8. Oktober 2013

Die Weisheit der Praxis

Der folgende Text wurde mir von Alain Pichard zur Verfügung gestellt. Ich zitiere daraus einen Auszug und muss gestehen, dass mir auch schon Ähnliches passiert ist.
Es geschah während einer Stadtführung in La Chaux de Fonds. Die Führerin mühte sich redlich ab, den Anwesenden die phänomenale Städtestruktur der Uhrenmetropole im Jura zu erklären. Etwa die Hälfte der 20 SchülerInnen hörte interessiert zu oder tat wenigstens so, andere liessen ihre Augen auf die vielen Uhren schweifen, die ihnen anzeigten, dass die Führung noch über eine halbe Stunde dauern sollte. Zwei Mädchen hörten nicht zu, sie redeten miteinander, zwei andere lachten laut, weil sie bemerkten, dass einer ihrer Kollegen plötzlich nicht mehr anwesend war.
Eine von Ihnen griff zum Hörer, um den Vermissten aufzuspüren. Lautes „Aha“, Wegerklärungen, saloppe Sprüche und ein Gekichere waren die Folge. Die Städteführerin musste dies bemerken, fuhr aber tapfer weiter.
Der Klassenlehrer blickte zurück, verzog aber keine Miene. Am Schluss sollten die vier Mädchen nach einem freien Ausgang sagen, dass es eine doofe Stadt gewesen sei. Man habe einen Coiffeursalon gesucht, nicht einmal das gäbe es an diesem komischen Ort. Und eine meinte, Stadtführungen interessierten sie eh nicht.
Man könnte dieses läppische Ereignis abbuchen unter dem Thema meines Artikels, welche der angeblich zunehmenden Unkonzentriertheit und der Motivationslosigkeit unserer heutigen Lernenden beschäftigt und es gleichzeitig als schulmässigen Einstieg in meine Ausführungen gebrauchen.
Die Krux ist allerdings, dass es sich bei dieser Gruppe nicht um eine Oberstufenklasse mit einem peinlich berührten Klassenlehrer handelte, sondern um einen Kollegiumsausflug. Die vier SchülerInnen waren allesamt Lehrkräfte, darunter eine Geschichtslehrerin, der Klassenlehrer war der Schulleiter.
Für Kursleiterinnen und –leiter in unserem Lande ist der Befund klar. Auf den ersten Blick ist eine Lehrerveranstaltung ohne Ritalin kaum zu bewältigen. Die SchulmeisterInnen des Landes verhalten sich an Fortbildungsanlässen, Konferenzen oder Seminarien nicht selten schlimmer als die unmotivierteste Klasse. Sie kommen zu spät in den Kurs, sprechen mit dem Tischnachbarn, fallen einander ins Wort, tippen auf dem Handy herum, korrigieren ihre Schularbeiten, hören nicht zu und stellen Fragen, die vor fünf Minuten bereits beantwortet wurden.

Umso ironischer empfinde ich danach die Klagen aus denselben Kreisen über unsere heutige SchülerInnenschaft. Eine Belastungsstudie im Kanton Aargau zum Beispiel hat gezeigt: Am meisten gestresst fühlen sich Aargauer Lehrpersonen durch «schwierige», undisziplinierte Kinder und Jugendliche.
Quelle: Textausschnitt von Alain Pichard (Die Weisheit der Praxis)

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