Im Tessin ist Staatskunde künftig Teil des
Stundenplans. Auch in der Deutschschweiz fordern Parlamentarier mehr Politik im
Unterricht. Befürworter gibt es viele, doch so einfach ist die Umsetzung nicht.
Wie viel Politik gehört in die Schulen? Was Jugendliche über Demokratie lernen sollen. Aargauer Zeitung, 28.9. von Yannick Nock
Fast klammheimlich ist dem Tessin gelungen, woran
die Deutschschweiz schon mehrmals gescheitert ist: Staatskunde wird zum eigenen
Fach an der Mittel- und Oberstufe erklärt. Am Sonntag haben die Tessiner
Stimmbürger entschieden, der politischen Bildung mehr Gewicht zu verleihen und
sie fix im Stundenplan zu verankern.
Künftig lernen Kinder schon früh, wie der Staat,
Wahlen und der politische Prozess funktionieren. Für das neue Fach sind
mindestens zwei Stunden monatlich vorgesehen. Ausserdem werden Prüfungen
geschrieben und Abschlussnoten verteilt.
Im Schatten der alles verschluckenden AHV-Debatte
ging nicht nur die Abstimmung, sondern auch die Deutlichkeit des Entscheids
unter. 63,4 Prozent stimmten der Gesetzesänderung zu. Ein erstaunlich hoher
Wert für die Frage, wie viel Politik an die Schulen gehört. Mit dem Erfolg im
Tessin werden nun wieder Stimmen laut, welche die politische Bildung auch in
der Deutschschweiz stärken wollen. «Das Abstimmungsergebnis ist beste Werbung
für den Staatskunde-Unterricht an unseren Schulen», sagt Nationalrat Matthias
Aebischer (SP/BE) und ehemaliger Lehrer. «Ein eigenes Fach unterstreicht die
Bedeutung der politischen Bildung.» Kindern auf allen Stufen sollte
altersgerecht die Demokratie näher gebracht werden, sagt er.
Unterstützung erhält Aebischer von seinem
Parteikollegen und Oberstufenlehrer Mathias Reynard (VS): «Die politische
Bildung gehört fix auf den Stundenplan.» Obwohl in den meisten Lehrplänen
Stunden dafür vorgesehen sind – oft gemeinsam mit dem Fach Geschichte –, hängt
vieles vom Lehrer ab. Reynard sagt, er selbst lege im Unterricht grossen Wert
auf das Fach, aber das sei nicht bei allen Lehrern der Fall. Das liege auch am
fehlenden Lehrmaterial.
Es gäbe Kinder, die in ihrer gesamten Schulzeit
kaum etwas über den politischen Prozess erfahren würden. «Wir müssen mehr tun»,
sagt er. Das würde nicht nur die direkte Demokratie stärken, sondern auch
Jugendliche für Wahlen und Politik begeistern. «Noch immer beteiligen sich die
Jungen zu wenig an Volksabstimmungen.»
Abstimmungen stehen an
Nicht nur die SP sieht Handlungsbedarf. Parteien
aus verschiedenen Lagern haben mehrmals versucht, die politische Bildung fix in
den Stundenplan zu hieven. Oft preschen Jungparteien vor. In den vergangenen
Jahren machte sich die Junge CVP in Zürich und dem Thurgau für das Anliegen
stark.
Im Aargau kam 2009 eine Staatskunde-Initiative der
Jungen FDP zustande, die nun vor der Einführung des Lehrplans 21 wieder aus der
Schublade geholt werden könnte. Und erst diesen Sommer sammelten die
Jungfreisinnigen Basel-Stadt genügend Unterschriften für ihre Initiative «Ja zu
einem Fach Politik». Sie kommt bald zur Abstimmung.
Auf nationaler Ebene zeigt sich eine ähnliche
Dynamik. Im Nationalrat wurden zahlreiche Postulate, die eine stärkere
politische Bildung fordern, von links bis rechts unterzeichnet. Trotzdem gilt
für die Debatten im Parlament dasselbe wie bei den Abstimmungen in den
Kantonen. Fast immer heisst es am Ende: viel Zustimmung, wenig Zählbares.
