15 000 Kinder beginnen heute ihre Laufbahn an einer Volksschule, die
sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat.
Der lange Weg durch die Institution Schule, NZZ, 21.8. von Walter Bernet
Freude, Neugier und Stolz auf der einen Seite, Spannung, Unsicherheit
und Angst auf der anderen: Die rund 15 000 Kinder im Kanton Zürich, die am
Montag zum ersten Mal in den Kindergarten marschieren, teilen diese gespaltenen
Gefühle mit ihren Eltern. Kommt das gut? Werden David und Lea, Noah und Anna,
Leon und Sophia, Liam und Alina – so die häufigsten Namen der heute Vierjährigen
– ihren Weg machen?
Es kommt gut, in der Regel. Mit der richtigen Balance zwischen Loslassen
und Mitfühlen, mit dem wachsenden Selbstvertrauen der Kleinen und mit einem
vertrauensvollen Austausch mit den Kindergärtnerinnen sind anfängliche Leidensphasen
bald einmal überwunden. «Die Kinder sind häufig flexibler als ihre Eltern»,
sagt eine erfahrene ehemalige Kindergärtnerin. Man darf den Kleinen etwas
zutrauen.
Eine Schule für fast alle
Das ist keine Behauptung in rein beruhigender Absicht. Dass es in der
Regel gut kommt, bestätigt eine Untersuchung der Schulverläufe von rund 2000
Kindern, die im Jahr 2003 in die erste Klasse der Volksschule eintraten. Luca
und Laura, Marco und Vanessa hiessen viele Kinder zu jener Zeit, und der
Kindergarten lag noch in der alleinigen Verantwortung der Gemeinden. Trotzdem
besuchten schon damals 95 Prozent aller Kinder vor dem Schuleintritt zwei
Kindergartenjahre. Blockzeiten, Schulleitungen, integrierte Förderung oder
Frühenglisch waren noch geplante Neuerungen. Die Umsetzung erstreckte sich über
die ganze obligatorische Schulzeit jener Schüler-Kohorte.
David und Lea, Liam und Alina werden also eine in vielem veränderte
Schule antreffen. Das beginnt schon im Kindergarten. Er ist jetzt Teil der
Volksschule und wie diese kantonalisiert. Zudem sind die Kinder jünger, wenn
sie in den Kindergarten eintreten: War der Stichtag für die Einschulung bis
2014 noch der 30. April, so verschiebt sich dieser seither als Folge des
Beitritts von Zürich zum Harmos-Konkordat jedes Jahr um einen halben Monat, bis
es ab 2020 der 31. Juli bleiben wird. Die jüngsten Kinder werden dann mit wenig
mehr als vier Jahren in die Schule eintreten. Schon heute machen die
Kindergärtnerinnen eindringlich darauf aufmerksam, dass das Wickeln nicht zu ihren
Aufgaben gehöre.
Anders als Luca und Laura, die geburtenschwächeren Jahrgängen
angehörten, werden David und Lea ihre Bildungskarrieren in randvollen
Kindergärten und Schulhäusern antreten. Die Schülerzahlen nehmen im Kanton
Zürich enorm zu. 2015 verliessen 12 Prozent mehr Schüler und Schülerinnen die
Volksschule, als 2005 eingetreten waren. Das hat auch mit steigenden
Geburtenzahlen zu tun, ist aber wesentlich eine Folge der starken Zuwanderung
aus anderen Kantonen und aus dem Ausland. In den Schulen war das in den letzten
Jahren an der immer heterogener werdenden Schülerschaft ablesbar.
Diese grosse Heterogenität ist allerdings nicht nur eine Folge der
Zuwanderung und – in weit geringerem, aber zum Teil herausforderndem Mass – der
wieder angewachsenen Flüchtlingsströme aus anderen Kulturkreisen. Sie ist auch
die gewollte Konsequenz der integrativen Förderung und der integrierten
Sonderschulung. Aufnahme-, Klein- und Sonderklassen sind fast ganz
verschwunden, da die Schulgemeinden dafür keine zusätzlichen Lehrerstellen mehr
bekommen. Dafür sind die personellen Ressourcen für die normalen Klassen
verstärkt worden.
Der Grundsatz, eine Schule für möglichst alle Kinder zu sein, ist in der
Volksschule zwar kaum bestritten, die konkrete Umsetzung aber schon. So ist es
nicht leicht zu erklären, warum im Schuljahr 2004/05 2,34 Prozent der
Volksschüler eine Sonderschule besuchten, 2015/16 aber 3,91 Prozent. Zwar ist
die Zahl der Sonderschüler, die separiert unterrichtet werden, in diesem
Zeitraum konstant geblieben, durch die wachsende Zahl von Sonderschulungen im
normalen Klassenverband ist die Gesamtzahl der Sonderschüler aber enorm
angestiegen. Zurzeit versucht man, die oft lokalen Gründe dafür zu finden und
in besonders stark betroffenen Gemeinden geeignete Gegenmassnahmen zu treffen.
David und Lea, Noah und Anna werden die Volksschule 2028 verlassen, wenn
alles in geordneten Bahnen verläuft. Danach folgen die Jahre der
Berufsausbildung oder noch ein paar Jahre im Gymnasium. Eine lange Zeit, nicht
nur für die Kinder und späteren Jugendlichen, sondern auch für die Eltern! Und
eine Zeit mit vielen Unwägbarkeiten. Die erwähnte Untersuchung der
Schulverläufe zeigt, dass im letzten Schuljahr der obligatorischen Schule 18
Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht in der 3., sondern erst in der 2.
oder der 1. Sekundarklasse stecken. Irgendwann in der Karriere ist also eine
Ehrenrunde eingelegt worden. In manchen Fällen handelt es sich um ein drittes
Jahr im Kindergarten; oft ist eine etwas langsamere Entwicklung die Ursache.
Diese Form der Wiederholung hat in der Regel weniger Auswirkungen auf den
späteren Bildungsverlauf als spätere Repetitionen, die häufiger in einer
Sekundarklasse B oder C (wo noch vorhanden) enden. Die Zahl der Repetitionen
ist generell aber eher rückläufig. Die integrative Schule hat gelernt, mit
individuellen Defiziten anders umzugehen. Sehr selten ist das Gegenteil, das
Überspringen einer oder mehrerer Klassen.
Deutschunterricht verstärkt
Mit Sicherheit werden die neuen Kindergärtner nach dem Lehrplan 21
unterrichtet. Der Lehrplan des Kindergartens entspricht bereits heute ungefähr
dem neuen; er ist seit Jahren «kompetenzorientiert». Etwas später als heute,
erst in der 3. Klasse, wird der Englischunterricht einsetzen, dafür mit einer
Lektion mehr in der Startphase. In der zweiten Klasse wird im Gegenzug der
Deutschunterricht etwas verstärkt.
Ganz unabhängig von den Neuerungen dieses Lehrplans wird auch die Schule
auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren müssen. Da sind die
Unterschiede von Schule zu Schule noch gross. Das zeigt sich jetzt an der
Einführung des neuen Fachs Medien und Informatik. Es fehlt an technischer
Infrastruktur, es fehlt noch das Lehrmittel, und es fehlen die ausgebildeten
Lehrkräfte. Die Ausrüstung der Schülerinnen und Schüler der oberen
Primarklassen mit Tablets scheint sich vielenorts durchzusetzen. Aber damit
sind die inhaltlichen und ausbildungslogistischen Fragen noch nicht gelöst.
Wenig Zeit bleibt noch. Auch der neue Lehrplan gewichtet die verschiedenen
Bereiche der Primarstufe aber ausgewogen: 33 Prozent der Unterrichtszeit
entfallen auf Gestalten, Musik, Bewegung und Sport, 30 Prozent auf Sprachen, 19
Prozent auf Natur, Mensch und Gesellschaft und 18 Prozent auf Mathematik. Noch
hält Pestalozzi der Digitalisierung stand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen