Das Video war für einen Kollegen bestimmt. Doch aus Versehen schickte es
der Bub in den Gruppenchat seiner Klasse. Alle Mitschüler erhielten den Porno.
Kein hartes Material, ein einfacher Sexfilm. Trotzdem musste der Elfjährige
kürzlich vor dem Jugendstaatsanwalt antraben.
Schutz vor Pornografie macht Teenager zu Kriminellen, Tages Anzeiger, 22.7. von Roland Gamp
So wie ihm ergeht es immer mehr Minderjährigen. 224 wurden im letzten
Jahr wegen Pornografie verurteilt.
Das sind fast fünfmal so viele wie noch 2011 (47). Auch die Zahl der Anzeigen
stieg in den letzten fünf Jahren von 61 auf 286. Einer der Beschuldigten war
noch keine zehn Jahre alt. «Sehr oft handelt es sich um Jugendliche, die
pornografische Videos und Bilder aus dem Internet in Klassenchats untereinander
verschicken», sagt Patrik Killer, leitender Jugendanwalt der Stadt Zürich. In
vielen Fällen zeigt ein Kind das Material den Eltern, oder diese entdecken es
selbst auf dem Smartphone. «Sie melden das der Schule, die dann Anzeige
erstattet.»
Gelbe Karte ohne Eintrag ins Strafregister
Harte Pornos, die etwa Gewalt oder Kinder zeigen, sind in der Schweiz
grundsätzlich verboten. An Personen unter 16 Jahren dürfen aber auch keine
normalen Sexfilme und -bilder verschickt werden. «Das Gesetz will damit Kinder
schützen – sie sollen nicht so früh in Kontakt kommen mit Pornografie», sagt
Killer. «Man kann sich fragen, ob damit nicht die Jugendlichen selbst
kriminalisiert werden, die solche Inhalte unter Gleichaltrigen verschicken.»
Niklaus Ruckstuhl, Leiter der Fachgruppe Strafrecht beim Schweizerischen
Anwaltsverband: «Man müsste Schutzbestimmungen einführen. Dass Jugendliche
massiv milder bestraft werden, die ‹normale› Pornografie unter Gleichaltrigen
teilen.» Sinnvoll seien erzieherische Massnahmen wie Kurse. «Verbote und
Strafen hingegen machen bei solchen Vergehen wenig Sinn. Das motiviert
Jugendliche eher zum Gegenteil.» Auch das Forensische Institut Ostschweiz, das
Sexualtäter therapiert, warnt. «Die Jugendlichen sind oft unbedarft im Umgang
mit den sozialen Medien und werden in diesen Dingen viel zu hart bestraft für
eine Dummheit», sagt Geschäftsleiterin Monika Egli-Alge.
Das berücksichtigt der Tessiner Jugendanwalt Reto Medici. «Ich suche das
Gespräch mit dem Jugendlichen, aber auch mit den Eltern.» In den meisten Fällen
reiche das aus, um Rückfälle zu verhindern. «Dann spreche ich einen Verweis
aus. Eine Art Gelbe Karte ohne Eintrag im Strafregister.» Auch die Behörden im
Aargau und Zürich verordnen in leichten Fällen Arbeitseinsätze oder Kurse
anstatt Bussen oder Freiheitsstrafen.
Die Jugendanwaltschaften begründen den Anstieg der Urteile damit, dass
heute fast jeder Teenager Zugang zu Pornografie hat. Laut der internationalen
James- Studie besitzen 99 Prozent aller Jugendlichen in der Schweiz ein
Mobiltelefon. 43 Prozent haben schon «erotische oder aufreizende Videos und
Bilder» erhalten.
Pornografie im Lehrplan 21 – erst ab Oberstufe
Dass es illegal ist, solche zu teilen, ist jedoch nur den wenigsten
bewusst. «Leider wird das Thema an den Schulen vernachlässigt», sagt Esther
Elisabeth Schütz, Leiterin des Instituts für Sexualpädagogik in Uster ZH.
«Gesellschaftliche Normen tragen dazu bei, Pornografie aus Angst vor
Reklamationen seitens der Eltern zu vermeiden.» Vielen Lehrern fehle auch das
fachliche Wissen. «Sie reagieren mit eigenen Wertvorstellungen und haben nicht
die erforderliche Distanz, um die Jugendlichen adäquat zu begleiten.»
Unterstützung bei der Sexualaufklärung bietet «Achtung Liebe», ein
Verein von Studenten, die den Unterricht begleiten. «Wir gehen dabei immer auch
auf den rechtlichen Aspekt des Versendens von Pornografie ein», sagt Vizepräsidentin
Eva Burri. 150 Einsätze habe man letztes Jahr absolviert. «Aber auch diese
Besuche reichen kaum», sagt Burri. «Es braucht unbedingt mehr Aufklärung an den
Schulen.»
Genau dies sieht der Lehrplan 21 vor. «Das Thema Pornografie wird im
Rahmen des Faches Medienpädagogik in der Oberstufe explizit behandelt», sagt
Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des Schweizer Lehrerverbands. «Dazu
gehören auch die rechtlichen Aspekte.» Für Mittel- und Unterstufe sei der
Umgang mit Pornografie nicht vorgeschrieben. «Ich beantworte im persönlichen
Gespräch mit Schülern aber selbstverständlich auch auf der Primarstufe viele
Fragen zum Thema Sexualität. Ohne dass das im Lehrplan so geschrieben
steht.»
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