Anders als im Tessin und der Romandie gibt es in
der Deutschschweiz bis heute keinen Kanton, der Staatskunde als eigenes Fach
ausweist. Dabei stellte bereits vor Jahren die Studie Citizenship and
Education, welche die politische Bildung Jugendlicher in 28 demokratischen
Staaten erfasste, der «Musterdemokratie Schweiz» ein schlechtes Zeugnis aus. Für
die politische Bildung der kommenden Generation würde zu wenig getan, hiess es
darin. Das liegt auch daran, dass
Kritiker fürchten, Lehrer würden die Kinder zu stark beeinflussen.
Mit dem Lehrplan 21 wurde die Debatte neu lanciert,
aber für viele nicht zufriedenstellend gelöst. Die politische Bildung
verschmilzt mit Geschichte, Geografie und anderen Fächern zu «Räume, Zeiten und
Gesellschaften». Dies sei falsch, klagen selbst Historiker. Das Fach Geschichte
könne nicht leisten, was eigentlich mit politischer Bildung gemeint sei,
nämlich die systematische Behandlung der Funktionsweisen von politischen Prozessen,
sagen sie. Nur so könnten Schüler das politische Geschehen richtig einschätzen.
Altbundesrat Couchepin warnt
Doch nicht alle sind dieser Meinung. Für
Nationalrat Christoph Eymann (LDP/
BS), den ehemaligen Präsidenten der Schweizer Erziehungsdirektoren, ist ein eigenes Fach der falsche Weg. Einerseits will Eymann den Kantonen keine Vorschriften machen, andererseits seien die Stundenpläne schon jetzt voll. Zudem würde der Lehrplan 21 die politische Bildung stärker berücksichtigen als früher.
BS), den ehemaligen Präsidenten der Schweizer Erziehungsdirektoren, ist ein eigenes Fach der falsche Weg. Einerseits will Eymann den Kantonen keine Vorschriften machen, andererseits seien die Stundenpläne schon jetzt voll. Zudem würde der Lehrplan 21 die politische Bildung stärker berücksichtigen als früher.
Pascal Couchepin, Altbundesrat der FDP und
ehemaliger Bildungsminister, glaubt ebenfalls nicht, dass ein Eingriff der
Politik nötig ist – zumindest noch nicht. Nur wenn sich die Situation
verschlechtere, sieht er ein Pflichtfach als Option. Er erkenne in der Deutschschweiz
allerdings einen negativen Trend. Das Interesse am Fach Geschichte schwinde,
sagt er – und damit auch die Staatskunde, die im Fach verankert ist.
Die Tessiner Abstimmung gibt den Befürwortern neuen
Schub. Der Schulbetrieb selbst hat bereits Massnahmen ergriffen, um die
politische Bildung zu stärken. «Wir unterstützen seit langem Bemühungen, die
Staatskunde besser zu verankern», sagt Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogik
beim Schweizer Lehrerverband. Er will vor allem die Ausbildung der Lehrer stärken.
Auf der Oberstufe sei das Problem, dass viele
fachfremde Lehrer Staatskunde unterrichten müssten. Und auf der Primarstufe sei
die Grundausbildung mit einem Bachelor schlicht zu kurz, um den Fokus stärker
auf die politische Bildung zu richten. Deshalb setzt sich der Verband für eine
Masterausbildung für Primarlehrer ein.
Ähnlich argumentiert der Bundesrat. Lehrpersonen
sollen an Weiterbildungen noch stärker darauf aufmerksam gemacht werden, wie
wichtig Staatskundeunterricht ist, hiess es im vergangenen Jahr. Ausserdem will
der Bundesrat abklären, ob gesamtschweizerische Musterlehrpläne dem
Staatskundeunterricht etwas bringen könnten. Es wäre ein erster Schritt hin zu
Tessiner Verhältnissen an Deutschschweizer Schulen, selbst dann, wenn die
anstehenden Initiativen scheitern.
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