29. Juli 2017

Stern für flexiblen Schuleintritt

Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern rät von der Verschulung kleiner Kinder ab.
"Die Schweiz ist ein Ort der Seligen", NZZ, 29.7. von Michael Schoenenberger


Sie kamen 2006 als deutsche Forscherin in die Schweiz. Was ist Ihnen zuerst aufgefallen?
Natürlich die Studenten. Sie fielen mir als sehr arbeitsam auf. Später hat sich das Bild dann etwas korrigiert. Schweizer Studenten unterscheiden sich von ihren deutschen Artgenossen doch nicht so stark, wie ich meinte.

Und das Land? Gefällt es Ihnen?
Die Schweiz ist ein Ort der Seligen. Man kann es nicht anders sagen. Die Lebensqualität ist sehr hoch. Vielleicht haben wir hier die beste Lebensqualität auf der ganzen Welt. Es gibt zwar Unterschiede zwischen Reich und Arm. Aber sogar Menschen, die keine gutbezahlten Jobs haben, können sich viele Dinge leisten. Menschen, die in der Schweiz als arm gelten, zählen in anderen europäischen Ländern zur Mittelschicht.

Trotzdem beklagen sich die Schweizer, dass hier der Mittelstand leide?
Ich kann diese Klagen nicht nachvollziehen.

Und die Schweizer, die Schweizerinnen? Sehen Sie diese auch so positiv?
Wissen Sie, was das Schönste ist? Schweizer schenken anderen Menschen prinzipiell viel Vertrauen. In Deutschland ist das ganz anders: Dort wird man stets wie ein potenzieller Betrüger behandelt. Auch der Schweizer Staat zeigt ein Grundvertrauen in seine Bürgerinnen und Bürger, was sich zum Beispiel bei der Steuererklärung zeigt. In Deutschland hält man jeden erst mal für einen Gesetzesbrecher.

Und trotzdem: Deutschland hat «Grandezza», die Schweiz ist eng, und Berlin, wo Sie vorher tätig waren, ist doch viel cooler, nicht? Viele Schweizer sind ganz begeistert . . .
Na ja. Ich will Berlin jetzt nicht schlechtmachen, aber die Schweizer haben eine sehr offene Mentalität. Zürich ist viel multikultureller, überhaupt die Schweiz. Das Besondere hier ist, wie viele Ausländer es in hohen Positionen gibt. Es ist erstaunlich, welche Akzeptanz die Schweizer den Fremden entgegenbringen. Das dürfte wirklich einmalig sein in der Welt.

Waren Sie als Frau jemals benachteiligt?
In Deutschland schon. Bei einer Berufung in München war ich auf Platz eins, aber die wollten einen bestimmten Mann, der deutlich schlechter publiziert hatte als ich. Deshalb wurde ich als völlig unverträgliche Zicke bezeichnet. Das geht übrigens vielen Frauen so: Ist ein Mann erwünscht, wird die Frau als sozial schwierig bezeichnet. Reagiert eine Frau ungehalten auf eine Sache, wird sie als hysterisch bezeichnet, während der Mann bei exakt gleichem Verhalten als durchsetzungsstark gilt.

Stellen Sie solch problematische Etikettierungen auch hierzulande fest?
Eher weniger. Aber dass sich im Zweifelsfalle das «similar to me» durchsetzt, gilt auch hier. Männer wollen Männer. Und das benachteiligt Frauen. Was ich aber positiv erwähnen möchte: Als Frau muss man andernorts mit ziemlich vielen Machos zurechtkommen. In der Schweiz gibt es kaum Macho-Männer. Das geniesse ich.

Wenn Männer bei Stellenbesetzungen immerzu Männer bevorzugen, würden Frauenquoten helfen. Was halten Sie von Frauenquoten?
Quoten verstärken problematische Verhaltensmuster bei Stellenbesetzungen. Es heisst dann rasch: Wenn schon eine Frau, dann bitte eine eher mittelmässige. Männer wählen dann nicht selten Frauen, von denen sie wissen, dass sie keine Konkurrenz sind. Wenn man dann die durchschnittliche Leistung vergleicht, schneiden Frauen wirklich schlechter ab. Das Problem bei Stellenbesetzungen ist oft, dass durchschnittliche Männer zu Genies hochgejubelt werden, während man bei guten Frauen das Haar in der Suppe sucht. Allein ein kritischer Blick auf den Lebenslauf und das Verhalten von Männern bei Vorstellungsgesprächen könnte Frauen aufwerten und ihre Chancen erhöhen.

Sie sehen Quoten kritisch. Braucht es denn im 21. Jahrhundert noch eine Frauenförderung?
Ja doch, von Anfang an in der Karriere. Am besten fördert man Frauen, wenn sie ehrliche und harte Feedbacks bekommen. Frauen gehen unter, weil sie zu häufig keine ehrlichen Rückmeldungen bekommen.

In welchem Sinne?
Frauen werden gelobt, wenn sie eine Konferenz toll organisiert oder dem Team einen Kuchen gebacken haben. In der Wissenschaft aber muss man den Frauen knallhart sagen, ob ihre Publikationsliste und ihre wissenschaftliche Mission konkurrenzfähig sind oder nicht. Das ist, was zählt. Und so bringt man Frauen weiter.

Sie sprechen jetzt vor allem vom Wissenschaftsbetrieb. Braucht es sonst Frauenförderung?
Sonst ist eigentlich sehr viel getan worden. In der Schule, in den Familien, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ein Kind ist heute kein Karrierehindernis mehr, auch wenn es natürlich anstrengend bleibt, Karriere und Kinder unter einen Hut zu bekommen.

Sie forschen zur menschlichen Intelligenz. Müssen Säuglinge und Kleinkinder gefördert werden, damit aus ihnen intelligentere Wesen werden? Und wie machen wir das idealerweise?
Intelligenzunterschiede werden durch die Gene in hohem Masse determiniert. Dem ist so, ob es uns passt oder nicht. Aber Intelligenz ist ein Merkmal, das eine grosse Reaktionsnorm hat. Das heisst, es braucht eine Umwelt, damit die Gene sich entfalten können. Wir wissen, dass der Wortschatz für die Intelligenzentwicklung wichtig ist. Wollen Eltern im ersten Lebensjahr das Beste aus den Genen der Sprösslinge herausholen, dann müssen sie viel mit ihnen sprechen. Die Kinder müssen eine gute, grammatikalisch korrekte Sprache hören. Und die Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, die Welt zu erkunden.

Und das machen nicht alle Eltern automatisch?
Eben nicht. Das Problem bei der Förderung ist, dass manche Eltern ihre Kinder im ersten Lebensjahr vernachlässigen. Sie verstehen Kleinkinder als Wesen, die in erster Linie nur essen, verdauen, herumkriechen und vor dem Fernseher sitzen. Sie denken: Was soll ich mit jemandem reden, der noch nicht sprechen kann? Oder sie machen den Fehler, Kinder zu entmutigen. Wenn Kinder einen Fehler machen, ist es ganz verkehrt, zu sagen: Rede erst mal richtig. Man muss ihnen die Gelegenheit zum Sprechen geben.

Die meisten Eltern stehen heute aber unter Druck: Sie meinen, Bildung müsse schon im Mutterbauch anfangen. Es gilt, möglichst früh mit einer Fremdsprache, mit Zahlen oder anderer «Bildung» in Kontakt zu kommen.
Das ist komplett falsch, ich kann davor nur warnen. Viele Eltern machen sich fast verrückt, kaufen irgendwelche Gimmicks für die Kleinen, welche sie zu intelligenteren Wesen machen sollen. Im besten Fall nützen diese Dinge nichts, aber im schlechten Fall schaden sie massiv.

Sie schaden?
Wenn Eltern ihre Kinder zu früh auf irgendwelche Dinge trimmen, fühlen sich Kinder fremdbestimmt. Sie wissen nicht, wozu sie etwas lernen. Sie fühlen sich wie in einer ständigen Prüfung. Lernen erscheint ihnen dann als etwas Feindseliges, etwas, das ihnen aufgedrängt wird. Und das schadet auf lange Sicht.

Aber Kinder im Alter zwischen zwei und vier Jahren darf ich schon auf etwas trimmen, oder?
Nein, besser nicht. Wir wissen, dass Kinder erst im Alter zwischen drei und vier eine «theory of mind» entwickeln. Vorher wissen sie noch nicht, dass es in meinem Kopf anders aussieht als in ihrem Kopf. Wenn Kinder mit den «Warum-Fragen» beginnen, sieht es anders aus. Dann geht für sie eine neue Welt auf. Das hat mit der biologischen Entwicklung zu tun. Instruktives Lernen ist erst dann sinnvoll, wenn Kinder verstanden haben, dass man von anderen Personen wirklich etwas mitnehmen kann, eben weil diese Personen über manche Dinge mehr wissen als man selbst.

