Jedes Kind kennt die toten Tiere. Auf dem Korpus hinten im
Biologiezimmer klebt ein präparierter Buntspecht an einem Stück Holz, erstarrt
in seiner Klopfbewegung. Im Schrank harren Eichhörnchen und Fuchs regungslos
der Dinge. Und zuoberst auf dem Bücherregal thront ein Turmfalke mit
aufgespannten Flügeln. Er starrt mit seinen kleinen, schwarzen Glasaugen wie
ein Wächter auf die Schulklasse herab. Einzig der Staub auf seinen Federn
verrät, dass er erstarrt und nicht gefährlich ist. So dachte man zumindest.
Jedes Präparat wird auf Arsen geprüft, Bild: NZZ
Vorsicht, giftige Tiere! NZZaS, 17.9. von Christine Brand
|
Heute ist klar, dass vom Turmfalken ebenso wie vom harmlos wirkenden
Eichhörnchen und von den meisten anderen präparierten Tieren sehr wohl eine
Gefahr ausgehen kann: Zehntausende von Tierpräparaten, die in Schweizer
Schulhäusern, in Museen, in wissenschaftlichen Archiven und in Privatsammlungen
stehen, sind giftig. Sie weisen einen Arsengehalt auf, der teilweise um ein
Vielfaches über dem Grenzwert liegt. Selbst der Staub aus dem Gefieder des
Falken ist arsenbelastet. Zwar fällt niemand tot um, der ihn berührt. Aber
Arsen kann Krebs verursachen.
«Das hier ist unser Corpus Delicti.» Stefan Hertwig, Kurator am
Naturhistorischen Museum der Burgergemeinde Bern, schliesst eine Tür auf, die
etwas versteckt neben dem Empfang liegt. Dahinter erwartet ihn ein illustrer
Zoo der toten Tiere: Auf Regalen liegen, stehen und sitzen dicht gedrängt
mehrere hundert präparierte Tiere aus der ganzen Welt. Es handelt sich um die
Ausleihsammlung des Naturhistorischen Museums. Meist sind es Lehrer, die sich
hier Tierpräparate borgen, um sie ihren Schülern zu zeigen.
Doch im Moment ist die Sammlung geschlossen, kein Tier verlässt das
Haus. Stattdessen wird jedes einzelne Präparat auf seinen Arsengehalt getestet.
«Bei den Objekten, die zur Ausleihe vorgesehen sind, war klar, dass wir handeln
mussten», sagt Hertwig. 80 der ältesten Objekte haben er und sein Team bereits
gemessen; knapp die Hälfte wiesen einen Wert, der höher war als der Grenzwert
von 1000 Milligramm Arsen pro Kilo, auf. Diese Präparate werden aus der
Sammlung entfernt und nicht mehr ausgeliehen. «Gesetz ist Gesetz», sagt Kurator
Hertwig. Die anderen werden mit dem gemessenen Arsenwert beschriftet und mit
Warnhinweisen versehen.
Insektengift gegen Motten
Zwar sind die Tierpräparate heute kein bisschen giftiger als all die
Jahre zuvor. Doch zum einen gilt seit kurzem ein tieferer Grenzwert für Arsen.
Zum anderen ist im vergangenen Frühjahr der Umgang mit Arsen in einer
Biozidverordnung neu definiert worden: Für Kinder und Jugendliche unter 18
Jahren gilt seither eine «Exposition null». Das bedeutet, sie dürfen mit Arsen
nicht in Kontakt kommen. Die strikte Regelung mag dem Zeitgeist eines
sensibleren Risikobewusstseins entsprechen. Gut möglich auch, dass bei dieser
Formulierung niemand daran gedacht hat, dass Tierpräparate betroffen sein
werden. Die Folge der neuen Verordnung aber ist: Grosse und kleine Museen,
private Sammler und vor allem unzählige Schulen im ganzen Land, bei denen
Sammlungen von Präparaten quasi zum Hausinventar gehören, müssen handeln.
Längst nicht allen ist dies bewusst.
«Wir wussten, dass da etwas auf uns zukommt», sagt hingegen
Museumskurator Stefan Hertwig. Dass jetzt plötzlich offiziell giftig ist, was
jahrzehntelang gemeinhin als harmlos galt, hat in der Szene niemanden
überrascht. Die Tierpräparatoren wissen schon lange, dass das, was ihre
Vorgänger taten, aus heutiger Sicht nicht unbedenklich und vor allem nicht ohne
langfristige Folgen war: In Europa haben Präparatoren bis in die achtziger
Jahre bei der Arbeit mit den toten Tieren Arsen eingesetzt. Andernorts tun sie
dies bis heute. Sie reinigten Felle und Häute und behandelten sie auf der
Innenseite mit Arsenseife, einem Gemisch mit Arsen-III-Oxid. Ziel des
Gifteinsatzes: Die Tierpräparate sollten dadurch vor Insekten geschützt werden,
vor Mottenbefall etwa oder vor dem gefrässigen Museumskäfer.
