An den
Basler Gymnasien hat es fast zehn Prozent mehr Kinder, die von Mai bis Oktober
Geburtstag haben, als solche, die im anderen Halbjahr zur Welt gekommen sind.
Das zeigt eine Auswertung der bz in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Amt
BaselStadt. Anders gesagt: Wer kurz nach dem jeweiligen Stichtag – in der
untersuchten Zeitspanne war es jeweils der 1. Mai – geboren ist, hat eine
spürbar bessere Chance, später ans Gymnasium zu kommen als jene, die kurz vor
dem Stichtag geboren sind. Und deshalb während der ganzen schulischen Laufbahn
immer die Jüngeren, durchschnittlich weniger weit Entwickelten sind. Relativer
Alterseffekt (RAE) nennt sich diese Benachteiligung, die vor allem aus dem
Nachwuchssport bekannt ist und gegen die beispielsweise beim Schweizerischen
Fussballverband mittlerweile Quoten-Regeln eingeführt wurde (die bz
berichtete).
Geburtsmonat beeinflusst Karrierechance, Schweiz am Wochenende Ausgabe Basel, 28.10. von Samuel Hufschmid
Dass der Geburtstag einen derartig starken Einfluss auf die
spätere Schullaufbahn hat, wusste Dieter Baur, Leiter Volksschulen Basel-Stadt,
bisher nicht. «Dieser Effekt ist mir neu. Auch die allermeisten Lehrpersonen
dürften noch nie davon gehört haben, dass die Klassenjüngsten statistisch
weniger oft ans Gymnasium kommen.» Allerdings wisse er aus eigener Erfahrung,
dass eine gute Lehrperson solche Faktoren intuitiv berücksichtige – also die
noch etwas weniger weit Entwickelten dort, wo es möglich ist, eher stützen.
«Bei mündlichen Noten oder der Heftführung können die Leistungen durchaus dem
Entwicklungsstand angepasst bewertet werden», sagt Baur. Die Selektion, welche
Schüler ans Gymnasium gehen und welche nicht, basiere jedoch in Basel-Stadt auf
einer klar definierten, mathematischen Formel. «Bei dieser Entscheidung wird
keine Rücksicht genommen auf das relative Alter im Vergleich zu den
Klassenkameraden», sagt Baur. Und natürlich auch nicht bei Mathe-Tests und
Diktaten. «Ich kann doch einem Kind für die gleiche Anzahl Fehler nicht eine
bessere Note geben, nur weil es ein paar Monate jünger ist», sagt der ehemalige
Sportlehrer.
Genau dies wäre aber gemäss dem Basler Sportwissenschaftler und
RAEA Experten Oliver Faude die einzig faire Lösung. «Man könnte zunächst anhand
tausender Prüfungsnoten das genaue statistische Ausmass des relativen
Alterseffekts bei Schülern herausfinden und dann entsprechende Abzüge und Boni
verteilen.» Studien aus Kanada und Japan zeigen, dass selbst bei Selbstmorden
ein Relativer Alterseffekt nachweisbar sei. «Kinder, die immer die Jüngsten
waren und in Sport und Schule entsprechendes negatives Feedback erhielten,
entwickeln später eher depressives Verhalten und haben gemäss dieser Studien
ein höheres Selbstmord-Risiko.» Da sei es eigentlich sehr erstaunlich, dass der
seit Jahrzehnten bekannte Effekt derart ignoriert werde.
Schuld ist der
«Teufelskreis»
Dass der relative Altersunterschied auch nach zwei Jahren
Kindergarten, vier Primar- und drei Orientierungsschuljahren noch einen derart
starken Einfluss hat, liege am eigentlichen «Teufelskreis», den die Forschung
dem RAE zuschreibt. Faude erklärt: «Bei der Einschulung macht der maximale
Altersunterschied in einer Klasse rund 15 Prozent der Lebensdauer aus, das ist
enorm viel. Entsprechend ist es möglich, dass die jüngeren durchschnittlich ein
negativeres Feedback erhalten, sei dies informell, in der Gruppe oder anhand
von Noten. Diese schlechteren Erfahrungen beeinflussen die weitere
Schullaufbahn und können nur sehr schwierig wieder aufgeholt werden – die
Spirale dreht sich.» Aus der Forschung im Sportbereich seien nebst der
Bewertungskriterien (im schulischen Beispiel der Anpassung der Notenskala) zwei
weitere Lösungsansätze bekannt, die theoretisch auch auf die akademische Welt
übertragbar wären. Erstens der Klassenwechsel nach Geburtstag – dass also jeder
Schüler nach seinem Geburtstag in die nächste Klasse kommt. So etwas werde
derzeit beim Schweizerischen Tennisverband ausprobiert, im Schulalltag sei es
jedoch kaum umsetzbar. Zweitens ein wechselnder Stichtag – ein Schuljahr würde
demnach nicht ein Jahr dauern, sondern 15 Monate. So würden die Klassenjüngsten
in der nächsten Klasse die Klassenältesten und der RAE wäre aufgehoben.
Dass
der relative Altereffekt bei Gymi-Schülern mit rund zehn Prozent nicht ausserordentlich
stark ausgeprägt ist – insbesondere im Vergleich zum Nachwuchssport – hat gemäss Volksschul-Leiter Baur auch damit zu tun, dass die Schulklassen
durchlässig seien. «In der Schule ist es jetzt schon durchaus üblich, dass
Kinder wegen ihrer persönlichen Entwicklungsstufe früher oder später
eingeschult werden und Klassen überspringen oder wiederholen. Gerade beim
Überspringen aber gibt es noch Potenzial nach oben, das wird noch zu selten
gemacht.» Allgemein gelte es auch festzuhalten, dass sich die Schule vom
Leistungssport klar unterscheide, weil die Aufgabe nicht sei, die Top-Talente
möglichst weit zu bringen, sondern für alle Schülerinnen und Schüler eine
möglichst solide Ausbildung zu gewährleisten.
Oswald Inglin, Basler
CVP-Grossrat und langjähriger Gym-Lehrer und Konrektor, sagt: «Dass der
Geburtsmonat einen Einfluss auf die Chance hat, das Gymnasium zu besuchen, war
mit nicht bewusst und überrascht mich entsprechend. Einer Lehrperson ist kaum
bewusst, welche Schülerinnen und Schüler im gleichen Jahrgang einige Monate
älter sind als andere und dass deren Leistungen allenfalls besser sind als jene
jüngerer Klassenmitglieder. Eine unterschiedliche Bewertung war auch nie Thema
an unserer Schule und wäre im Moment reglementarisch auch nicht machbar.»
Ein
Systemwechsel, etwa mit der von Sportwissenschaftler Faude ins Spiel gebrachten
unterschiedlichen Benotung gleicher Leistungen je nach Alter, sieht er als
nicht praktikabel und zu komplex, alleine schon deshalb, weil in der gleichen
Klasse die Jahrgangs-Streuung gerade an Gymnasien bis zu drei oder gar mehr
Jahrgangsstufen umfassen kann. «Ein Alleingang von Basel-Stadt wäre zudem wohl
unmöglich, weil ein entsprechendes System an Maturitätsschulen schweizweit
gleicht gehandhabt werden müsste. Aber ich bin durchaus der Meinung, dass das
Phänomen beispielsweise an der Fachhochschule Nordwestschweiz genauer
untersucht werden und die genaue Relevanz für das Basler Schulsystem geklärt
werden könnte.» Dass der Geburtsmonat mitentscheidend sei darüber, ob ein
Schüler ans Gymnasium komme oder nicht, sei sicherlich kein gewünschter Effekt.
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