Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern rät von der Verschulung kleiner Kinder ab.
"Die Schweiz ist ein Ort der Seligen", NZZ, 29.7. von Michael Schoenenberger
Sie kamen 2006 als
deutsche Forscherin in die Schweiz. Was ist Ihnen zuerst aufgefallen?
Natürlich die
Studenten. Sie fielen mir als sehr arbeitsam auf. Später hat sich das Bild dann
etwas korrigiert. Schweizer Studenten unterscheiden sich von ihren deutschen
Artgenossen doch nicht so stark, wie ich meinte.
Und das Land? Gefällt es Ihnen?
Die Schweiz ist
ein Ort der Seligen. Man kann es nicht anders sagen. Die Lebensqualität ist
sehr hoch. Vielleicht haben wir hier die beste Lebensqualität auf der ganzen
Welt. Es gibt zwar Unterschiede zwischen Reich und Arm. Aber sogar Menschen,
die keine gutbezahlten Jobs haben, können sich viele Dinge leisten. Menschen,
die in der Schweiz als arm gelten, zählen in anderen europäischen Ländern zur
Mittelschicht.
Trotzdem beklagen sich die Schweizer, dass
hier der Mittelstand leide?
Ich kann diese
Klagen nicht nachvollziehen.
Und die Schweizer, die Schweizerinnen? Sehen
Sie diese auch so positiv?
Wissen Sie, was
das Schönste ist? Schweizer schenken anderen Menschen prinzipiell viel
Vertrauen. In Deutschland ist das ganz anders: Dort wird man stets wie ein
potenzieller Betrüger behandelt. Auch der Schweizer Staat zeigt ein
Grundvertrauen in seine Bürgerinnen und Bürger, was sich zum Beispiel bei der
Steuererklärung zeigt. In Deutschland hält man jeden erst mal für einen
Gesetzesbrecher.
Und trotzdem: Deutschland hat «Grandezza»,
die Schweiz ist eng, und Berlin, wo Sie vorher tätig waren, ist doch viel
cooler, nicht? Viele Schweizer sind ganz begeistert . . .
Na ja. Ich will
Berlin jetzt nicht schlechtmachen, aber die Schweizer haben eine sehr offene
Mentalität. Zürich ist viel multikultureller, überhaupt die Schweiz. Das
Besondere hier ist, wie viele Ausländer es in hohen Positionen gibt. Es ist
erstaunlich, welche Akzeptanz die Schweizer den Fremden entgegenbringen. Das
dürfte wirklich einmalig sein in der Welt.
Waren Sie als Frau jemals benachteiligt?
In Deutschland
schon. Bei einer Berufung in München war ich auf Platz eins, aber die wollten
einen bestimmten Mann, der deutlich schlechter publiziert hatte als ich.
Deshalb wurde ich als völlig unverträgliche Zicke bezeichnet. Das geht übrigens
vielen Frauen so: Ist ein Mann erwünscht, wird die Frau als sozial schwierig
bezeichnet. Reagiert eine Frau ungehalten auf eine Sache, wird sie als
hysterisch bezeichnet, während der Mann bei exakt gleichem Verhalten als durchsetzungsstark
gilt.
Stellen Sie solch problematische
Etikettierungen auch hierzulande fest?
Eher weniger.
Aber dass sich im Zweifelsfalle das «similar to me» durchsetzt, gilt auch hier.
Männer wollen Männer. Und das benachteiligt Frauen. Was ich aber positiv
erwähnen möchte: Als Frau muss man andernorts mit ziemlich vielen Machos
zurechtkommen. In der Schweiz gibt es kaum Macho-Männer. Das geniesse ich.
Wenn Männer bei Stellenbesetzungen immerzu
Männer bevorzugen, würden Frauenquoten helfen. Was halten Sie von Frauenquoten?
Quoten
verstärken problematische Verhaltensmuster bei Stellenbesetzungen. Es heisst
dann rasch: Wenn schon eine Frau, dann bitte eine eher mittelmässige. Männer
wählen dann nicht selten Frauen, von denen sie wissen, dass sie keine Konkurrenz
sind. Wenn man dann die durchschnittliche Leistung vergleicht, schneiden Frauen
wirklich schlechter ab. Das Problem bei Stellenbesetzungen ist oft, dass
durchschnittliche Männer zu Genies hochgejubelt werden, während man bei guten
Frauen das Haar in der Suppe sucht. Allein ein kritischer Blick auf den
Lebenslauf und das Verhalten von Männern bei Vorstellungsgesprächen könnte
Frauen aufwerten und ihre Chancen erhöhen.
