre Kinder unterstützen, wenn diese in der Schule unter zu viel
Leistungsdruck leiden?
Das ist
die Frage, die ich am meisten fürchte. Die meisten Eltern haben doch gar keine
Wahl! Sie können mit den Lehrern reden, aber die stehen ja auch unter Druck.
Ich wünsche mir autonome Schulen, die wie die Volksschule subventioniert werden.
Solche Schulen würden nicht mehr kosten, aber viele Kinder, Eltern und Lehrer
glücklicher machen. Die vor allem aber junge Erwachsene hervorbringen, die
nicht durch neun Jahre Schule in ihrem Selbstwertgefühl so geknickt sind, dass
sie nicht mehr daran glauben, in dieser Welt bestehen zu können. Bestenfalls
können Kinder in der Schule ihr individuelles Begabungspotenzial realisieren,
sind sozial kompetent und erhalten sich ein gutes Selbstwertgefühl und eine
gute Selbstwirksamkeit: «Ich kann in dieser Welt bestehen.»
Das
Interview wurde schriftlich geführt.
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