Die neoliberale Ideologie hat zu einer
radikalen Veränderung von Schule und Hochschule geführt. Denn wenn Erkenntnis
durch Kompetenz ersetzt wird, bleibt von der Bildung nichts mehr übrig: In
Frankfurt tagte die erste Inkompetenzkonferenz.
Die Trauer der Universitäten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7. von Hannah Bethke
Kompetent sein will jeder – zumindest jeder,
der es zu etwas bringen will. Kompetenzen, so ist allenthalben zu hören, sind
der Schlüssel zum Erfolg. Wer sich heute eines umfangreichen Sachverstands und
vielseitiger Fähigkeiten rühmen kann, gilt in einer mobilen Wissensgesellschaft
wie der unseren als bestens vorbereitet. Was also sollte an einer
kompetenzorientierten Bildungspolitik verkehrt sein?
In welchem Ausmaß derjenige falsch liegt, der dies annimmt,
veranschaulichte die „Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz“, die am vergangenen
Wochenende am Frankfurter Universitätsklinikum stattfand.
Veranstaltet wurde die interdisziplinäre Tagung in der Tradition der
„Frankfurter Einsprüche gegen die Ökonomisierung der Bildung“, die 2005
erstmals vorgetragen wurden. Sie sind als kritische Entgegnung auf die radikale
Umwälzung zu verstehen, die sich an deutschen Universitäten seit der
Bologna-Reform vollzieht.
Die Konferenz zielte auf
eine Entlarvung des Kompetenzbegriffs, der seine Wurzeln in der Ökonomie hat
und in allen einschlägigen bildungspolitischen Profilen, Curricula, Prüfungsordnungen,
Lernzielen, Lehrplänen und Studienordnungen eine geradezu beängstigende
Karriere gemacht hat. Das Ziel von Bildungsprozessen, sagte der Wiener
Philosoph Konrad Paul Liessmann, sei nicht mehr Bildung, sondern der umfassend
kompetent gewordene Mensch. Sachkompetenz, soziale Kompetenz, interkulturelle
Kompetenz – die von Liessmann präsentierte Liste der Fähigkeiten, auf deren
Erwerb Schule und Studium ausgerichtet seien, ist lang.
Die
Dominanz der Anwendungsorientierung
Das Wissen trage seinen
Zweck nicht mehr in sich selbst, sondern unterliege dem Kriterium der
Anwendbarkeit. Dass sich diese Entwertung von Inhalten in den Curricula
spiegelt, zeigten Johanna Gaitsch und Bernadette Reisinger von der Universität Wien.
Der fachliche Anteil werde immer schmaler. Das Verhältnis von Wissen und
Können, erklärte Liessmann, sei durch die Dominanz der Kompetenz verkehrt
worden: Die Sache selbst sei nur noch das Mittel, um etwas zu können. Was
zählt, sei messbare Tätigkeit, Nützlichkeit, Problemlösung. Damit aber würden
Schülern und Studenten die Erkenntnislust und Neugier genommen, deren sie doch
bedürften, um die Wirklichkeit verstehend zu durchdringen.
In der Praxis sieht das
dann so aus: Man kann studieren, ohne gebildet zu sein. Man kann das Abitur
erlangen, ohne Fachwissen erworben zu haben. Wer das nicht glaubt, werfe einen
Blick auf heutige Abitur- und Prüfungsaufgaben. Hans Peter Klein, Lehrstuhlinhaber
für Didaktik der Biowissenschaften an der Universität Frankfurt, hat die Probe
aufs Exempel gemacht und Neuntklässlern Abituraufgaben im Fach Biologie
vorgelegt. Sie hatten keine Schwierigkeiten, die Aufgaben zu lösen, denn alles,
was sie dort zu beantworten hatten, stand in dem der Aufgabe beigefügten Text.
Ähnliches, auch das zeigte die Konferenz, gilt für die Pisa-Studie, die sich
ebenso wie das Zentralabitur in Kenntnis der Prüfungsinhalte als reiner
Etikettenschwindel erweist.
Neoliberale
Aufweichung der Bildung
Das Ergebnis der
Kompetenzorientierung, so lautete der Grundtenor aller Referenten bei der
Konferenz, ist die Erziehung zur Inkompetenz. Der Prozess einer „Verflachung“
(Bernhard Kempen) der Bildungslandschaft werde verstärkt durch die Inflationierung
von guten Noten und der auf der Konferenz stark kritisierten Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die unaufhörlich höhere
Studentenzahlen fordert. Die Ursache all dessen nannte der Hamburger
Mathematiker Jürgen Bandelt unter Zustimmung der Anwesenden beim Namen: Der
Neoliberalismus habe das humanistische Bildungsverständnis zerstört.
Aber warum leistet niemand
Widerstand? Warum lassen die Hochschullehrer sich das gefallen? Zu wenig
Rückgrat, befand Liessmann. Zu viel Druck durch Drittmittelvergabe und prekäre
Beschäftigungsbedingungen, gab Klein zu bedenken. Die Verschulung der
Universität sei ein ungewollter Effekt, sagte der Bielefelder Soziologe Stefan
Kühl.
Das allerdings ist kaum zu
glauben, wenn man bedenkt, wie beharrlich die neoliberale Aufweichung der
Bildung vorangetrieben wird, obwohl sie seit Jahren von massiver Kritik durch
Medien, Lehrer und Hochschullehrer begleitet wird. Denn was auf der Konferenz
vorgetragen wurde, ist, von einzelnen Begriffen abgesehen, an denen sich die
Kritik jeweils entzündete, keineswegs neu – und das ist vielleicht das
eigentlich Erschreckende daran. Es wird seit geraumer Zeit auf die Folgen
dieser ökonomisierten Bildungspolitik aufmerksam gemacht: auf den Niveauverfall
an Schulen und Hochschulen, auf die Prekarisierung des akademischen Mittelbaus,
auf die „Praxis der Unbildung“ (Liessmann) und den schleichenden Ersatz von
Wissen und Inhalt durch Didaktik, Präsentation und Methode. Zu einer sichtbaren
Veränderung des bildungspolitischen Profils haben diese Einsprüche bislang
nicht geführt.
Die Macht
der Eltern
Natürlich mag es wohltuend
sein, sich einmal – was in diesen Fragen selten genug passiert – in einer
Gemeinschaft der Gleichgesinnten zu bewegen. Denn dadurch erspart man sich die
vergebliche Mühe, erst einmal langwierig (ohne jedoch auf das Verständnis des
Gegenübers hoffen zu dürfen) zu erklären, warum es denn ein Problem darstellt,
wenn Schüler und Studenten immer weniger wissen und nicht einmal mehr die
Grundrechenarten und die deutsche Rechtschreibung beherrschen. Die Aussichten
dürften indes gering sein, dass eine solche Zusammenkunft wie die Konferenz
irgendetwas bewirkt. Mathias Brodkorb, langjähriger Bildungsminister,
inzwischen Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, wies darauf hin, dass
sich die gesellschaftliche Realität woanders abspiele. Was an einer Schule
stattfindet oder nicht und wie darauf reagiert wird, werde nicht maßgeblich von
den kritischen Einsprüchen der überregionalen Tagespresse beeinflusst, sondern
von den kleinen Lokalzeitungen am Ort, von der Stimmung vor der eigenen
Haustür.
Klein verwies darauf, dass
Eltern auf lokaler Ebene sehr viel mehr ausrichten könnten als Lehrer und
Hochschullehrer. Das zeige etwa die Umstellung von G9 auf G8: Die Verkürzung
der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre wird mittlerweile in vielen
Bundesländern wieder zurückgenommen. Nur: Jeder, der den Schulalltag kennt,
weiß, dass Eltern in aller Regel nun gerade nicht zu denjenigen gehören, die es
begrüßen, wenn das Lernniveau angehoben und ihren Kindern mehr (beziehungsweise
überhaupt etwas) abverlangt wird. Sobald ein Schüler schlecht benotet wird –
und „schlecht“ bedeutet in heutiger Übersetzung alles, was schlechter als eine
Zwei ist –, müssen die Lehrer damit rechnen, dass die Eltern sich beschweren,
ihnen eine ungerechte Behandlung ihres Kindes vorhalten und jeglichen Anteil
des Schülers an seiner nicht als gut eingestuften Leistung abstreiten.
Wenn
also Hochschullehrer, Lehrer und Medien nichts Wesentliches ausrichten können
und mit Eltern nicht zu rechnen ist – was bleibt dann noch? Die
Konferenzteilnehmer zeigten sich kämpferisch. Sind die proklamierten
Bildungsziele überhaupt noch verfassungskonform? Manch einer setzte auf den
juristischen Handlungsspielraum – sofern es ihn gibt. Dass es an der Zeit sei,
gegen die „kompetenzorientierte“ Bildungspraxis Widerstand zu leisten, darin
schienen sich alle einig zu sein. Doch der Weg zum bildungspolitisch wirksamen
Widerstand muss wohl erst noch gefunden werden. Es steht zu hoffen, dass die
Initiatoren schon einen Schritt weiter sein werden, wenn sie sich zur nächsten
Bildungskonferenz versammeln, die im kommenden Jahr geplant ist.
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