Crispino
Bergamaschi, Direktionspräsident der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist
leidenschaftlicher Verfechter des dualen Bildungssystems. Er spricht über die
Herausforderungen der nächsten Jahre und erklärt, warum die Masterausbildung
für Primalehrpersonen für ihn zurzeit kein Thema ist.
Crispino Bergamaschi leitet die FHNW mit 9 Hochschulen an 6 Standorten, Bild: Chris Iseli
Ein Master-Abschluss löst die Probleme der Primarlehrer nicht, Aargauer Zeitung, 4.9. von Jörg Meier
|
Crispino Bergamaschi leitet die
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) seit sechseinhalb Jahren. Der 54-jährige
Wohler hat fast schon idealtypisch alle Qualitäten und Chancen genutzt, die das
duale Bildungssystem auszeichnen: Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen,
Berufslehre bei Sprecher & Schuh in Aarau; Ingenieurstudium an der
damaligen HTL in Brugg-Windisch, Wechsel an die ETH, er promoviert, wird
Professor. Heute ist er Direktionspräsident der Fachhochschule Nordwestschweiz
mit den neun Hochschulen an sechs Standorten in vier Kantonen, die von rund 12
000 Studierenden besucht werden. Wir treffen uns zum Gespräch in seinem Büro im
4. Stock des Campus in Brugg-Windisch; dazu serviert er Tee, den ihm seine
Tochter aus Russland mitgebracht hat.
Herr Bergamaschi, vor vielen
Jahren, ganz am Anfang Ihrer Karriere, waren Sie Lehrling in einer grossen
Werkhalle in Aarau. Ist diese Erfahrung hilfreich für den Chef der FHNW?
Crispino Bergamaschi:
Natürlich hat mich diese Sozialisation geprägt. Ich denke, es ist gar nicht
schlecht, wenn der Chef aus eigener Erfahrung weiss, wie Bohrwasser riecht.
Andererseits darf man nicht vergessen, dass das bald 40 Jahre her ist – und die
Lehrlingswelt ist eine andere geworden.
Was ist Ihnen speziell in
Erinnerung geblieben?
Der Übergang von der Schule in die
Arbeitswelt hat mich damals extrem irritiert: Ich war plötzlich nicht mehr mit
meiner vertrauten Schulklasse zusammen, sondern stand in der grossen Werkhalle,
zusammen mit Menschen zwischen 15 und 65 Jahren, mit ihren verschiedenen
Geschichten, Werten und Haltungen. Diese plötzliche Konfrontation mit der
Arbeitswelt war am Anfang gewöhnungsbedürftig – aber auch äusserst
faszinierend.
Heute ist aus dem Lehrling von
damals der Leiter einer komplexen Organisation geworden; was fasziniert Sie
heute an Ihrer Aufgabe?
Ich habe das Privileg, mit meiner Arbeit
einen Beitrag für die duale Bildung in der Schweiz leisten zu können. Wir haben
neun hervorragende Hochschulen mit starken Persönlichkeiten als Direktorinnen
und Direktoren. Es ist auch ein Privileg, mit so vielen interessanten Menschen
zusammenarbeiten zu können, täglich Neues zu lernen und die Entwicklung der
FHNW zu gestalten.
Die FHNW wird allgemein
gerühmt, die Finanzen stimmen, die Drittmittel fliessen, die Studierenden
strömen. Wo sind denn da die Herausforderungen?
Es ist richtig, die FHNW funktioniert gut,
wir sind eine «well oiled Machine» wie ein Kollege jeweils sagt, halten die
Ziele des Leistungsauftrages ein. Aber trotzdem kann es nicht unser höchstes
Ziel sein, die bestverwaltete Fachhochschule im Land zu sein. Mir geht es
darum, die Zukunftsfähigkeit der FHNW zu sichern. Darüber denken wir nach,
dafür versuche ich, Leute zu begeistern, dass sie Zeit und Lebensenergie investieren
– aber die Entwicklung dieser Strategie 2025 kostet natürlich auch Geld.
Worum geht es in dieser
Strategie?
Unser Problem ist – etwas plakativ
ausgedrückt: Wir bilden mit unserem Wissen und unserer Erfahrung von gestern
heute Leute für morgen aus. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.
Was bedeutet das konkret?
Ich nenne nur drei Trends, die uns
besonders beschäftigen: digitaler Wandel, Alterung der Gesellschaft und
Fachkräftemangel. Mit unserer Strategie 2025 versuchen wir, die Studierenden
auf die Chancen und Risiken der globalen und nationalen Trends in einer sich
dynamisch verändernden Welt vorzubereiten.
Dazu stellen wir uns Fragen,
die wir in Expertengremien intensiv diskutieren: Was bedeutet der digitale
Wandel für Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft? Was bedeutet er für den
Unterricht?
Wie verändern sich die Arbeitsplätze?
Welche neuen Kompetenzen sind gefragt? Und was folgt daraus für Unterricht und
Ausbildung?
Wie werden sich Ausbildung und
Inhalte verändern?
