Nationalrat
Christoph Eymann hält Frühförderung für wichtig. Sie solle sich aber auf jene
Kinder beschränken, die sie nötig hätten. Primär seien die Eltern in der
Pflicht.
"Viele Kinder haben schon beim Schuleintritt ein Defizit, das sie nicht mehr aufholen können", NZZ, 24.8. von Claudia Wirz
Herr Eymann, im Rahmen der «Ready!»-Kampagne der
Jacobs Foundation setzen Sie sich für eine «umfassende Politik der frühen
Kindheit» ein. Warum eigentlich?
Weil ich als langjähriger Erziehungsdirektor in Basel-Stadt
feststellen musste, dass viele Kinder schon beim Schuleintritt ein Defizit
haben, das sie nicht mehr aufholen können. Hier setzt das «Ready!»-Konzept an.
Diesen Kindern müssen wir helfen. Eine ökonomische Beweisführung über die zu
erwartende Bildungsrendite solcher Massnahmen braucht es meines Erachtens
nicht; das halte ich für Kaffeesatzleserei.
Wenn man die
«Ready!»-Charta liest, bekommt man das Gefühl, das Leben in der Schweiz sei ein
einziges Elend. Aber das Leben hier ist gut. Frankreich hat Problemstädte und
eine Jugendarbeitslosigkeit von über 21 Prozent. Trotzdem sollen wir uns an
Frankreich und seiner flächendeckenden Frühförderung ein Beispiel nehmen.
Warum?
Man kann es in der Tat zu weit treiben mit der Wohltat. In
Frankreich gibt es ein soziales Instrument, das dem «bedingungslosen
Grundeinkommen» nahekommt. Man weiss, dass Kinder aus solchen Haushalten
keinerlei Anreiz haben, sich aus dieser Situation herauszubegeben. In dieses
Fahrwasser dürfen wir nicht kommen.
Widerlegt nicht gerade Frankreich Ihre These über die fast
allmächtigen Segnungen einer «umfassenden Politik der frühen Kindheit»?
Wir haben unbestrittenermassen eine sehr tiefe
Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Trotzdem ist es nicht falsch, mehr für
die Frühförderung zu tun. Eine «Politik der frühen Kindheit» ist kein
«Breitbandantibiotikum». Sie soll sich selektiv auf jene Kinder fokussieren,
die von zu Hause nicht das bekommen, was sie für einen guten Start in den
Kindergarten und in die Schule brauchen.
Und wer bestimmt, was kleine Kinder brauchen – die Eltern oder
der Staat?
Im Normalfall sind das natürlich die Eltern, keine Frage. Die
Eigenverantwortung ist mir sehr wichtig. Aber leider kommen oft genau jene
Eltern, die es nötig hätten, nicht in die Elternberatung.
Mit diesem Argument kann man fast jeden Staatseingriff
begründen. Hand aufs Herz: Wollen Sie mit der «umfassenden Politik der frühen
Kindheit» nicht einfach den Staat ausbauen?
In einer zunehmend heterogenen Gesellschaft nimmt leider die
Anzahl der Eltern zu, die ihr Kind nicht optimal fördern. Natürlich gibt es
Frühförderung nicht umsonst. Würde man das «Ready!»-Programm Wort für Wort
buchstabengetreu umsetzen, hätte das wohl enorme Kostenfolgen. In Basel haben
wir in diesen Bereich schon viel investiert, und es war immer breit akzeptiert.
Es passte ins Budget, was vor allem dem guten Geschäftsgang der Pharmaindustrie
zu verdanken ist. Aber viele Gemeinden dürften grossen Nachholbedarf haben.
Wie sehen Sie die Rolle von Stiftungen als Akteure in der
Sozialpolitik?
Sie tun natürlich viel Gutes, können den Staat aber auch in
heikle Situationen bringen. Der Staat steht dann vor der Wahl: Entweder er
übernimmt die Stiftungsprojekte in sein Budget und präsentiert dem Steuerzahler
die Rechnung, oder er spielt den «Bösen», der sie versenkt. Das ist nicht
leicht.
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