Sie sehen Quoten kritisch. Braucht es denn im
21. Jahrhundert noch eine Frauenförderung?
Ja doch, von
Anfang an in der Karriere. Am besten fördert man Frauen, wenn sie ehrliche und
harte Feedbacks bekommen. Frauen gehen unter, weil sie zu häufig keine
ehrlichen Rückmeldungen bekommen.
In welchem Sinne?
Frauen werden
gelobt, wenn sie eine Konferenz toll organisiert oder dem Team einen Kuchen
gebacken haben. In der Wissenschaft aber muss man den Frauen knallhart sagen,
ob ihre Publikationsliste und ihre wissenschaftliche Mission konkurrenzfähig
sind oder nicht. Das ist, was zählt. Und so bringt man Frauen weiter.
Sie sprechen jetzt vor allem vom
Wissenschaftsbetrieb. Braucht es sonst Frauenförderung?
Sonst ist
eigentlich sehr viel getan worden. In der Schule, in den Familien, bei der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein Kind ist heute kein Karrierehindernis
mehr, auch wenn es natürlich anstrengend bleibt, Karriere und Kinder unter
einen Hut zu bekommen.
Sie forschen zur menschlichen Intelligenz.
Müssen Säuglinge und Kleinkinder gefördert werden, damit aus ihnen
intelligentere Wesen werden? Und wie machen wir das idealerweise?
Intelligenzunterschiede
werden durch die Gene in hohem Masse determiniert. Dem ist so, ob es uns passt
oder nicht. Aber Intelligenz ist ein Merkmal, das eine grosse Reaktionsnorm
hat. Das heisst, es braucht eine Umwelt, damit die Gene sich entfalten können.
Wir wissen, dass der Wortschatz für die Intelligenzentwicklung wichtig ist.
Wollen Eltern im ersten Lebensjahr das Beste aus den Genen der Sprösslinge
herausholen, dann müssen sie viel mit ihnen sprechen. Die Kinder müssen eine
gute, grammatikalisch korrekte Sprache hören. Und die Kinder müssen die
Möglichkeit bekommen, die Welt zu erkunden.
Und das machen nicht alle Eltern automatisch?
Eben nicht. Das
Problem bei der Förderung ist, dass manche Eltern ihre Kinder im ersten
Lebensjahr vernachlässigen. Sie verstehen Kleinkinder als Wesen, die in erster
Linie nur essen, verdauen, herumkriechen und vor dem Fernseher sitzen. Sie
denken: Was soll ich mit jemandem reden, der noch nicht sprechen kann? Oder sie
machen den Fehler, Kinder zu entmutigen. Wenn Kinder einen Fehler machen, ist
es ganz verkehrt, zu sagen: Rede erst mal richtig. Man muss ihnen die
Gelegenheit zum Sprechen geben.
Die meisten Eltern stehen heute aber unter
Druck: Sie meinen, Bildung müsse schon im Mutterbauch anfangen. Es gilt,
möglichst früh mit einer Fremdsprache, mit Zahlen oder anderer «Bildung» in
Kontakt zu kommen.
Das ist
komplett falsch, ich kann davor nur warnen. Viele Eltern machen sich fast
verrückt, kaufen irgendwelche Gimmicks für die Kleinen, welche sie zu
intelligenteren Wesen machen sollen. Im besten Fall nützen diese Dinge nichts,
aber im schlechten Fall schaden sie massiv.
Sie schaden?
Wenn Eltern ihre
Kinder zu früh auf irgendwelche Dinge trimmen, fühlen sich Kinder
fremdbestimmt. Sie wissen nicht, wozu sie etwas lernen. Sie fühlen sich wie in
einer ständigen Prüfung. Lernen erscheint ihnen dann als etwas Feindseliges,
etwas, das ihnen aufgedrängt wird. Und das schadet auf lange Sicht.
Aber Kinder im Alter zwischen zwei und vier
Jahren darf ich schon auf etwas trimmen, oder?
Nein, besser
nicht. Wir wissen, dass Kinder erst im Alter zwischen drei und vier eine
«theory of mind» entwickeln. Vorher wissen sie noch nicht, dass es in meinem
Kopf anders aussieht als in ihrem Kopf. Wenn Kinder mit den «Warum-Fragen»
beginnen, sieht es anders aus. Dann geht für sie eine neue Welt auf. Das hat
mit der biologischen Entwicklung zu tun. Instruktives Lernen ist erst dann
sinnvoll, wenn Kinder verstanden haben, dass man von anderen Personen wirklich
etwas mitnehmen kann, eben weil diese Personen über manche Dinge mehr wissen
als man selbst.
