Sind unsere Lehrkräfte mit der integrativen
Beschulung behinderter, lernschwacher und verhaltensauffälliger Schülerinnen
und Schüler in Regelklassen überfordert? Diese Frage stellen sich im Kanton
Solothurn einmal mehr Parteien und bildungsnahe Organisationen, die ihm Rahmen
einer Vernehmlassung zur Speziellen Förderung und Sonderpädagogik, deren Frist
am Freitag ablief, Stellung beziehen mussten.
Das Bildungsrad etwas zurückdrehen, Oltner Tagblatt, 8.10. von Beat Nützi
Es schleckt keine Geiss weg, dass das integrative Schulmodell umstritten ist, nicht nur im Kanton Solothurn, sondern landesweit. Kritik gibt es seit Jahren von verschiedenen Seiten. Es sei verfehlt, der Schule diese zusätzliche Verantwortung zu übertragen, weil sie zu einer Überlastung der Lehrerschaft und zu einer Nivellierung nach unten führe, reklamieren die politischen Gegner der integrativen Schule.
Und Lehrerverbände sowie Gewerkschaften warnen vor einem Kollaps der
Schule; sie drängen vor allem auf zusätzliche personelle Ressourcen, die nötig
seien, um den Unterricht in den sehr heterogen zusammengesetzten Klassen in der
gebotenen Qualität überhaupt erbringen zu können.
Wohl bilden Regelklassen für Kinder mit leichten
Verhaltensauffälligkeiten, Lernbeeinträchtigungen oder körperlichen
Behinderungen grundsätzlich ein besseres und anregenderes Lernmilieu als
Sonderklassen. Es ist aber auch nicht zu verschweigen, dass das für Kinder mit
schweren Verhaltensauffälligkeiten oder starken kognitiven Beeinträchtigungen
nicht gilt. So braucht es eben auch die Möglichkeit der Separation. Integration
und Separation sollen sich nicht ausschliessen, sondern Hand in Hand gehen.
Erfahrungen in Oensingen
Eine spezielle Belastung haben die Schulen in den letzten Jahren durch
die Aufnahme und Integration zahlreicher Flüchtlingskinder erfahren. Über
entsprechende Erfahrungen berichten in der jüngsten Ausgabe der Schweizer
Lehrerinnen- und Lehrerzeitung die beiden Schulleiterinnen von Oensingen, Rita
Haefeli und Maja Wyss. Sie meinen: Je jünger die Kinder sind, desto leichter
lassen sie sich integrieren.
Gemäss den beiden Schulleiterinnen ist die Integration am schwierigsten
bei Pubertierenden, die erhebliche Leistungsdefizite aufwiesen und deshalb in
der Regelstufe auf einem tieferen Niveau als die gleichaltrigen einheimischen
Kinder eingestuft werden müssen. Sie sind dann erheblich älter als ihre
Mitschüler und haben mit ihnen deshalb oft keine gemeinsamen Themen und
Interessen.
Zu einer Überforderung von Lehrkräften kommt es laut der beiden erfahrenen
Schulleiterinnen vor allem dann, wenn plötzlich mehrere Kinder in eine
Regelklasse integriert werden müssen. Für diesen Fall erachten es die beiden
Bildungsfachfrauen als unumgänglich, dass die Schulen – eventuell mit
Nachbargemeinden – Integrationsklassen einrichten, um den Kindern zunächst ein
sprachliches Fundament zu geben, bevor sie in die Regelklassen integriert
werden.
Kantonale Spezialangebote
Auch die in Oensingen gemachten Erfahrungen zeigen auf: In den Schulen
braucht es Integration und Separation. Heute spricht man von
«Integrationsklassen» mit dem Ziel, durch individuelle Förderung Schülerinnen
und Schüler für die Regelklassen fit zu machen. Früher verfolgte man dieses
Ziel mit Kleinklassen und Einführungsklassen.
Es scheint, dass die Bildungsverantwortlichen des Kantons das Rad wieder
etwas zurückdrehen wollen oder müssen – mit Spezialangeboten (zeitlich
befristete, sonderschulische und pädagogisch-therapeutische Angebote), die der
Kanton zu berappen hat, während die Regelschulen in der Hoheit der Gemeinden
verbleiben.
Für Chancengleichheit
Fazit: Lehrpersonen und Heilpädagogen stossen täglich an Grenzen beim
Versuch, mit integrativer Beschulung eine «Schule für alle» zu schaffen, wie
sie von Politik und Wissenschaft seit Jahren propagiert wird. Viele klagen über
mangelnde Ressourcen und unlösbare Aufgaben.
Ist die schöne Idee der Chancengerechtigkeit etwa eine Illusion? Wer
Chancengleichheit bloss in integrativen Klassen sieht, muss diese Frage wohl
bejahen. Zu verneinen ist sie hingegen, wenn für spezielle Schulförderungen
auch separate Klassen vorgesehen sind. Denn gewisse Schülerinnen und Schüler
können so besser gefördert werden.
Das dient dem Gebot der Chancengleichheit, nach dem alle Kinder und
Jugendlichen bestmöglich gefördert werden sollen – in einer Regelklasse oder in
einer separaten «Förderklasse», das heisst in einer kleinen Klasse, in der eine
individuellere Förderung möglich ist.
Deshalb: Es lebe die (regionale) Kleinklasse! Überprüfenswert wäre auch
die Wiedereinführung von (regionalen) Einführungsklassen, mit denen man
seinerzeit eine Rückführungsquote in die Regelklassen von gegen 90 Prozent
erreichte. Gibt es eine bessere Förderung?
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