Kinder,
die zuviel gelobt werden, mutieren zu schwierigen Prinzessinnen oder Prinzen.
Erziehungsexpertin Margrit Stamm über zuviel Lob, Migrosmagazin, 6.9. von Claudia Langenegger
Wie viel Anerkennung tut einem Kind gut?
Eine für alle geltende Grenze gibt es nicht. Ein ängstliches Kind
braucht vielleicht mehr Lob als ein selbst sicheres. Grundsätzlich gilt: Kinder
brauchen nicht immer und für alles Anerkennung. Sie brauchen Lob nur dann, wenn
sie etwas geleistet oder vollbracht haben.
Mit welchen Problemen haben Kinder zu kämpfen, die zu viel Anerkennung
bekommen?
Sie können sich nicht ein- und unterordnen, nicht warten und schlecht
verlieren.
Warum ist das eine Folge von Lob?
Bekommt ein Kind dauernd Lob zu hören, fördert dies sozusagen den Appetit
auf mehr. Wenn immer alles super ist, was es macht, verzerrt sich sein
Selbstbild, und es verlernt, kritikfähig zu sein. Kritik hilft aber. Durch
wohlwollende Kritik entwickelt das Kind ein realistisches Selbstkonzept.
Wann soll man Kinder kritisieren?
Ein Beispiel: Ein Kind fertigt eine Geburtstagszeichnung für sein Grosi,
gibt sich aber überhaupt keine Mühe, sondern kritzelt hastig etwas hin. Die
Mutter sagt nichts und verbessert die Zeichnung selbst – sie nimmt somit dem
Kind alles ab. Wenn die Mutter hingegen findet, das Kind könne viel
sorgfältiger zeichnen, sollte sie ihm das sagen. So lernt das Kind, eine
Aufgabe gewissenhafter zu erledigen, sich zu überwinden und an einer Sache
dranzubleiben.
Sind Durchhaltewillen und Sorgfalt nicht Fähigkeiten, die Kinder in der
Schule lernen können?
In Schule und Kindergarten lässt sich weiterentwickeln, was ansatzweise
schon da ist. Wird ein Kind daheim ständig gelobt und entlastet, stellt es sich
schnell quer, wenn es mal nicht so reibungslos läuft.
Wie können Eltern lernen, sich mit Lob zurückzunehmen?
Als Erstes muss man bereit sein, sein eigenes Verhalten ehrlich
anzuschauen, und sich bewusst werden, wie sehr man sein Kind mit Lob
überschüttet. Man muss im Alltag aufmerksam werden und aufhören, immer alles kommentieren
und kontrollieren zu wollen – und Distanz zum Kind gewinnen.
Mit Lob kann man Kinder also nicht stärken. Wie gewinnen sie denn an
Selbstbewusstsein?
Indem sie Hürden und Hindernisse überwinden und Risikosituationen
bewältigen. Selbstbewusst wird man, wenn etwas gelingt, wofür man kämpfen
musste. Ich habe kürzlich ein Mädchen beobachtet, das auf einem Mäuerchen
balancierte. Die Mutter liess es machen, obwohl das Unterfangen gefährlich war.
Nachdem es die zwei Meter geschafft hatte, strahlte das Mädchen über das ganze
Gesicht. Es hatte diese Riesen-herausforderung gemeistert, seine Angst
überwunden und eine Risikosituation bewältigt. Das war aber nur möglich, weil
die Mutter ihrem Kind etwas zutraute.
Sind Eltern also verantwortlich, wenn Kinder sich zu Prinzen und
Prinzessinnen entwickeln?
Nein. Man kann nicht den Eltern die Schuld geben. Verwöhnte Kindersind
nicht nur ein Ergebnis von zuviel Lob, sondern auch eine Folge einer Angst- und
Sicherheitskultur. Viele Eltern stehen unter Druck, haben Angst zu versagen.
Wir sehen ja alle, wie schnell Eltern nervös werden, wenn ihr Kind im Tram
schreit.
Eltern halten die negativen Gefühle ihrer Kinder oft schlecht aus.
Genau. Da ist die Angst, das Kind könnte psychischen Schaden nehmen,
wenn man nicht sofort reagiert, sobald es sich schlecht fühlt. Zudem gibt es
für jegliche kindliche Eigenheit Fachstellen, die Eltern auffordern, sich
sofort beraten zu lassen. Trotz- oder Schreikinder gelten heute in jedem Fall
schon als Risikokinder – damit spricht man den Eltern aber ab, dass sie mit
Trotzkindern umgehen können.
Warum hat die Gesellschaft sich in diese Richtung entwickelt?
In den vergangenen Jahren ist das Bild entstanden, Kinder seien bloss
verletzbar und schützenswert. Vor 20 Jahren hingegen hielt man Kinder noch für
robust; man traute ihnen zu, Selbstkompetenz aus sich selbst heraus zu
entwickeln. Viel zu oft übernehmen heute die Eltern diese Aufgabe. In der Folge
werden Kinder abhängig. Ich fürchte, dass sie dadurch zu verweichlicht und zu
wenig widerstandsfähig für das Leben sind – ob nun draussen in der Berufswelt
oder im Privateben.
Was passiert mit diesen Kindern, wenn sie älter werden?
Das Behüten zieht sich oft ins Erwachsenenalter hinein. Es gibt zum
Beispiel Mütter, die den Lehrer anrufen, weil ihr Kind infolge einer schlechten
Note ein Tief hat und nicht zur Schule gehen kann. Es gibt Eltern, die ihre
Kinder an Prüfungen und sogar an Eröffnungsveranstaltungen an der Universität
begleiten. Auf diese Weise findet eine Fortsetzung der Unmündigkeit statt.
Sind verwöhnte Kinder eine Folge der Tendenz, kindliche Anliegen immer
ernster zu nehmen?
Es ist gut, dass es Dinge wie die UN-Kinderrechtskonvention gibt und
Kinder das Recht auf ein gesundes Aufwachsen haben. Der sehr wichtige Gedanke,
den Nachwuchs ernst zu nehmen, geht aber heute weit über die ursprünglichen
Anliegen hinaus. Ich sehe auch, dass Erziehungsratgeber oft dramatisieren.
Sehen Sie einen Ausweg?
Nur mit einer Veränderung in der Gesellschaft: Man müsste die Angst
weniger pflegen und überlegen, ob es die Beratungsfachstellen im bestehenden
Ausmass braucht. Es wäre sinnvoller, sich mit den Erziehungskompetenzen der
Eltern zu beschäftigen und das Aufwachsen des Kindes mit seinem Auf und Ab
wieder als etwas Normales zu betrachten.
Margrit Stamm (66) ist Direktorin des Forschungsinstituts Swiss
Education in Bern und emeritierte Professorin der Universität Freiburg.
Margrit Stamm über elterliche
Aufmerksamkeit und kindliche Frustrationstoleranz
Kinder bekommen heutzutage viel Aufmerksamkeit. Warum halten Sie das für
problematisch?
Die Auswirkungen beobachtet man schon bei kleinen Kindern: Viele
Kindergartenkinder brauchen ständige Aufmerksamkeit und können kaum
akzeptieren, wenn etwas nicht so läuft, wie sie wünschen. Das ist anstrengend.
Kann man Kinder lehren, mit Frust umzugehen?
Ja, man kann ihnen beibringen, mit negativen Erfahrungen und Gefühlen
umzugehen, indem man sie nicht ununterbrochen betreut und nicht stets hinrennt,
wenn etwas ist. Man muss ein Kind bei einem Brettspiel auch nicht absichtlich
gewinnen lassen oder das ältere Geschwister beim Wettrennen anstiften, langsamer
zu rennen.
Weniger Beachtung wäre also gut?
Oft. Aber viele Elternpaare getrauen sich kaum mehr, weniger
Aufmerksamkeit auf die Kinder zu richten und mehr auf die eigene Befindlichkeit
als Paar – und deshalb die Kinder mal für sich sein zu lassen. Es wäre aber ein
Geschenk für die Kinder, wenn die Erwachsenen nicht mehr jeden ihrer Schritte
kontrollieren würden.
Viele Eltern scheinen auch unsicher zu sein.
Ja, es fehlt Eltern häufig an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit.
Viele von ihnen haben verlernt, intuitiv zu beurteilen, ob ein Kind nun
tatsächlich in Gefahr ist, ob bloss das Risiko dafür besteht oder ob das Kleine
nur gerade unpässlich ist. Es gibt ja heute für alles ein Notfalltelefon. Und
so landen Kinder heute mit 37 Grad Körpertemperatur in der Notfallstation.
Warum geraten Eltern so schnell in Panik?
Das Umfeld spielt eine grosse Rolle. Eltern stecken einander an: Wenn im
Quartier alle schnell auf Panik machen, muss man sehr stark sein, um dem
standzuhalten. Es findet oft auch ein Wettbewerb unter Müttern statt: Welche
Mutter hat die grösste Nähe zum Kind? Welches Kind schmust am häufigsten mit
Mami?
Nehmen moderne Mütter ihre traditionelle Mutterrolle zu ernst?
Obwohl viele Frauen berufstätig sind, haben ihre Kinder immer noch eine
massive Bedeutung. Die Gesellschaft verlangt gewissermassen von Müttern, dass
das Kind immer an erster Stelle kommt. Und die Mutter wird nach wie vor als die
für die Erziehung verantwortliche Person angesehen. Das erzeugt Druck: Die
Mutter ist verantwortlich dafür, ob und wie gut das Kind gefördert wird und ob
es sich psychisch gut entwickelt. Diese neue Mutterschaftsideologie führt vor
allem zu Schuldgefühlen und zu Burn-outs bei den Müttern
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