9. Oktober 2013

Integrative Wirrnisse inklusiv

Neben dem Lehrplan 21 gilt der Umgang mit behinderten oder schwachen Schülern als grösste Herausforderung der gegenwärtigen Volksschule. Dabei zeigt sich, dass die Umsetzung alles andere als gut geregelt und koordiniert verläuft.
Jeder Kanton hat in letzter Zeit ein eigenes Reglement für die Integration von lernbehinderten oder lernschwachen Kindern erstellt. Dies geschah unabhängig von der Frage, was es überhaupt bringt, Lernbehinderte in eine Regelklasse zu integrieren. Ob die Kinder in ihrer neuen Lernumgebung tatsächlich auch mehr lernen, ist nämlich noch gar nie untersucht worden. Innerhalb der Kantone kommt es häufig zu Unterschieden in der praktischen Umsetzung von Gemeinde zu Gemeinde. Damit aber nicht genug: Nun droht auch noch die totale begriffliche Desorientierung. Für dasselbe Konzept existieren mittlerweile drei Begriffe, die untereinander vertauscht werden: Integration, integrative Förderung und Inklusion.








Bild: Phil Hubbe










Integration ist der Begriff der ersten Stunde. Eine sehr ungeschickte Wahl, denn mit Integration ist ja die Einbettung von Zugezogenen ins Alltagsleben der Schweiz gemeint. Die zweite Wortschöpfung "integrative Förderung" weist zwar auf einen schulischen Kontext hin, ist aber doch sehr technokratisch und täuscht als weitere Option auch die separierende Förderung vor. Der dritte Begriff "Inklusion" hat den Vorteil, dass daraus leicht das Adjektiv "inklusiv" abgeleitet werden kann. Das hilft beim Verständnis des Fremdwortes und trifft die Sache recht genau: Bisher Aussenstehende sollen neu dazu gehören. Die drei unterschiedlichen Abstrakta werden in der Diskussion als Schlagworte eingesetzt, gemeint ist eigentlich immer dasselbe.

Im schulischen Alltag werden wir wohl mit dieser Begriffsinflation leben müssen. Das diffuse Konzept dahinter wird jedoch mit Hilfe von unklaren Begriffen weiter mystifiziert. In der Praxis zeigen sich noch weitere Verstrickungen. Es gibt ja auch noch die Sonderschulen und die Kleinklassen, die scheinbar doch nicht überall abgeschafft worden sind. Wenn nun der EDK-Präsident in spe in der NZZ am Sonntag meint, böse Buben gehörten nicht in eine Regelklasse und wenn, wie der Beobachter berichtet, Eltern sich mit den Schulbehörden über die Zuteilung in eine Sonderschule streiten, dann scheinen noch nicht alle Fragen geklärt zu sein. Wer kommt nun in die Regelklasse, wer in die Sonderschule und wer allenfalls in Kleinklassen? Diese Fragen werden je nach Kanton und Gemeinde unterschiedlich beantwortet. Ist ein solch begriffliches und schulisches Durcheinander eventuell bewusst geschaffen worden, um die Zustände rund um die Förderung von Schülern zu verschleiern? Untersuchungen zur Entwicklung der Schülerzahlen kommen nämlich zu seltsamen Resultaten. Während möglichst viele Kinder in Regelklassen integriert werden, steigt gleichzeitig auch die Zahl der Betreuungsfälle in Sonderschulen. Im Schuljahr 2005/06 wurden im Kanton Bern drei Kinder mit Asperger-Syndrom unterstützt, fünf Jahre später waren es 142! Ist das Chaos von der Sprache über die Politik nun endgültig auch in der Schulrealität angekommen?

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