Da habe ich zwei Thesen: Dank der
Digitalisierung werden wir die Ausbildung noch stärker individualisieren und
personalisieren können. Wir möchten noch besser verstehen, wie unsere
Studierenden lernen, wie wir sie am besten unterstützen können. Die volle
Virtualität aber wird nicht funktionieren. Menschen brauchen andere Menschen.
Aber welche Infrastruktur brauchen wir dazu? Kompetenzorientierung in der
Ausbildung wird stärker gefördert, Normorientierung, wie zum Beispiel ein
starres Notensystem, wird an Bedeutung verlieren.
Können Sie das erklären?
Als einfacher Ingenieur, der ich bin,
versuche ich es mit einem Beispiel: Ein Brückenbauer kann eine Brücke bauen
oder er kann es nicht. Wenn er sie einmal zu kurz und ein anders Mal zu lang
baut, kann er nicht einfach den Durchschnitt nehmen.
Und wie lautet die zweite
These, was die Veränderung von Ausbildung und Inhalten betrifft?
Ich bin überzeugt, dass gewisse
Herausforderungen, die uns die Gesellschaft stellt, ich nenne da etwa die
zunehmende Überalterung, nur noch multidisziplinär gelöst werden können. Und da
sind wir als Fachhochschule Nordwestschweiz mit unseren neun verschiedenen
Hochschulen gut aufgestellt. Also gilt es, die multidisziplinäre Kompetenz der
Fachhochschule zu Analyse, Bearbeitung und Lösung zu nutzen, zu fördern und zu vermitteln.
Apropos Ausbildung. Die
Rektoren der Pädagogischen Hochschulen verlangen, dass künftig auch
Kindergärtnerinnen und Primarlehrer einen Masterabschluss brauchen. Was halten
Sie von dieser Forderung?
Das ist in den nächsten Jahren überhaupt
kein Thema an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Wir werden in dieser Sache
nicht aktiv, werden auch keine
Pionierrolle übernehmen.
Pionierrolle übernehmen.
Das heisst, Sie sind gegen die
Verlängerung der Studienzeit?
Von den Primarlehrpersonen wird extrem viel
verlangt. Sie müssen einerseits mit der immer komplexer werdenden Heterogenität
der Klassen umgehen können. Andrerseits ist breites fachspezifisches Wissen und
Können gefragt. Offensichtlich ist auch, dass die dreijährige Ausbildung,
angesichts der zusätzlichen Anforderungen wie Frühfremdsprachen und Informatik,
an ihre Grenzen stösst. Also muss man sich fragen, wie die Ausbildung oder auch
das Berufsprofil verändert werden müssen, damit die Probleme kleiner werden.
Ich kann mir vorstellen, dass es bessere und zielführendere Lösungen gibt als
die Verlängerung des Studiums mit Masterabschluss. Aber letztlich ist das der
Entscheid der Erziehungsdirektorenkonferenz.
Die vier Kantone Aargau,
Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Solothurn sind die Träger der Fachhochschule
Nordwestschweiz. Wie gut funktioniert der 2006 künstlich geschaffene
Bildungsraum Nordwestschweiz? Im normalen Leben haben die Bewohner der vier
Kantone ja wenig Verbindendes.
Das ist so. Ich nehme etwa zwischen den
beiden Basel und dem Kanton Aargau immer wieder auch eine geografische,
kulturelle oder mentale Barriere wahr. Von Sissach aus ist man mit dem Zug
schneller in Aarau als in Basel – aber welcher Sissacher reist denn schon
freiwillig nach Aarau? Der Bildungsraum Nordwestschweiz ist ein anspruchsvolles
Konstrukt, aber heute funktioniert er gut, die Leute haben sich daran gewöhnt.
Ich denke auch, dass die Wunden verheilt sind, die bei der Gründung entstanden
sind, etwa als Muttenz sein Tech verlor oder der Aargau die Schule für
Gestaltung abgeben musste. Trotzdem stelle ich immer wieder fest, dass auch im
Aargau immer noch Informationsbedarf über das Wesen der Fachhochschule
Nordwestschweiz besteht.
Woran merken Sie das?
Kürzlich sagte ein Aargauer
Kulturschaffender an einer Sitzung zu mir, es sei doch jammerschade, dass der
Aargau keine Kunsthochschule habe.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe ihm erklärt, dass der Aargau sehr
wohl eine Kunsthochschule hat. Sie sich einfach in Basel befindet. Und wir sie
gemeinsam mit drei anderen Kantonen teilen. Dann habe ich ihn nach Basel
eingeladen und ihm die Hochschule für Gestaltung und Kunst gezeigt. Das kam gut
an.
Zum Schluss. Wie sehen Sie die
ideale FHNW?
Sie ist die innovationsstärkste
Fachhochschule in der Schweiz, sie ist konsequent praxisorientiert, sie ist
gleichzeitig geerdet und dynamisch. Ich weiss, das ist anspruchsvoll in einem
Umfeld, in dem die Finanzen dominieren. Aber wir arbeiten intensiv daran.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen