24. August 2017

Private Stiftungen und ihr Einfluss

Sie verwalten Milliardenvermögen, womit sie viel Gutes tun. Doch wohltätige Stiftungen betreiben im Namen von Wissenschaft und sozialer Gerechtigkeit auch Politik – mit Folgen für die Steuerzahler.
Sie will die Öffentlichkeit wachrütteln, die Chancengleichheit fördern und allen Kindern ein «gelingendes Leben» ermöglichen. Bescheiden sind sie nicht gerade, die Ziele der 1988 gegründeten Jacobs Foundation. «Wir können für die Gesellschaft kein Feuerlöscher sein», sagt Stiftungssprecherin Alexandra Güntzer, «aber ein Brandmelder.»
Die Macht der Wohltäter, NZZ, 24.8. von Claudia Wirz und Lucien Scherrer



Güntzer arbeitet mit ihrem Team in einer vornehmen Villa im Zürcher Seefeld; unter der bestuckten Decke der Empfangshalle erinnern Kaffeekannen aus allen Epochen daran, womit Stiftungsgründer Klaus J. Jacobs einst sein Vermögen verdient hat: mit dem Verkauf von «Jacobs Krönung» und anderen Kaffeesorten, später auch mit Süsswaren wie Milka und Toblerone. Die beliebten Marken sind längst ins Ausland verkauft worden; um Süssigkeiten und Kaffee geht es in der Villa am See nur noch am Rande, etwa dann, wenn über den Zusammenhang zwischen schlechten Essgewohnheiten und sozialer Schicht sinniert wird. In der Residenz gehen nämlich Professoren, Wirtschaftsvertreter und Politiker ein und aus, um über «Frühe Kindheit» oder die «Wissenschaft des Lernens» zu debattieren – Liberale, Konservative, Linke und Grüne, wie Güntzer stolz vermerkt, «und stellen Sie sich vor, das letzte Mal waren sie sich alle einig. Ist das nicht toll?»
Die Jacobs Foundation gehört mit einem Vermögen von 4,9 Milliarden Franken zu den grössten gemeinnützigen Stiftungen, von denen es allein in der Schweiz über 13 000 gibt. Spätestens seit den 1990er Jahren sind wohltätige Stiftungen mit ihren finanziellen Mitteln und ihrem Renommee zu politischen Akteuren geworden, die man nicht unterschätzen sollte, auch wenn sich ihre Exponenten gerne «unpolitisch», «neutral» und bescheiden geben. «Nein, wir haben keine Macht», erklärte Christian Jacobs, Ehrenpräsident der Jacobs Foundation, vor einigen Jahren in einem Interview mit der «Zeit», man wolle Staat und Gesellschaft jedoch ermöglichen, «etwas auszuprobieren».

Und so ist die Jacobs Foundation mehr als eine Vergabestiftung. Vielmehr will sie mit eigenen Programmen Impulse für gesellschaftliche Veränderungen setzen. Damit stehen die geistigen Erben des Kaffeeproduzenten Jacobs nicht allein. So engagieren sich mit der Mercator- und der Ernst-Göhner-Stiftung zwei weitere grosse Akteure namentlich im Bildungs- und Sozialbereich. Dabei geht es meist um nichts Geringeres als um die Erziehung und das Wohlergehen der Jugend. Diese soll, um einige Beispiele zu nennen, zu einem nachhaltigen Konsumverhalten animiert (Mercator), mit einer «kinderfreundlichen» Justiz beglückt (Göhner) oder gleich nach der Geburt mit einer «Politik der frühen Kindheit» umfassend gefördert werden (Jacobs).

«Blackbox» Kinderkrippe

Da sich Stiftungen wie die Jacobs Foundation als «Innovationsmotor für den Staat» (Güntzer) verstehen, geht es in derartigen Projekten nicht um eine Entlastung, sondern um einen Ausbau der öffentlichen Hand. Sprich, Stiftungen stupsen Politiker und Verwaltungen mittels finanzieller Anschub-Zückerchen, wissenschaftlicher Studien und im Namen moralischer Ziele in die gewünschte Richtung. Die langfristigen Folgekosten und Risiken soll dann die Allgemeinheit übernehmen.

Wie das funktioniert, zeigt die im letzten Dezember gestartete «Ready!»-Kampagne der Jacobs Foundation für mehr frühkindliche Förderung, die von illustrer Politprominenz orchestriert wird. Die Liste der «Botschafter» reicht von Ständerätin Anita Fetz (sp.) über Nationalrätin Rosmarie Quadranti (bdp.) bis hin zu freisinnig-liberalen Granden wie Ignazio Cassis, alt Bundesrat Pascal Couchepin oder Nationalrat Christoph Eymann.

Mit von der Partie ist bezeichnenderweise auch die einschlägige Wohlfahrtsbranche, die von einem institutionellen Ausbau der Frühförderung profitieren würde: Der Verein Agogis (die «Aus- und Weiterbildungsanbieterin für Sozialberufe»), der Krippenverband Kibesuisse, der Verein Elternbildung, der «Schweizerische Spielgruppen-LeiterInnen-Verband», die Hochschule für Heilpädagogik oder das Zürcher Sozialdepartement. Sie und viele weitere machen sich an der Seite der Jacobs Foundation stark für eine «umfassende Politik der frühen Kindheit».

Das Ziel ist klar: Das Leben von Babys und Kleinkindern im Alter zwischen 0 und 4 Jahren braucht im Namen der Chancengleichheit und im Sinne einer idealen Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt mehr Regulierung, mehr professionelle Betreuung und natürlich mehr finanzielle Mittel von der öffentlichen Hand. Der Staat soll die frühkindliche Bildung nicht nur akribisch erforschen – eine erste Studie der Universitäten Genf und Freiburg hat wenig überraschend weiteren Forschungsbedarf erkannt –, er soll auch das Krippenwesen in der ganzen Schweiz reformieren.

Denn die heutigen Einrichtungen betrachtet die Jacobs Stiftung als eine Art «Blackbox», in denen die Kinder oft mangelhaft ausgebildeten Betreuern ausgeliefert sind. «Wissen Sie, was Ihre Kinder den ganzen Tag in der Krippe machen?», fragt Alexandra Güntzer rhetorisch. Auch die Betreuerinnen wüssten mangels wissenschaftlichem Background nicht, warum sie den Kleinen Bälle zuwerfen oder Kartoffelbrei zubereiten. Damit der Nachwuchs im Sandkasten künftig unter qualifizierter Anleitung «komplexe Fähigkeiten und wichtiges Basiswissen» erwerben kann, braucht es nach Ansicht der Stiftung neue Ausbildungsgänge samt Master und Bachelor, aber auch Qualitätslabels und Qualitätssicherung in Krippen – sprich, Evaluationen und Kontrollen, die Experten aller Art ein weites Betätigungsfeld eröffnen würden.

Doch ist soziale Kompetenz in einer Kinderkrippe nicht wichtiger als ein Hochschuldiplom? Und liegt das Hauptproblem nicht gerade darin, dass die Krippen in der Schweiz wegen bürokratischer Vorgaben bereits heute kaum bezahlbar sind für Normalverdiener, weshalb der Ruf nach noch mehr Subventionen immer lauter wird? Was hat es mit Chancengleichheit zu tun, wenn die Krippen noch teurer werden? Auf solche Einwände antwortet Güntzer, dass es auch darum gehe, Erzieherinnen mehr gesellschaftliche Wertschätzung entgegenzubringen.


Die Mär vom Entwicklungsland

Finanzielle Bedenken versuchen die Anhänger der Frühförderungsoffensive mit angeblich «unbestrittenen» wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Hinweisen zu zerstreuen, wonach die Schweiz im Vergleich zu anderen Staaten ein «Entwicklungsland» sei – mit der schlichten Begründung, dass hierzulande weniger Geld für frühkindliche Bildung ausgegeben werde als in Ländern wie Frankreich. Dieser werden dabei wahre Wunderkräfte zugeschrieben. Sie sei «durchwegs ein Erfolgsversprechen», lautet der feierliche Leitspruch der Kampagne. Und: «Jeder Bildungsfranken ist in diesen Jahren am wirkungsvollsten investiert.»

Den Beweis für diese Behauptung liefern Studien vorab aus den USA, deren Ergebnisse die «Ready!»-Koalition einfach auf die Schweiz überträgt. Das sei fragwürdig, meint Marco Salvi vom liberalen Think-Tank Avenir Suisse, der ebenfalls auf dem Gebiet der familienexternen Kinderbetreuung forscht. Das gilt besonders für Aussagen über die schier magisch anmutenden positiven Effekte der familienexternen Betreuung bei sozial benachteiligten Kindern, auf die sich die Jacobs Foundation gerne beruft. «Die Armen in Amerika sind viel ärmer als die Armen in der Schweiz», meint Salvi.

Erstaunlich sind auch bewundernde Blicke in andere Länder, etwa nach Frankreich mit seiner «hervorragenden Krippensituation», wie es Güntzer ausdrückt. Wenn es wahr wäre, dass Investitionen in die frühe Kindheit ein Heilmittel gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Jugendkriminalität sind, müssten eher in der Schweiz Problemquartiere brennen als in Frankreich. Die im Frühförderungsbereich angeblich unterentwickelte Schweiz verzeichnet eine Jugendarbeitslosigkeit von unter 3 Prozent, in Frankreich liegt sie dagegen bei 21,7 Prozent. Von all dem lässt sich die Stiftung nicht beirren, und offensichtlich lassen sich auch liberale «Ready!»-Botschafter wie Christoph Eymann gerne für derartige Heilsversprechen einspannen – selbst wenn der Politiker im Interview einräumt, dass die Umsetzung aller «Ready!»-Forderungen massive Kosten generieren würde. Vorerst wird das Parlament darüber entscheiden müssen, ob der Bund künftig auch für Kinder von bis 4 Jahren einen Förderauftrag erhalten soll, wie das «Ready!»-Botschafter Matthias Aebischer (sp.) in einer parlamentarischen Initiative verlangt.

Moralischen Druck für mehr Bürokratie üben Stiftungen auch im Bereich der Justiz aus, in dem sie gewisse Pressure Groups mitfinanzieren. So unterstützen zahlreiche wohltätige Institutionen – darunter die Ernst-Göhner-Stiftung – den Verein Kinderanwaltschaft Schweiz, der wiederum im Verein mit verschiedenen Parlamentariern von SP, CVP, FDP und SVP für eine «kinderfreundliche» Justiz gemäss Uno-Empfehlungen weibelt. Hinter diesem unverfänglichen Titel verstecken sich zahlreiche Forderungen, etwa nach zwingenden anwaltlichen Vertretungen von Kindern, «kindgerechten» Schulungen von Polizisten und Gerichtsmitarbeitern und natürlich nach einer Ombudsstelle für Kinder, die pro Jahr rund eine Million Franken kosten soll. Ob die Justiz damit wirklich kinderfreundlicher wird oder einfach viel mehr Geld kostet, ist umstritten. Bereits heute stehe Kindern in Scheidungsfällen eine «Armada von Beiständen und Vertretern» zur Seite, moniert der Zürcher Rechtsanwalt Ueli Vogel-Etienne, «um die Kindsvertretung in Familienkonflikten kümmern sich inzwischen ganze Industriezweige». Dass die Gerichtsentscheide damit «kindgerechter» werden, bezweifelt der erfahrene Jurist.

Der Bundesrat hat eine Motion von Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (cvp.) für eine Kinder-Ombudsstelle abgelehnt, doch davon lassen sich die Initianten nicht beirren; vielmehr fordern sie nun, dass diese Stelle einer noch zu schaffenden nationalen «Menschenrechtsinstitution» angegliedert werden soll. Dass der Bundesrat diese staatliche Institution nun überhaupt schaffen will, geht ebenfalls zurück auf politischen Druck von Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Politikern aus dem linken bis linksbürgerlichen Spektrum. So gehören die Göhner- und die Hirschmann-Stiftung neben dem Bund und Hilfswerken wie Caritas zu den Förderern des Vereins «humanrights», dessen Exponenten zusammen mit anderen NGO für eine «Menschenrechtsinstanz» lobbyieren. Diese Instanz soll nicht nur über die Einhaltung der Menschenrechte wachen (was Justiz und zivilgesellschaftliche Akteure bereits heute tun), sie soll die Bevölkerung auch für die Menschenrechte «sensibilisieren» – wobei deren Auslegung bekanntlich eine höchst politische Frage sein kann, etwa wenn es um Ansprüche an den Sozialstaat geht. Letztlich geht es also darum, dass NGO-Aktivisten den Leuten mit einer steuerfinanzierten Organisation das «richtige Bewusstsein» einzuimpfen gedenken, wie es alt Botschafter Paul Widmer in der «NZZ am Sonntag» ausdrückte.

«Ernährungsräte» für alle
Der erzieherische Gedanke schimmert bei vielen von Stiftungen initiierten oder unterstützten Projekten durch – so auch im Fall der Mercator-Stiftung (Vermögen: rund 120 Millionen Franken). «Wir geben nicht nur Geld, wir wollen auch etwas bewirken», sagt deren Geschäftsführer Andrew Holland, «im Idealfall hat ein Projekt gesellschaftsrelevante Folgen.» Unter anderem versucht die Stiftung, der Bevölkerung einen «nachhaltigen» Lebensstil schmackhaft zu machen, indem sie Umweltunterricht in den Schulen fördert, virtuelle Öko-Beichtstühle für Kinder und Erwachsene entwickeln lässt oder Grossanlässe wie den «Erlebnismonat» oder «Zürich isst» initiiert und mitfinanziert, um für «ressourcenschonende Lebensmittel» zu werben.

Auch die öffentliche Hand engagierte sich finanziell und logistisch für den kulinarischen Event, der Erkenntnisse zutage förderte wie: Akademiker ernähren sich bewusster als andere, oder: «Klischee bestätigt: Vor allem junge Frauen halten Diät». In einem über 80-seitigen Evaluationsbericht musste die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften allerdings einräumen, dass mit dem Anlass vor allem zu den bereits Bekehrten gepredigt worden sei. Dennoch hielt sie es für angebracht, der öffentlichen Hand weitere Massnahmen ans Herz zu legen, darunter ein «Gremium» für Ernährungsfragen. Die Mercator-Stiftung bemüht sich denn auch darum, dass sich die involvierten Organisationen von «Zürich isst» weiter treffen, vernetzen und Strukturen geben. So sei «ein Netzwerk aus NGO, Kooperativen, Produzenten und interessierten Konsumenten» entstanden, das «an Themen zur nachhaltigen Ernährung in der Stadt arbeitet». Wie aus Erklärungen beteiligter Organisationen hervorgeht, strebt diese Allianz die Schaffung sogenannter «Ernährungsräte» an, die in den USA, Grossbritannien oder Deutschland bereits heute auf eine «Ernährungswende» hinarbeiten – auch mithilfe der öffentlichen Hand.

Der 2016 gegründete Ernährungsrat der Stadt Köln etwa zählt 30 Mitglieder und vier Ausschüsse, und er wird von einer bunten Schar von «Persönlichkeiten» aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft sowie «Funktionären aus Politik und Verwaltung» getragen. Die Chancen sind intakt, dass Zürich und andere Schweizer Städte eines Tages nachziehen. Denn nicht nur 0- bis 4-Jährige, auch Erwachsene brauchen intensive professionelle Betreuung und Beratung, zumindest nach Ansicht mancher wohlmeinender Institutionen und Politiker.


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