Enid
Oita sitzt im Café und wartet. An ihren Ohren baumeln weisse Federohrringe, vor
ihr liegen Unterlagen, ein ellenlanger Mail-Verkehr mit Schulbehörden. Weder
die Pädagogen noch die Behörden hätten etwas tun können, damit sich ihr Kind in
der Schule wohlfühle. Ein Schulhauswechsel sei nicht zustande gekommen, und die
Gesprächstermine wurden so kurzfristig angesetzt, dass die berufstätige Frau
Lohneinbussen in Kauf nehmen musste, um die Termine wahrnehmen zu können. Sie
fühlt sich als alleinerziehende Mutter von den Behörden nicht ernst genommen:
«Ich bin Krankenschwester, arbeite regelmässig, trinke nicht, rauche nicht,
gehe kaum in den Ausgang.» Doch ihr Sohn sei ohne ihr Einverständnis zu einer
Heilpädagogin gebracht worden, die ihm auf informellem Weg eine kindliche
Depression diagnostizierte. «Er wird als Kranker abgestempelt, ohne dass man
sich überlegt, dass es Kinder gibt, die einfach mal wagen, Nein zu sagen», sagt
sie.
"Bürokraten fürchten den Einfluss der Eltern", Basler Zeitung, 24.7. von Franziska Laur
Die heilpädagogische Mühle
Ihr Fall ist einer, wie ihn immer mehr Eltern
erleben: Sie haben ein Kind, das nicht ins schulische System passt und in die
Räder der heilpädagogischen Mühlen gerät. «Es sollte doch möglich sein, dass
Eltern mitbestimmen dürfen, in welche Schule ihr Kind gehen soll», sagt Oita.
Daher will sie die Elternlobby in Basel-Stadt installieren. Momentan gibt es
keine Anlaufstelle.
Der schweizerische Verein Elternlobby stellt seit Jahren
fest, dass bei schulischen Problemen die Schulbehörden häufig keine den
Bildungsbedürfnissen des Kindes dienende Lösung treffen. So stellen viele
Eltern Fehleinschätzungen fest. Leon (alle Namen der Kinder geändert)
beispielsweise hat eine immobile Zunge. Anstatt in die Sprachheilschule wollen
ihn die Behörden trotz Gegenwehr der Heilpädagogin in eine Sonderschule für
geistig behinderte Kinder schicken.
Julia hat ADHS, und die Pädagogen
empfehlen, ihr Ritalin zu verabreichen. Dagegen wehren sich die Eltern, was
nicht goutiert wird.
Und es gibt Kinder, die depressiv werden, wenn sie im
Schulalltag eingespannt sind. Der BaZ sind einige Fallbeispiele bekannt, wo die
Kleinen erst wieder aus ihrem Loch herausfanden, als in einer privaten Schule vermehrt
auf ihre Individualität eingegangen wurde. Die Schicksale sind zahlreich, die
Geschichten bedrückend.
Überforderte Volksschulen
Seit 2011 richtet sich
Basel-Stadt nach dem Sonderpädagogik-Konkordat und unterrichtet Kinder und
Jugendliche mit Behinderung, Lernschwäche oder besonderer Begabung in denselben
Klassen. Doch die Volksschule ist mit der heterogenen Zusammensetzung der
Kinder überfordert, denn das ausgebildete Personal fehlt. Die Folge: Immer mehr
ungenügend ausgebildete Personen entscheiden über krank oder gesund. So geraten
auch Kinder in die Mühle der Pathologisierung, die lediglich nicht in den
normativen Rahmen passen. Schweizweit haben weit über 50 Prozent der
Schülerinnen und Schüler Förderbedarf und immer mehr Kinder werden heilpädagogisch
betreut.
«Die Staatsschulen können nicht mehr alles abdecken», sagt auch Pia
Amacher, Präsidentin Elternlobby Schweiz. Sie wohnt in Basel und kämpft für
mehr Wahlmöglichkeiten bei der Bildung der Kinder. Manchmal entspreche ein
System einfach nicht den Bedürfnissen des Kindes oder es stimme die Chemie
zwischen Lehrer und Kind nicht. Wenn sie von Kindern hört, die an Depressionen
leiden, weil sie sich einem unpassendes Schulsystem unterordnen müssen, so
leidet auch sie. Und sie hört immer wieder Erfolgsgeschichten, wenn solche
Kinder die Schule wechseln können.
«Seine Depressionen sind verschwunden, er
lächelt endlich wieder und geht gerne zur Schule. Auch von Selbstmord redet er
nicht mehr. Was bleibt, ist das Unverständnis, dass die Schulgemeinde einem
nicht diesen Betrag bezahlt, den das Kind in der normalen Schule kosten würde»,
schreibt ein Elternpaar auf der ElternlobbyHomepage. So wie ihnen geht es
vielen «Privatschuleltern». Kinder, die in der Volksschule als langsam,
hyperaktiv oder zu sensibel diagnostiziert werden, blühen auf, wenn sie in eine
passende Schule wechseln können.
Aufgrund dieser Erfahrungsberichte ist für Pia
Amacher unverständlich, dass die Volksschule auf ihrem Monopol besteht. Sie
stellt fest: «Die Bürokraten fürchten den Einfluss der Eltern.» Das Grundrecht,
dass Eltern über die Art der Bildung für ihre Kinder bestimmen können, werde
mit Füssen getreten. «Meist entscheiden bei Schwierigkeiten die Schulbehörden,
was das Beste für das Kind ist, und nicht die Eltern. Doch laut Menschenrecht
haben die Eltern das Recht, über die Art der Bildung ihrer Kinder zu
entscheiden.» Sie vermutet, dass hinter dem Entscheidungsmonopol der
Volksschulen handfeste Gründe stecken: «Es geht um Macht, Geld und Pfründe.»
Unterstützung aus der Politik
Doch die Streiterinnen für eine freie Schulwahl
haben in den vergangenen Monaten und Jahren eine gewichtige Unterstützung
bekommen. Katja Christ, 45 Jahre alt, Grossrätin der Grünliberalen, ist
Juristin. Aufrechter Gang, forscher Schritt, klare Haltung: Die ehemalige
Tangotänzerin weiss, wofür sie kämpft und sie weiss, dass ihr Weg kein
einfacher ist: «Wovor habt ihr Angst?», rief sie im Grossen Rat ihren
Ratskollegen zu. Sie spürte zwar viel Sympathie für ihren Antrag betreffend
freie Wahl des Unterrichtsmodells. Doch in den Volksschulen können die Eltern
nicht bestimmen, sondern lediglich wünschen. Ob der Wunsch erfüllt wird, ist
den Bildungsbürokraten überlassen.
Katja Christ wollte die Wunschmöglichkeit in
eine verbindliche Form umwandeln. Doch nicht einmal das kam durch. Die Linken
stemmten sich vehement dagegen.
Tief verwurzelter Glaube
«Wovor habt ihr
Angst?» Diese Frage, die Katja Christ wie einen Schlachtruf in den
Grossratssaal gerufen hat, beschäftigt sie heute noch, und sie hat teilweise
Antworten gefunden. Es seien die Zweifel, die Skepsis, ob Eltern aus
bildungsfernen Schichten mit einer freien Bildungswahl nicht überfordert wären.
«Es gibt in der Schweiz einen bis tief ins bürgerliche Lager verwurzelten
Glauben, dass der Staat am besten wisse, was gut für die Kinder ist», sagt sie.
Für sie würde eine freie Schulwahl unter folgenden Kriterien gelingen: «Der
Staat hat die Oberaufsicht und definiert die Rahmenbedingungen.» Ausserdem
müssten für alle teilnehmenden Schulen, ob öffentlich oder privat, die gleichen
Regeln gelten. Schulen, die an der freien Schulwahl teilnehmen würden, sollen
pro Schüler einen fixen Betrag erhalten, der kostendeckend ist. Es wäre
untersagt Zusatzgebühren zu verlangen. Ausserdem wären die Schulen
verpflichtet, alle Schüler anzunehmen. Wenn sie überbucht wären, müssten die
freien Plätze verlost werden
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