Fördern wir in der Schweiz die Kinder in
diesem Sinne?
Einmal
abgesehen davon, dass Eltern die obengenannten Fehler nicht machen sollten,
geht vieles in eine gute Richtung, aber es gibt Verbesserungspotenzial. Als
Gesellschaft müssen wir dafür sorgen, dass alle Kinder eine anregende Umgebung
erhalten. Es gibt auch hier Familien, in denen Kinder in Umgebungen aufwachsen,
die die Entfaltung der Gene behindern. Eine bezahlbare und qualitativ
hochwertige Betreuung bleibt auch für berufstätige Akademiker ein Problem. Für
alle Kinder müssen also solche Räume geschaffen werden.
Je mehr die Eltern berufstätig sind, desto
wichtiger wird die Diskussion um die richtige Betreuung und Förderung in den
Kindertagesstätten. Was sollte dort beachtet werden?
Kinder müssen
Leute um sich herum haben, die grammatikalisch korrekt sprechen. Das ist ganz
wichtig, weil Kinder sehr früh viele Dinge nur über die Sprache lernen. Auch
wenn sie selbst beim Sprechen noch Fehler machen, achten sie auf grammatische
Feinheiten. Zeigt man auf ein Tier und sagt: «Das ist Hund», halten sie das
Wort «Hund» für einen Eigennamen. Sagt man hingegen: «Das ist ein Hund», wissen
sie, dass es sich um einen Gattungsbegriff handelt. Wenn das Betreuungspersonal
nicht korrekt in der Muttersprache des Kindes spricht, entgehen diesem
Lerngelegenheiten.
Wie würde aus Sicht der Intelligenzforscherin
ein ideales Bildungssystem aussehen?
Für Kinder bis
vier Jahre sollte es ein qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot geben. Für
alle, aber freiwillig. Dort wären die Kinder nach den vorher beschriebenen
pädagogischen Grundsätzen zu betreuen. Das Angebot sollte einkommensabhängig
bezahlt werden. Ab vier Jahren sind Kinder offen, sie lernen durch Instruktion.
Das sollte man in Massen für gemeinsames Lernen nutzen. Es sollte jetzt auch
mal einzelne Stunden geben, wo man zusammen etwas übt, zum Beispiel erste
Buchstaben und Zahlen. Natürlich ohne Noten, damit die Kinder sich auf das
Lernen und nicht auf die Leistung konzentrieren. Die Kinder sollten sich vor
allem über ihren individuellen Lernfortschritt freuen.
Wie ginge es weiter?
Es sollte einen
flexiblen Schuleintritt geben. Manche Kinder wollen schon mit fünf Jahren
unbedingt schreiben, andere nicht. Das Gleiche gilt fürs Rechnen. Das muss
alles viel flexibler werden. So kann man einerseits die Schwachen fördern,
andererseits die Starken zu Höchstleistungen bringen. Zu einem bestimmten
Zeitpunkt müssen sich dann selbstverständlich alle Kinder auch mit jener
Materie beschäftigen, die sie vorher noch nicht interessiert hat. Es ist klar,
dass für ein solches Modell mehr Ressourcen nötig sind und dass der Unterricht
jahrgangsübergreifend gestaltet werden sollte.
Blicken wir auf eine weitere Bildungsstufe,
das Gymnasium. Finden sich die intelligenten Kinder in diesem Land im Gymnasium
wieder?
Leider nicht,
also nur zum Teil. Rund 20 Prozent der Jugendlichen besuchen in der Schweiz ein
Gymnasium. Unsere Daten zeigen aber, dass ein beachtlicher Teil der Schweizer
Gymnasiasten – ich gehe von mindestens 40 Prozent aus – nicht die Intelligenz
hat, über welche die oberen 20 Prozent eigentlich verfügen sollten. Der Zugang
zum Gymnasium hängt zu stark von der sozialen Schicht ab, und leider nicht nur
von der Intelligenz.
Die bessergestellten Kinder müssen aber doch
auch eine Prüfung ablegen und sich dann im Gymnasium beweisen.
Die
bessergestellten Kinder werden auf die Prüfung hin trainiert. Wir finden, dass
es eigentlich in jeder Gymnasialklasse zwei oder drei Schülerinnen und Schüler
gibt, deren Intelligenz deutlich unter dem zu erwartenden Mindestwert liegt.
Mehr wären wohl nicht tragbar. Die werden dann irgendwie mitgezogen, etwa mit
Nachhilfe. Und man passt das Niveau ein bisschen nach unten an.
Wäre eine Erhöhung der Maturitätsquote nicht
geeignet, um ebendieses Problem zu entschärfen?
Da bin ich
dagegen. Die Maturitätsquote liegt bei 20 Prozent richtig. Erhöhen wir sie,
heisst es ja nicht automatisch, dass dann die bisher zurückgewiesenen
intelligenten Schülerinnen und Schüler den Zugang bekommen. Zusätzlich zu den
Aufnahmeprüfungen sollten wir mit Intelligenztests arbeiten. Primarlehrerinnen
und Primarlehrer sollten sich bei jedem Kind fragen, ob es vielleicht mehr
Intelligenz mitbringt, als es gerade aufgrund irgendwelcher Umstände zeigt. Das
könnte man mit Tests herausfinden. Oder umgekehrt: Bei Kindern, deren Eltern
unbedingt wollen, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, obwohl Lehrpersonen
Zweifel haben, könnte man die Intelligenz ebenso testen.
Welche Defizite stellen Sie sonst an
Gymnasien fest?
Der Unterricht
in naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik muss stärker auf das
Verständnis von Konzepten ausgerichtet sein. Noch immer lernen Schüler Dinge,
die sie nicht wirklich verstanden haben. Irgendwann fallen sie auf die Nase.
Ich sehe grosses Optimierungspotenzial beim verständnisorientierten Unterricht.
Wie kann man optimieren?
Es gibt viele
intelligente Schüler, die in Mathematik oder Physik nicht zu Hochform
auflaufen. Da stimmt etwas in der Vermittlung des Stoffes nicht. Schüler müssen
nachvollziehen können, welche neuen Erkenntnisse ihnen der neue Stoff
ermöglicht, und nicht einfach etwas nachmachen, was der Lehrer ihnen vormacht.
Kommen wir noch auf die Universitäten zu
sprechen. Ich habe den Eindruck, es gibt ein bisschen viel Quantität und etwas
zu wenig Qualität. Täuscht der Eindruck?
Nein. Bei der
Evaluation wissenschaftlicher Leistungen spielen einfach zu ermittelnde Grössen
wie Anzahl der Publikationen und deren Zitationen eine zu grosse Rolle. Diese
Indikatoren haben ihre Berechtigung, aber wichtiger ist die Auseinandersetzung
mit den Inhalten.
Und wie ändern wir das?
Gutachter
müssen die Arbeiten genau lesen und sie in das Gesamtbild der Wissenschaft
einordnen. Wie genau lässt sich der Beitrag zur Wissenschaft beschreiben, und
wie ist er zu bewerten? Was kann man von der Person in Zukunft erwarten?
Die Beschäftigung mit dem Inhalt ist
schwieriger und aufwendiger, nicht?
Ja, das ist der
Punkt. Eine Fokussierung auf quantitative Indikatoren schafft falsche Anreize.
Sagen Sie, kennen Sie einen grossen Schweizer
Intellektuellen?
(denkt lange
nach) . . . Jean Piaget aus meinem Gebiet natürlich . . .
. . . ich dachte eher an die Gegenwart.
Da müsste ich
noch länger nachdenken, aber ich hätte auch Probleme, die Frage nach einem
deutschen Intellektuellen zu beantworten.
Und woran liegt das?
Heute laufen
sehr viele Menschen in ihrem Gebiet zur Höchstform auf. Immer mehr Menschen
gehören zur geistigen Elite. Und das ist gut. Schauen Sie nur, wie viele
Professuren es heute gibt und wie viele es früher gab. Laut Unesco gab es 2013
7,8 Millionen lebende Wissenschafter auf der Erde. Das dürfte die Zahl aller
Wissenschafter, die früher einmal gelebt haben, um ein Mehrfaches übersteigen.
Deshalb haben wir nicht mehr den einen Kant oder den einen Newton. Die heutigen
Nobelpreisträger hat man häufig am nächsten Tag schon wieder vergessen, auch
weil es eine grosse Zahl von Wissenschaftern gibt, die eine vergleichbare
Leistung erbracht haben.
Interview: Michael Schoenenberger
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