Fördern wir in der Schweiz die Kinder in diesem Sinne?
Einmal abgesehen davon, dass Eltern die obengenannten Fehler nicht machen sollten, geht vieles in eine gute Richtung, aber es gibt Verbesserungspotenzial. Als Gesellschaft müssen wir dafür sorgen, dass alle Kinder eine anregende Umgebung erhalten. Es gibt auch hier Familien, in denen Kinder in Umgebungen aufwachsen, die die Entfaltung der Gene behindern. Eine bezahlbare und qualitativ hochwertige Betreuung bleibt auch für berufstätige Akademiker ein Problem. Für alle Kinder müssen also solche Räume geschaffen werden.

Je mehr die Eltern berufstätig sind, desto wichtiger wird die Diskussion um die richtige Betreuung und Förderung in den Kindertagesstätten. Was sollte dort beachtet werden?
Kinder müssen Leute um sich herum haben, die grammatikalisch korrekt sprechen. Das ist ganz wichtig, weil Kinder sehr früh viele Dinge nur über die Sprache lernen. Auch wenn sie selbst beim Sprechen noch Fehler machen, achten sie auf grammatische Feinheiten. Zeigt man auf ein Tier und sagt: «Das ist Hund», halten sie das Wort «Hund» für einen Eigennamen. Sagt man hingegen: «Das ist ein Hund», wissen sie, dass es sich um einen Gattungsbegriff handelt. Wenn das Betreuungspersonal nicht korrekt in der Muttersprache des Kindes spricht, entgehen diesem Lerngelegenheiten.

Wie würde aus Sicht der Intelligenzforscherin ein ideales Bildungssystem aussehen?
Für Kinder bis vier Jahre sollte es ein qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot geben. Für alle, aber freiwillig. Dort wären die Kinder nach den vorher beschriebenen pädagogischen Grundsätzen zu betreuen. Das Angebot sollte einkommensabhängig bezahlt werden. Ab vier Jahren sind Kinder offen, sie lernen durch Instruktion. Das sollte man in Massen für gemeinsames Lernen nutzen. Es sollte jetzt auch mal einzelne Stunden geben, wo man zusammen etwas übt, zum Beispiel erste Buchstaben und Zahlen. Natürlich ohne Noten, damit die Kinder sich auf das Lernen und nicht auf die Leistung konzentrieren. Die Kinder sollten sich vor allem über ihren individuellen Lernfortschritt freuen.

Wie ginge es weiter?
Es sollte einen flexiblen Schuleintritt geben. Manche Kinder wollen schon mit fünf Jahren unbedingt schreiben, andere nicht. Das Gleiche gilt fürs Rechnen. Das muss alles viel flexibler werden. So kann man einerseits die Schwachen fördern, andererseits die Starken zu Höchstleistungen bringen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt müssen sich dann selbstverständlich alle Kinder auch mit jener Materie beschäftigen, die sie vorher noch nicht interessiert hat. Es ist klar, dass für ein solches Modell mehr Ressourcen nötig sind und dass der Unterricht jahrgangsübergreifend gestaltet werden sollte.

Blicken wir auf eine weitere Bildungsstufe, das Gymnasium. Finden sich die intelligenten Kinder in diesem Land im Gymnasium wieder?
Leider nicht, also nur zum Teil. Rund 20 Prozent der Jugendlichen besuchen in der Schweiz ein Gymnasium. Unsere Daten zeigen aber, dass ein beachtlicher Teil der Schweizer Gymnasiasten – ich gehe von mindestens 40 Prozent aus – nicht die Intelligenz hat, über welche die oberen 20 Prozent eigentlich verfügen sollten. Der Zugang zum Gymnasium hängt zu stark von der sozialen Schicht ab, und leider nicht nur von der Intelligenz.

Die bessergestellten Kinder müssen aber doch auch eine Prüfung ablegen und sich dann im Gymnasium beweisen.
Die bessergestellten Kinder werden auf die Prüfung hin trainiert. Wir finden, dass es eigentlich in jeder Gymnasialklasse zwei oder drei Schülerinnen und Schüler gibt, deren Intelligenz deutlich unter dem zu erwartenden Mindestwert liegt. Mehr wären wohl nicht tragbar. Die werden dann irgendwie mitgezogen, etwa mit Nachhilfe. Und man passt das Niveau ein bisschen nach unten an.

Wäre eine Erhöhung der Maturitätsquote nicht geeignet, um ebendieses Problem zu entschärfen?
Da bin ich dagegen. Die Maturitätsquote liegt bei 20 Prozent richtig. Erhöhen wir sie, heisst es ja nicht automatisch, dass dann die bisher zurückgewiesenen intelligenten Schülerinnen und Schüler den Zugang bekommen. Zusätzlich zu den Aufnahmeprüfungen sollten wir mit Intelligenztests arbeiten. Primarlehrerinnen und Primarlehrer sollten sich bei jedem Kind fragen, ob es vielleicht mehr Intelligenz mitbringt, als es gerade aufgrund irgendwelcher Umstände zeigt. Das könnte man mit Tests herausfinden. Oder umgekehrt: Bei Kindern, deren Eltern unbedingt wollen, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, obwohl Lehrpersonen Zweifel haben, könnte man die Intelligenz ebenso testen.

Welche Defizite stellen Sie sonst an Gymnasien fest?
Der Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik muss stärker auf das Verständnis von Konzepten ausgerichtet sein. Noch immer lernen Schüler Dinge, die sie nicht wirklich verstanden haben. Irgendwann fallen sie auf die Nase. Ich sehe grosses Optimierungspotenzial beim verständnisorientierten Unterricht.

Wie kann man optimieren?
Es gibt viele intelligente Schüler, die in Mathematik oder Physik nicht zu Hochform auflaufen. Da stimmt etwas in der Vermittlung des Stoffes nicht. Schüler müssen nachvollziehen können, welche neuen Erkenntnisse ihnen der neue Stoff ermöglicht, und nicht einfach etwas nachmachen, was der Lehrer ihnen vormacht.

Kommen wir noch auf die Universitäten zu sprechen. Ich habe den Eindruck, es gibt ein bisschen viel Quantität und etwas zu wenig Qualität. Täuscht der Eindruck?
Nein. Bei der Evaluation wissenschaftlicher Leistungen spielen einfach zu ermittelnde Grössen wie Anzahl der Publikationen und deren Zitationen eine zu grosse Rolle. Diese Indikatoren haben ihre Berechtigung, aber wichtiger ist die Auseinandersetzung mit den Inhalten.

Und wie ändern wir das?
Gutachter müssen die Arbeiten genau lesen und sie in das Gesamtbild der Wissenschaft einordnen. Wie genau lässt sich der Beitrag zur Wissenschaft beschreiben, und wie ist er zu bewerten? Was kann man von der Person in Zukunft erwarten?

Die Beschäftigung mit dem Inhalt ist schwieriger und aufwendiger, nicht?
Ja, das ist der Punkt. Eine Fokussierung auf quantitative Indikatoren schafft falsche Anreize.

Sagen Sie, kennen Sie einen grossen Schweizer Intellektuellen?
(denkt lange nach) . . . Jean Piaget aus meinem Gebiet natürlich . . .

. . . ich dachte eher an die Gegenwart.
Da müsste ich noch länger nachdenken, aber ich hätte auch Probleme, die Frage nach einem deutschen Intellektuellen zu beantworten.

Und woran liegt das?
Heute laufen sehr viele Menschen in ihrem Gebiet zur Höchstform auf. Immer mehr Menschen gehören zur geistigen Elite. Und das ist gut. Schauen Sie nur, wie viele Professuren es heute gibt und wie viele es früher gab. Laut Unesco gab es 2013 7,8 Millionen lebende Wissenschafter auf der Erde. Das dürfte die Zahl aller Wissenschafter, die früher einmal gelebt haben, um ein Mehrfaches übersteigen. Deshalb haben wir nicht mehr den einen Kant oder den einen Newton. Die heutigen Nobelpreisträger hat man häufig am nächsten Tag schon wieder vergessen, auch weil es eine grosse Zahl von Wissenschaftern gibt, die eine vergleichbare Leistung erbracht haben.

Interview: Michael Schoenenberger


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen