24. August 2017

"Umfassende Politik der frühen Kindheit"

Nationalrat Christoph Eymann hält Frühförderung für wichtig. Sie solle sich aber auf jene Kinder beschränken, die sie nötig hätten. Primär seien die Eltern in der Pflicht.
"Viele Kinder haben schon beim Schuleintritt ein Defizit, das sie nicht mehr aufholen können", NZZ, 24.8. von Claudia Wirz




Weil ich als langjähriger Erziehungsdirektor in Basel-Stadt feststellen musste, dass viele Kinder schon beim Schuleintritt ein Defizit haben, das sie nicht mehr aufholen können. Hier setzt das «Ready!»-Konzept an. Diesen Kindern müssen wir helfen. Eine ökonomische Beweisführung über die zu erwartende Bildungsrendite solcher Massnahmen braucht es meines Erachtens nicht; das halte ich für Kaffeesatzleserei.

Wenn man die «Ready!»-Charta liest, bekommt man das Gefühl, das Leben in der Schweiz sei ein einziges Elend. Aber das Leben hier ist gut. Frankreich hat Problemstädte und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 21 Prozent. Trotzdem sollen wir uns an Frankreich und seiner flächendeckenden Frühförderung ein Beispiel nehmen. Warum?

Man kann es in der Tat zu weit treiben mit der Wohltat. In Frankreich gibt es ein soziales Instrument, das dem «bedingungslosen Grundeinkommen» nahekommt. Man weiss, dass Kinder aus solchen Haushalten keinerlei Anreiz haben, sich aus dieser Situation herauszubegeben. In dieses Fahrwasser dürfen wir nicht kommen.

Widerlegt nicht gerade Frankreich Ihre These über die fast allmächtigen Segnungen einer «umfassenden Politik der frühen Kindheit»?

Wir haben unbestrittenermassen eine sehr tiefe Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz. Trotzdem ist es nicht falsch, mehr für die Frühförderung zu tun. Eine «Politik der frühen Kindheit» ist kein «Breitbandantibiotikum». Sie soll sich selektiv auf jene Kinder fokussieren, die von zu Hause nicht das bekommen, was sie für einen guten Start in den Kindergarten und in die Schule brauchen.

Und wer bestimmt, was kleine Kinder brauchen – die Eltern oder der Staat?

Im Normalfall sind das natürlich die Eltern, keine Frage. Die Eigenverantwortung ist mir sehr wichtig. Aber leider kommen oft genau jene Eltern, die es nötig hätten, nicht in die Elternberatung.

Mit diesem Argument kann man fast jeden Staatseingriff begründen. Hand aufs Herz: Wollen Sie mit der «umfassenden Politik der frühen Kindheit» nicht einfach den Staat ausbauen?

In einer zunehmend heterogenen Gesellschaft nimmt leider die Anzahl der Eltern zu, die ihr Kind nicht optimal fördern. Natürlich gibt es Frühförderung nicht umsonst. Würde man das «Ready!»-Programm Wort für Wort buchstabengetreu umsetzen, hätte das wohl enorme Kostenfolgen. In Basel haben wir in diesen Bereich schon viel investiert, und es war immer breit akzeptiert. Es passte ins Budget, was vor allem dem guten Geschäftsgang der Pharmaindustrie zu verdanken ist. Aber viele Gemeinden dürften grossen Nachholbedarf haben.

Wie sehen Sie die Rolle von Stiftungen als Akteure in der Sozialpolitik?
Sie tun natürlich viel Gutes, können den Staat aber auch in heikle Situationen bringen. Der Staat steht dann vor der Wahl: Entweder er übernimmt die Stiftungsprojekte in sein Budget und präsentiert dem Steuerzahler die Rechnung, oder er spielt den «Bösen», der sie versenkt. Das ist nicht leicht.


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