Kinder mit oder ohne Behinderung
sollen gemeinsam lernen – die Idee finden viele Eltern, Lehrer und Schüler in der Theorie
richtig, in der Praxis sind sie jedoch enttäuscht. 2009 ratifizierte
Deutschland nach langem Zögern die UN-Behindertenrechtskonvention und gab damit
den Startschuss für die sogenannte Inklusion in den Schulen. Kinder mit
Behinderung haben seither das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Sie sollen
nicht länger von der Gesellschaft isoliert werden. Doch Inklusion wirkt auf
viele Betroffene eher als Sparkurs der Politik, denn als gelungene Förderung.
Für das gemeinsame Lernen fehlen Fahrstühle, Rückzugsräume, Lehrer,
Sonderpädagogen – und Zeit. In vielen Bundesländern haben sich Elterninitiativen
gegründet, die mehr Geld für Inklusion fordern. Unterstützung
bekommen sie dabei von den Lehrerverbänden.
Ein Fahrstuhl, ein Raum, eine Kollegin, Zeit, 16.7. von Birk Grüling
Hier
schildern eine Schülerin, eine Lehrerin und ein Elternvertreter ihre
persönlichen Erfahrungen.
Hanna Schweizer geht in die 12. Klasse
einer Hamburger Stadtteilschule und engagiert sich in der Initiative Gute
Inklusion, die eine bessere Ausstattung der Schulen und mehr Lehrkräfte für die
Inklusion fordert.
Ich
war selbst fünf Jahre lang in einer Integrationsklasse an unserer Gesamtschule
– damals gab es noch keine flächendeckende Inklusion in Hamburg. Ich hatte fünf
Mitschüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Darunter war ein Kind mit
Down-Syndrom. Die anderen vier brauchten einfach etwas mehr Zeit und
Unterstützung beim Lernen. Alle fünf waren ganz normaler Teil unserer Klasse.
Im Unterricht waren diese Unterschiede kein großes Problem. Es gab nämlich nur
wenig Frontalunterricht, stattdessen hatte jeder von uns einen eigenen
Wochenplan mit Aufgaben. So konnten wir immer an ähnlichen Themen arbeiten, nur
eben auf unterschiedlichem Niveau. Der Mitschüler mit Down-Syndrom übte immer
wieder die Grundrechenarten, oder verschiedene Formen zu zeichnen, während wir
anderen uns mit Gleichungssystemen oder Flächenberechnungen beschäftigten. Die
Lehrer haben uns vor allem eine klare Struktur gegeben – zum Beispiel Zeiten
für freies Arbeiten oder Gruppenaufgaben. Sie waren für alle inhaltlichen
Fragen da.
Außerdem
kümmerte sich eine Sozialpädagogin in jeder Stunde um die Schüler mit
Behinderung. Sie hat zum Beispiel darauf geachtet, dass sie auch bei
Gruppenarbeiten mitmachen, oder ihnen nochmal in Ruhe die Aufgaben
erklärt. Aber auch wir anderen konnten sie ansprechen.
Jetzt
ist alles anders
Wir
hatten sogar einen zusätzlichen Arbeitsraum. Hier konnten wir in Ruhe lesen
oder rechnen. Die Behinderung war zwischen uns Schülern eher selten ein Thema.
Wir haben gemeinsam die Pausen verbracht oder waren zusammen auf
Klassenfahrt.
Jetzt
ist alles anders. Es kommen immer mehr Förderschüler in die Klassen, vielen
Lehrern fehlt die Erfahrung mit der Inklusion. Mehr Sonderpädagogen gibt es
deshalb nicht. Auch an unserer Schule sind sie inzwischen für zwei Klassen
gleichzeitig zuständig und können die Lehrer nicht mehr jede Stunde
unterstützen. Außerdem sind mehr Schüler in den Klassen. Lehrer müssen sich
häufig gleichzeitig um die starken Schüler kümmern, die an der Gesamtschule ihr
Abitur machen wollen, und um schwächere, die Probleme mit den Grundrechenarten
oder dem Lesen haben. Dabei bleiben immer Kinder auf der Strecke.
