22. Oktober 2017

PH-Spezialist fordert von Kindern verbindliche Verhaltensverträge

Wegen des Suizids einer 13-Jährigen aus Spreitenbach AG geraten die Schulen unter Druck. Wie konnte es sein, dass die Lehrer die Zeichen nicht frühzeitig erkannt hatten? Wie konnte es sein, dass die Schulleitung nicht eingegriffen hat? Bevor sich das Mädchen das Leben nahm, wurde es im Internet gemobbt, beleidigt und bedroht. Geholfen hat der 13-Jährigen kaum jemand.
Kinder sollen Kodex unterschreiben, Südostschweiz, 21.10. von Yannick Nock

Dabei ist Cybermobbing kein neues Phä- nomen. Es ist längst Alltag im Leben der Schülerinnen und Schüler. Trotzdem tun sich Lehrer wie Schulleiter noch immer schwer damit, da die Beleidigungen oft ohne ihr Wissen und ausserhalb des Klassenzimmers stattfinden. Eine bisher kaum beachtete Methode könnte nun aber Abhilfe schaffen. Otto Bandli, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, bildet seit über 15 Jahren angehende Lehrkräfte aus. Er ist Experte für Gewalt und Mobbing an Schulen. «Lehrer haben grossen Einfluss darauf, wie Klassenkameraden miteinander umgehen», sagt er. Dieser Einfluss gehe über das Schulgelände hinaus. «Mobbing ist eine Form der Gewalt, jedem muss klar sein, dass eine Nulltoleranz herrscht.» Er rät deshalb allen Lehrern zu einem verbindlichen Vertrag mit ihren Schülern. «In den Klassen sollte ein Verhaltenskodex erarbeitet werden, den alle unterschreiben.»

Bandli nennt drei Kernpunkte des Vertrags: Erstens sollen sich die Schüler zu einem respektvollen Umgang im Klassenzimmer und im Internet verpflichten. Zweitens ist Zivilcourage gefragt: Wer Mobbing erlebt oder beobachtet, soll es melden. Und drittens müsse jeder Schüler sein eigenes mediales Verhalten reflektieren. Die Kinder sollen sich fragen, was es für einen Menschen bedeute, wenn er über längere Zeit fertiggemacht werde. «Viele Fälle von Cybermobbing könnten so verhindert werden», ist Bandli überzeugt. Es gibt bereits Schulen, die den Verhaltenskodex eingeführt haben, wie das Luzerner Mittelschulzentrum. Doch das ist die Ausnahme. «Alle Schulen würden davon profitieren», sagt Bandli.

9000 Problemkinder in Schulen
Kritisch gegenüber der bisherigen Praxis an den Schulen ist auch Philipp Ramming, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie. Die heutige Medienpädagogik sei falsch ausgerichtet, sagt er. Es gehe zu stark um die Benutzung der Geräte und zu wenig um Inhalte. Es genüge nicht, wenn Lehrer warnten, dass man keine Nacktbilder verschicken oder in sozialen Netzwerken posten solle. Die zentrale Botschaft müsse eine andere sein: «Es gibt keinen Unterschied, wie man sich auf der Strasse oder im Internet zu benehmen hat», sagt er. «Das vermitteln die Schulen heute noch viel zu wenig.» Ausserdem würden Eltern erst dann Unterstützung suchen, wenn das Leiden der Kinder schon zu gross geworden sei.

Gemäss einer ETH-Studie ist rund die Hälfte der Jugendlichen mindestens einmal von Cybermobbing betroffen. Mit der Zahl der Kinder, die ein eigenes Smartphone besitzen, haben auch Beleidigungen im Netz zugenommen. Zwar macht der neue Lehrplan 21 das Problem explizit zum Pflichtstoff, doch mit ein paar Lektionen ist es laut PH-Dozent Bandli nicht getan. «Der Umgang in und ausserhalb des Klassenzimmers muss das ganze Schuljahr über Thema sein.» Gemäss Bandli sind ein Prozent aller Schüler äusserst gewaltbereit, darunter fällt auch Extrem-Mobbing wie im Fall des 13-jährigen Mädchens. Bei 921000 Kindern und Jugendlichen, die derzeit die obligatorische Schule besuchen, sitzen damit über 9000 Problemschüler in Schweizer Klassenzimmern.
Sozialarbeiter könnten helfen
Deshalb sind weitere Massnahmen gefragt. «Es ist traumatisch, was passiert ist», sagt Beat Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbandes, über das 13-jährige Mädchen. «Wir müssen alles tun, damit ein solcher Fall nicht mehr vorkommen kann.» Neben der Sensibilisierung in den Klassen für Cybermobbing und schulinternen Weiterbildungen für Lehrer spricht sich Zemp deshalb für die Stärkung der Sozialarbeit an Schulen aus. Dadurch hätten Kinder – aber auch Lehrer und Eltern – eine zusätzliche Anlaufstelle.

«Mobbing muss aus der Tabuzone raus», sagt Beat Zemp. Zu oft würden sich Opfer zurückziehen, statt die Probleme anzusprechen und sich zu wehren. Zu oft würden Klassenkameraden schweigen. «Das versuchen wir zu ändern.»

1 Kommentar:

  1. Felix Schmutz schreibt folgenden Kommentar:
    Da ist sie wieder, die Idee mit Schülerverträgen. In den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde propagiert, Verträge von Kindern unterschreiben zu lassen, die nicht gut mitarbeiteten und schwänzten. Jetzt also sollen nach Herrn Bandli Verträge gegen Mobbing helfen. Gut gemeint, aber wenig wirksam. Warum? Natürlich wissen Kinder und Jugendliche, dass Verträge, die sie unterschreiben, im juristischen Sinn nicht rechtsgültig und bindend sind. Sie können ja auch keine Handyverträge unterschreiben. Verträge, die sie brechen, bleiben für sie juristisch folgenlos. Sie durchschauen den Etikettenschwindel schnell, wenn der Vertragsbruch ausser tiefem Stirnrunzeln und moralischen Ergüssen der Erwachsenen keine einschneidenden Folgen für sie hat. Naiv zu glauben, Mobbing liesse sich bekämpfen, ohne eine wirkliche Einsicht bei den Mobbenden herbeizuführen. Das ist Mätzchenpädagogik an Stelle von engagierter Beziehungs- und Denkarbeit!

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