Schubladen voller Eulen
Das Gift hat sich durch die Tierhaut hinausgearbeitet, das ganze
Präparat ist dadurch arsenbelastet und ebenso der Staub, der sich darauf
sammelt. Eine Studie des Deutschen Instituts für angewandte Umweltforschung
über «Krebserzeugendes Arsen in Tierpräparaten» ergab, dass die Mehrheit der
untersuchten Präparate giftig war. Eine Stockente zum Beispiel war mit 12932 Milligramm
Arsen pro Kilogramm belastet, ein Eichhörnchen mit 8193 Milligramm. Bei einem
Wert ab 1000 Milligramm gilt das Präparat als «stark belastet». Auch bei den
Staubproben wurden Werte bis zu 7000 Milligramm erreicht.
Wie viele Tierpräparate betroffen sind, wird im dritten Untergeschoss
des Naturhistorischen Museums deutlich. Mittels Geheimcode schliesst Stefan
Hertwig den Zugang zur Wissenschaftlichen Sammlung auf. Allein in den
Katakomben des Museums in Bern lagern Zehntausende von Präparaten. Hinter den
Rollregalen lugt ein mächtiger Wasserbüffel um die Ecke. «Höchstwahrscheinlich
arsenbelastet», kommentiert Hertwig. Er zieht Schubladen voll präparierter
Eulen heraus, sieben Exemplare pro Art. Auf der anderen Seite: Duzende von
platten Mäusen, als Bälge auf einem Stück Karton präpariert. Sie dienen der
Wissenschaft, sie werden vermessen, studiert, verglichen. 60000 Wirbeltiere
umfasst die Sammlung. Die älteren Objekte wurden oft mit Arsen behandelt. Im
Keller nebenan lagern Hunderte Felle, für die das Gleiche gilt. Stefan Hertwig
zeigt das Fell jenes Löwen, den der Bernburger und Gosswildjäger Bernhard von
Wattenwyl im Jahr 1924 getötet hat. Zuvor hatte dieser 134 Tiere für das Museum
erlegt, die heute die denkmalgeschützte Afrikasammlung ausmachen. Auch für sie
gilt: arsenbelastet.
Im Museumsarchiv arbeiten die Wissenschafter und die Kuratoren seit
geraumer Zeit mit Handschuhen und Schutzmasken, wenn sie mit Tierpräparaten in
Kontakt kommen. In den Ausstellungen werden die Objekte nur noch hinter Glas gezeigt.
Anders sieht die Situation in vielen kleinen Museen und vor allem in den
zahllosen Schulen aus. «An Schulen werden Präparate in Vitrinen gestellt und
bei Bedarf ins Schulzimmer mitgenommen», stellte Beat Häring fest, der an der
ETH Zürich die Masterarbeit «Arsengehalt in Tierpräparaten» verfasste. «Manche
Präparate werden auch ständig offen im Schulzimmer aufgestellt, in einigen
Schulen durften sie auch berührt werden.» Dabei gilt als oberste Regel zum
Schutz vor Arsen: Anfassen verboten! Und falls man doch in Kontakt kommt, muss
man die Hände waschen. Wer Vitrinen und Tierpräparate reinigt, sollte das nur
mit Handschuhen und Staubmaske tun.
Aus der Schule verbannt
Doch an vielen Schulen ist man sich der Problematik gar nicht bewusst.
In der Westschweiz ist der sichere Umgang mit Tierpräparaten derzeit noch
überhaupt kein Thema. In der Deutschschweiz hat bis jetzt einzig der Kanton
Zürich reagiert: Letzten Herbst hat die Bildungsdirektion alle Schulen in einem
Leitungszirkular auf den richtigen Umgang mit Tierpräparaten hingewiesen.
Winterthur hat daraufhin gehandelt: An der Schule Büelwiesen wurden im
Mai alle 95 Tierpräparate auf Arsen getestet. 88 Objekte – mehr als 90 Prozent
– lagen über dem Grenzwert. Einzelne Präparate wiesen gar Arsenwerte zwischen
27000 und 30000 Milligramm pro Kilogramm auf. Im Juli beschloss die
Winterthurer Regierung darum kurzerhand, alle Tierpräparate aus den
Schulhäusern zu entfernen.