Ich
finde das schade. Für mich persönlich war die Zeit in der Integrationsklasse
eine große Bereicherung. Ich fühlte mich nie schlecht oder zu wenig
unterrichtet und habe viel über Toleranz gelernt und darüber, dass Menschen
sehr unterschiedlich sein können.
Die
Sonderpädagogin kommt vier Stunden in der Woche
Heike Müller* ist Lehrerin an einer
Hamburger Stadtteilschule. In ihrer Klasse gibt es vier Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf.
Als
Lehrerin an einer Stadtteilschule unterrichte ich täglich Schüler mit
unterschiedlichem Förderbedarf. Außerdem habe ich selbst eine Tochter mit
Behinderung und entsprechend großes Interesse daran, dass die gute Idee der
Inklusion funktioniert. Doch leider wurde nicht zu Ende gedacht, wie sie
umgesetzt werden müsste. Das beginnt bei der Verteilung der Ressourcen. Je nach
Behinderung der Kinder stehen uns Lehrern zwar zusätzliche Stunden von
Sonderpädagogen zu. Aber es sind zu wenige und sie passen nicht unbedingt zu
unserem Stundenplan.
In meiner Klasse müssen von 25 Schülern vier besonders gefördert werden – ein
Kind hat eine körperliche Behinderung und die anderen drei haben
Schwierigkeiten beim Lernen und brauchen Unterstützung im Sozialverhalten.
Immerhin ist an unserer Schule eine Sonderpädagogin angestellt. Sie kommt vier
Stunden pro Woche in meine Klasse und arbeitet mit diesen vier Schülern – leider
ist sie in keiner meiner 16 Klassenlehrer-Stunden dabei, weil es in ihren
Stundenplan nicht passt.
Ich
lerne so viel über meine Schüler
Ich
empfinde trotzdem den Austausch mit der Kollegin als Gewinn – auch wenn der aus
Zeitgründen viel zu selten stattfindet. Ich habe selbst keine entsprechende
Ausbildung und lerne von ihr so viel über meine Schüler und ihre besonderen
Bedürfnisse. Zum Beispiel habe ich einen Schüler mit
Wahrnehmungsschwierigkeiten. Für ihn ist ein "normales" Arbeitsblatt
eine Seite mit vielen unzusammenhängenden Buchstaben. Er weiß oft nicht, wo er
anfangen soll zu lesen. Deshalb muss ich seine Arbeitsblätter sehr
übersichtlich gestalten und eine große Schrift wählen. Ich markiere außerdem
Satzanfänge besonders. Mit dieser Hilfe kommt er wunderbar mit. Ohne meine
Kollegin hätte ich diese Entdeckung wahrscheinlich nie gemacht und womöglich
geglaubt, dass er einfach nicht mitmachen will.
Meine
Sonderschulkollegin schafft es, den Schülern Aufgaben zu geben, die sie
erfüllen können und verringert damit die Barrieren. Das ist unglaublich
wertvoll für Kinder, die im Schulalltag oft ihre Grenzen zu spüren bekommen.
Deshalb wäre es sehr wichtig, in jeder Stunde zu zweit für die Schüler da zu
sein. Darüber hinaus bräuchten wir noch mehr Zeit, um uns miteinander
auszutauschen. In der jetzigen Konstellation stoße ich häufig an meine Grenzen,
wenn ich allen Kindern gerecht werden will – das gilt vor allem für die
sehr leistungsstarken und für die eher schwachen Schüler, die viel
Aufmerksamkeit im Unterricht brauchen.
Für
sie bräuchte ich mehr Zeit und Ruhe, die ich allein in der Klasse nicht habe.
Wir arbeiten an unserer Schule nämlich wenig mit Frontalunterricht und
stattdessen mit individuellen Lernplänen und Gruppenarbeiten. Jedes Kind
bekommt individuelle Listen mit Aufgaben und Zielen. Am Anfang einer
45-minütigen Unterrichtsstunde muss jeder Schüler also seine Aufgaben
heraussuchen. Danach brauche ich Zeit, um den Kindern mit Förderbedarf ihre
Aufgaben zu erklären. Zwischendurch entstehen natürlich auch Fragen bei allen
anderen Kindern. Ich kann ihnen oft nicht sofort helfen. Also helfe ich zuerst
den Kindern, die ohne Aufgaben schnell laut werden. So bleibt es wenigstens
ruhig im Raum. Erst dann kann ich zu den ruhigeren, selbstständigeren Kindern
gehen. Zu zweit könnten wir uns besser die Arbeit aufteilen und mehr für
leistungsstärkere Kinder da sein.
Kinder
können sich nicht zurückziehen
Leider
haben wir auch ein Problem mit fehlenden Räumen. Die Schüler können sich nicht
zurückziehen, um sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Ihnen steht nur der
Klassenraum zur Verfügung, in dem es manchmal sehr laut zugehen kann. Das liegt
an unserem offenen Unterrichtskonzept. Die Schüler arbeiten häufig in Gruppen
oder hören im Englisch-Unterricht CDs. Aus dieser Geschäftigkeit entsteht Lärm.
Kinder, die gerade einen Test schreiben wollen oder an einer schwierigen
Matheaufgabe knobeln, stört dieser Geräuschpegel. Weil wir keine Ausweichräume
haben, haben wir zu Beginn einer Lernstunde eine 20-minütige "Stillezeit"
eingeführt. In dieser Zeit darf keiner reden und die Kinder dürfen nur allein
arbeiten. Sie melden sich bei Fragen und ich gehe rum und helfe. Das halten die
Kinder natürlich nur eine begrenzte Zeit aus. Die Arbeitsformen müssen sich
abwechseln, sonst sind die Schüler sehr schnell erschöpft.
Mehr
Frontalunterricht wäre aber keine Alternative. Wenn ich wie in meiner Klasse
die Bandbreite von hochbegabten Schülern bis zu Kindern mit Behinderung
gemeinsam unterrichten soll, kann ich nicht einfach nur Aufgaben stellen, die
das Mittelmaß befriedigen. Viele Experten sind sich einig, dass dem
individuellen Lernen die Zukunft gehört und es eine Grundlage für gute
Inklusion ist. Aber die Behörde sieht nicht mehr Platz für die Schüler vor.
Deshalb hat unsere Schule jetzt Bauwagen angeschafft.
Auch
als Mutter bin ich davon betroffen: Meine Tochter ist wegen einer muskulären
Schwäche auf eine barrierefreie Umgebung angewiesen ist. Die Grundschule in der
Nähe wurde vor Kurzem sogar komplett saniert. Einen Fahrstuhl hat die Behörde
trotz Antrag nicht genehmigt. Eine Farce, wenn ständig davon geredet wird, dass
Inklusion erwünscht sei.
Keine
Zeit mehr für engagierte Lehrer und ihre individuellen Lösungen
Mike Finke ist Vorsitzender des
Landeselternrates Niedersachsen. Der Vater eines Sohnes mit Behinderung kennt
die schulische Inklusion aus eigener Erfahrung.
Als
mein Sohn 2006 in die Grundschule kam, gab es noch keine
"Inklusionsdebatten". Christoph war das einzige Kind mit Behinderung
in der kleinen Dorfgrundschule. Durch eine seltene neurologische Erkrankung ist
er kognitiv und motorisch eingeschränkt. Die Lehrer haben einfach akzeptiert,
dass er besondere Förderung braucht. Einen zusätzlichen Sonderpädagogen
brauchte er nicht. Die Lehrer haben sich auch nicht darüber beschwert, dass sie
mehr arbeiten mussten.
Eine
Mathelehrerin sagte, als wir sie fragten, wie denn Christophs Nachteil bei den
Klassenarbeiten ausgeglichen werden könnte, ihr sei wichtig, das ein Schüler
rechnen könne und nicht wie schnell. Am Schwimmunterricht konnte mein Sohn
trotz Epilepsie teilnehmen, weil ich ihn regelmäßig begleitet habe und damit
den Lehrer entlasten konnte. Leider ist heute ein so entspannter und
konstruktiver Umgang miteinander seltener geworden. Alle Eltern wollen ihrem
Kind – egal ob mit oder ohne Förderbedarf – die beste Bildung ermöglichen. Das
ist nachvollziehbar, stellt die Institutionen aber vor große Herausforderungen.
Die Folgen habe ich gerade im letzten Jahr erlebt.
Christoph
war nach der zehnten Klasse und einer Wiederholung noch ein Jahr
schulpflichtig. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt erklärte sich seine
alte Schule bereit, ihn aufzunehmen. Er hätte nochmal die Prozentrechnung
wiederholen können oder in Hauswirtschaft das Kochen üben können. Der schnelle
Wiedereinstieg scheiterte an dem Antrag auf Schulbegleitung. Statt im Sommer
konnte Christoph erst im Herbst wieder den Unterricht besuchen. So etwas hatten
wir früher nie erlebt. Wir hatten immer wieder von engagierten Pädagogen
profitiert, die Christoph unbedingt fördern wollten.
Referat
statt Klassenarbeit
Meinem
Sohn fiel es zum Beispiel immer schwer, die Aufgaben einer Klassenarbeit in 45
Minuten zu bearbeiten. Deshalb haben es ihm die Lehrer ermöglicht, stattdessen
etwas anderes zu tun. Zum Beispiel hielt er in Biologie ein langes Referat über
Rot-Grün-Schwäche und musste dafür keine Arbeit mitschreiben. Im
Englischunterricht wurden seine Vokabel-Tests anders bewertet. Er durfte immer
beide Testvarianten bearbeiten und die richtigen Vokabeln wurden für die
Bewertung zusammengezählt. Bei den längeren Klausuren durfte er Pausen machen.
Diese Ideen kamen von den Pädagogen selbst. Man hat einfach gespürt, dass sie
Christoph unbedingt unterstützen wollten, damit er den Abschluss schafft. Genau
von dieser Empathie lebt gute Inklusion, genau wie von Eltern und Mitschülern,
die offen mit den Kindern und ihrer Besonderheit umgehen.
Viele
Schulen sind nicht barrierefrei. Hilfsmittel und Schulbegleiter bewilligt zu
bekommen, ist nicht leicht. Gleichzeitig steigt die Zahl der Inklusionsschüler.
Trotzdem gibt es nicht mehr sonderpädagogisch ausgebildete Lehrkräfte und
Sozialpädagogen an den Regelschulen. Eine Folge: Vielen Pädagogen fehlt
schlicht die Zeit, um sich für gleich mehrere Schüler mit Behinderung zu
überlegen, wie die sich am besten entwickeln können.
Die
Lehrer brauchen aus meiner Sicht für die sehr heterogenen Klassen mehr
Entlastung und mehr methodische und didaktische Freiheit. Sonst sind alle
Beteiligten mindestens verunsichert, wenn nicht wütend. Die Eltern von Kindern
mit Behinderungen flüchten wieder auf die Förderschule, die Lehrer sind
frustriert und die Eltern der Regelkinder machen sich Sorgen, dass ihr
Nachwuchs gar nichts mehr lernt. Das ist sehr schade, denn Inklusion ist eine
gute Sache. Mein Sohn hat immer eine Regelschule besucht und erfolgreich seinen
Realschulabschluss gemacht. Ohne engagierte Lehrer und ihre individuellen
Lösungen wäre das wohl nicht möglich gewesen.
* Der Name wurde geändert
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