Seit 2013
werden Kinder bereits im Kindergarten nach Fächern bewertet. Lehrerinnen und
Lehrer steigen auf die Barrikaden. In der Politik will trotzdem fast niemand
etwas dagegen tun.
Was tut die Politik gegen den Leistungsdruck, Tageswoche, 30.10. von Jeremias Schulthess
Die
Reaktionen unserer Leserschaft auf den Schwerpunkt «Leistungsdruck
an Primarschulen» waren aussergewöhnlich: Es herrschte fast
unheimliche Einigkeit. Fast ausnahmslos fanden Leserinnen und Leser, der Druck
auf die Kleinsten müsse aufhören. «Lernberichte im Kindergarten? Hackts?»,
schrieb eine Leserin auf Facebook. Eine andere fragte: «Warum gehen wir Eltern
nicht auf die Strasse, um diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen?»
Die
Eltern, die so denken, haben derzeit in der Basler Politik keinen Rückhalt:
Gegen die Beurteilungen im Kindergarten und den unteren Primarschulstufen gibt
es von Politikerinnen und Politikern höchstens leise Kritik. Mehr als
Kleinigkeiten wollen sie nicht verändern. Selbst die ultralinke BastA! will
nicht viel am Status quo ändern. Dazu später mehr.
Kaum Handlungsspielraum
Die
gesetzliche Grundlage für die Lernberichte ist die Laufbahnverordnung. Diese
schreibt vor, wann, wie und wie viele Lernberichte und Zeugnisse Lehrpersonen
ausfüllen müssen. Zum Beispiel müssen Kindergarten-Lehrpersonen einen
siebenseitigen Lernbericht ausfüllen, der die Kinder nach Fachbereichen und
Sozialverhalten beurteilt. Zum Beispiel nach Kriterien wie: «- kann eine Anzahl
von Objekten zuordnen». Oder: «- trägt einfache Verse, Reime und Lieder
angemessen vor».
Die
Verordnung gewährt praktisch keinen Handlungsspielraum – das mussten zwölf
Primarlehrerinnen und -lehrer am Gotthelf-Schulhaus erfahren, als sie
Lernberichte und Zeugnisse in der ersten Klasse nur auf Wunsch der Eltern
abgeben wollten (die TagesWoche
berichtete).
2012
wurde die Verordnung unter dem damaligen Erziehungsdirektor Christoph Eymann
grundlegend überarbeitet. Zusätzlich zu den Lernberichten sollten die Kinder ab
der ersten Klasse auch Zeugnisse mit vier Prädikaten – zum Beispiel «Mittlere
Anforderungen erfüllt» – und ab der fünften Klasse Noten erhalten.
Die
Kritik der Lehrer verhallte neben dem Ruf der Wirtschaft nach früherer
Beurteilung.
«Harmonisierung» –
so hiess damals das Zauberwort, unter dem das ganze Schulsystem umgekrempelt
wurde. Basel-Stadt sollte an die Nachbarkantone angeglichen werden. In
Baselland gab es schon vor der fünften Klasse Noten, dafür waren die
Lernberichte im Kindergarten freiwillig.
Neben der
Anpassung der Laufbahnverordnung wurden weitere Dinge angepasst. Zum Beispiel
die Orientierungsschule (OS) abgeschafft und die Integration von Kleinklassen
in die Volksschule vollzogen. Diese Änderungen hätten die Debatte um
Lernberichte «fast vollständig überstrahlt», erklärt Jean-Michel Héritier von
der Freiwilligen Schulsynode, der Gewerkschaft der Basler Lehrkräfte.
«Die
Änderungen der Laufbahnverordnung wurden von der Politik eigentlich überhaupt
nicht wahrgenommen», sagt Héritier. Zwar meldeten Basler Lehrerinnen und Lehrer
verhaltene Kritik an, diese sei jedoch neben dem Ruf von Wirtschaftsverbänden
nach frühen Beurteilungen verhallt.
Eymanns Ziel deutlich verfehlt
In
Hinblick auf die Änderung der Laufbahnverordnung sagte der damalige
Erziehungsdirektor Christoph Eymann 2012 in einem Interview mit der «Basler
Zeitung»:
«Wir
wollen in absehbarer Zeit die gleiche Schule haben in Basel-Stadt und
Baselland. Das wäre dann zum ersten Mal der Fall seit der Kantonstrennung, und
entsprechend sind wir auch ein wenig stolz darauf. Ich bin zuversichtlich, dass
wir dieses Ziel erreichen.»
Rückblickend
lässt sich sagen: Das Ziel wurde verfehlt. Schuld daran war nicht die Stadt,
sondern vielmehr der Landkanton, der mit immer neuen Initiativen von den
umliegenden Kantonen wegdriftet. So macht Baselland zum Beispiel beim Lehrplan
21 nur begrenzt mit, was eine gemeinsame Planung der Stundentafeln obsolet
macht. Héritier sagt: «Man hat damals eindeutig aufs falsche Pferd gesetzt.»
Und was sagt Cramer zum Leistungsdruck?
Momentan
sei man dabei, die Laufbahnverordnung zu überprüfen und allenfalls anzupassen,
gab das Erziehungsdepartement (ED) kürzlich bekannt. Dafür habe man eine
Arbeitsgruppe eingesetzt.
Letztlich
liegt es am Erziehungsdirektor Conradin Cramer (LDP) und dem
Gesamtregierungsrat, die Verordnung anzupassen. Was Cramer über Leistungsdruck
sagt, lässt jedoch Zweifel aufkommen, dass sich Grundlegendes an der Verordnung
ändern wird:
«Es ist
in meinen Augen in jedem Fall sinnvoll, Kindern und Jugendlichen zu ihren
Leistungen, zu ihrem sozialen Verhalten und zu ihrem Arbeitsverhalten
Rückmeldungen zu geben. Dieses Feedback muss aber altersgerecht, konstruktiv
und positiv sein.»
Die
Kinder sollten «unbelastet und in jedem Fall absolut angstfrei arbeiten
dürfen», ein Feedback sollten sie jedoch auch erhalten. Denn: «Positive
Feedbacks sowieso, aber auch negative Feedbacks sind besser als kein Feedback –
sofern die Form des Feedbacks stimmt.»
Cramer
will also an den Beurteilungen grundsätzlich festhalten. Etwas anders sieht das
Katja Christ von den Grünliberalen. Siebenseitige Lernberichte an Kindergärten
sind für sie «jenseits». Die Analyse des Sozialverhaltens mache für sie auch an
der Primarschule keinen Sinn, so Christ.
Ganz auf
Beurteilungen zu verzichten, wäre für Christ aber auch falsch. «Für einen
Grossteil der Kinder kann die Rückmeldung zur eigenen Leistung ein
Motivationsschub bedeuten. Sie möchten auch in einen Wettbewerb treten.»
BastA! sieht auch Positives an Lernberichten
Alexander
Gröflin von der SVP unterstreicht dieses Argument. «Man tut dem Kind keinen
Gefallen, wenn man auf Leistungsbeurteilungen verzichtet.» Aus eigener
Erfahrung könne er sagen, «dass ich nur durch Druck angefangen habe, zu
lernen». Mit einem Verzicht auf Noten und Bewertungen würden die Schülerinnen
und Schüler auch nicht auf die Realität vorbereitet – denn diese folge nun mal
häufig dem Leistungsgedanken.
In der
BastA! sind die Meinungen zu Lernberichten noch nicht abschliessend gemacht.
Die Partei-Co-Präsidentin Heidi Mück meint, die Lernberichte in den
Kindergärten könnten auch eine Chance sein, «dass alle Kinder die gleiche
Aufmerksamkeit erhalten und die Lehrperson sich mit allen gleich
auseinandersetzt». Darauf habe sie eine Mutter kürzlich aufmerksam gemacht.
Ihre frühere Meinung, die Beurteilungen für Kindergarten- und Primarschulkinder
seien falsch, würde sie deshalb überdenken.
«Spielerisch lernen – ohne Druck»
Beatrice
Messerli, ebenfalls BastA!, findet hingegen wenig Gutes an Lernberichten im
Kindergarten und den unteren Primarschulstufen. «Ich sehe nicht ein, warum
Kindergarten-Kinder bereits Leistungen erbringen müssen. Sie sollen spielen und
spielerisch lernen – ohne Druck.»
Eine
Lösung wäre für sie, auf Lernberichte im Kindergarten zu verzichten und die
Beurteilungen in den unteren Primarschulstufen auf einige Fächer zu
beschränken. Keine radikale Änderung also, aber kleinere Anpassungen. «Wichtig
ist mir vor allem, dass die Meinung der Lehrpersonen hoch gewichtet wird.»
Messerli
will die Vorschläge der Arbeitsgruppe abwarten, die das ED eingesetzt hat.
Falls diese Vorschläge jedoch wenig bringen, werde sie allenfalls politisch
vorgehen, um den Leistungsdruck für Kindergarten- und Primarschulkinder zu
mindern.
Remo Largo und die Suche nach dem Kompromiss
Remo
Largo, das pädagogische Gewissen der Nation, erklärte unlängst im Interview mit
der TagesWoche, warum er Beurteilungen in der Schule und erst recht
im Kindergarten für falsch hält.
Sein
Votum mag Eltern und Lehrpersonen beeindrucken, Politiker halten dem Anschein
nach aber nichts davon. Sie sind darauf bedacht, Kompromisse zu finden, die
möglichst allen Parteien und Interessenverbänden gerecht werden – ob sie dem
Kind gerecht werden, das ist eine andere Frage.
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