Mittlerweile hat das Departement Schule und Sport der Stadt aber
beschlossen, diesen Entscheid zu revidieren. Die Winterthurer Behörden hätten
überreagiert, lautete die Kritik. Experten warnten davor, naturhistorisch
wertvolle Objekte voreilig als Sondermüll zu entsorgen. Nun erarbeitet die
Abteilung Schulentwicklung unter Einbezug von Fachleuten ein Konzept für das
weitere Vorgehen im Zusammenhang mit Tierpräparaten, wie der Winterthurer
Stadtrat Jürg Altweg erklärt: «Danach werden wir entscheiden, welche Exponate
in welcher Aufbewahrungsform auch künftig in den Schulhäusern belassen werden
können.» Altweg schätzt, dass allein in den Schulen in Winterthur 2000
Tierpräparate betroffen sind.
«Da liegen zum Teil Schätze in den Schulen!», sagt Lukas Keller, Direktor
des Zoologischen Museums Zürich. «Ich will mir gar nicht vorstellen, was alles
unbedacht vernichtet werden könnte, das naturhistorisch und kulturhistorisch
wertvoll ist.» Lukas Keller denkt dabei zum Beispiel an die Haubenlerche, die
um die vorletzte Jahrhundertwende beim Zürcher Stadttheater von einem Fuhrmann
unbeabsichtigt mit der Peitsche totgeschlagen wurde und deren Art in der Stadt
Zürich nicht mehr existiert. Präparate solcher Tiere, genau mit Ort und Datum
bezeichnet, seien unwiederbringlich und von unschätzbarem Wert.
Darum hat das Zoologische Museum mit etlichen Zürcher Schulen Kontakt
aufgenommen. Statt die Präparate via Sondermüll zu entsorgen, können sie dem
Museum übergeben werden. «Wir haben schon einige Sammlungen erhalten», erzählt
Lukas Keller. Das Museum führe nun eine Triage durch, um die wertvollen Objekte
auszusortieren. «Das beschert uns viel Aufwand – den wir aber auf uns nehmen»,
sagt der Museumsdirektor. «Denn es kann nicht sein, dass solche Schätze einfach
vernichtet werden.»
Es wird wohl in den nächsten Monaten noch mehr Arbeit geben für die
Museen und die Archive, die bereit sind, sich der verschmähten Schulsammlungen
anzunehmen. Denn was in Zürich bereits Gültigkeit hat, wird künftig Schulen in
der ganzen Schweiz betreffen: Das Bundesamt für Gesundheit erarbeitet derzeit
einen nationalen Leitfaden für den Umgang mit arsenbelasteten Tierpräparaten.
Diese dürfen demnach künftig nur noch in Vitrinen oder Schränken aufbewahrt
werden und sollten regelmässig gereinigt werden.
«Es gibt keinen Grund zur Panik, aber Vorsicht ist durchaus angebracht»,
sagt Martin Troxler, der Präsident des Verbandes Naturwissenschaftlicher
Präparatorinnen und Präparatoren der Schweiz. «Viele Schulen, die mit ihren
Sammlungen bisher nicht adäquat umgegangen sind, werden Massnahmen ergreifen
müssen.» Sein weissgekacheltes Labor liegt im vierten Stock des
Naturhistorischen Museums Bern und erinnert an eine Mischung aus einer
Bildhauerwerkstatt und einem Operationssaal. Hoch oben an den Wänden ragen
Rohlinge von geschnitzten Tierköpfen wie Trophäen in den Raum: ein Wildschwein,
ein Pferd, ein Nashorn ohne Horn.
Hier wird schon lange nicht mehr mit Arsen gearbeitet. Seit sechs Jahren
ist man sich im Berufsverband der Tierpräparatoren bewusst, dass ganz auf Biozide,
also auf Insektengifte, verzichtet werden sollte. «Wir sind daran, die Biozide
zu ersetzen», sagt Martin Troxler. Die Häute der Tiere besser zu reinigen und
anschliessend zu gerben, sei eine der alternativen Möglichkeiten, um sie vor
Insektenbefall zu schützen. Aber es werde auch an anderen Methoden geforscht.
«Die Schweiz ist europaweit führend in diesem Bereich», sagt Troxler. Ob es je
eine Technik geben werde, um die historischen arsenbelasteten Tierpräparate zu
dekontaminieren und ob ein solcher Vorgang bezahlbar wäre, wisse derzeit
niemand. Nach heutigem Stand der Dinge werden sie wohl für immer giftig
bleiben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen