Muss die Schule alles tun, tut sie nichts mehr richtig. Wer nicht unter
den Bildungsreformen leiden will, weicht an Privatschulen aus. Das bedroht die
Kohäsionskraft der Volksschule, meint Carl Bossard.
Den Volksschulen drohen die Kinder abhandenzukommen, NZZaS, 16.7. von Carl Bossard
Addition ist eine der Kennziffern unserer Zeit. Die Devise: mehr und
immer mehr. Doch Gewinn ist meist mit Verlust verbunden und Abnahme stets auch
mit Zunahme. So lautet das Gesetz der Gegenbuchung. Es gilt auch für das
öffentliche Bildungssystem.
Die Volksschule hat in den letzten Jahren viele neue Aufgaben
übernommen, vermutlich zu viele. Sie muss integrieren und individualisieren,
sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren,
die hochdeutsche Sprache schulen und mathematisches Können entwickeln. Sie soll
in Themen von Natur, Mensch und Gesellschaft einführen, Musisches und Kreatives
fördern, ethisches Verhalten bestärken und die Kinder zur Freude an der
Bewegung ermutigen – und überdies das Lernen trainieren. Alles wird irgendwie
wichtig. Darum sind die Lehrpläne dichter und die Lehrmittel dicker geworden.
Doch wenn Prioritäten fehlen und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen
geschieden wird, verliert alles an Bedeutung.
Manches ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Die Folgen sind
spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab. Viele
Dinge werden nur noch flüchtig gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab.
Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück.
Unfertiges wird zum Dauerzustand. Alles ist bekanntlich der Feind von etwas.
Wer addiert, muss reduzieren. Zur Reduktion gehört das Automatisieren
zentraler Lernvorgänge. Üben wird geringgeschätzt, sturem Pauken, gar sinnlosem
Drill gleichgesetzt und mit einem Bannstrahl belegt. Aus Sicht der
Gedächtnispsychologie sind Vertiefen und Anwenden für einen lernwirksamen
Unterricht aber unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für
die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies Schreiben: Je mehr wir
etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir
es trainieren, sagt die Forschung. Genau dazu fehlt die Zeit. Dass jeder Fünfte
unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen
Grundkenntnisse verlässt, ist schlicht «ein Systemversagen», wie das Stefan C.Wolter,
der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, auf
den Punkt bringt. Er fügt bei: «Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von
19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro
Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.»
Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von
den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert. Lernschwächere und
mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Die Diffusionsprobleme steigen. Auch
das wissen wir aus der Forschung.
Darum haben viele Eltern das Gefühl: Mein Kind kommt nicht voran. Es
wird wohl aktiviert, doch es lernt zu wenig, und das Erarbeitete bleibt an der
Oberfläche. Abends müssen wir mit Nachhilfe vertiefen. Die Eltern wollen nicht
als Verlierer der Bildungsreformen dastehen. Im Gegenteil: Die Kinder sollen
die sozioökonomische Position ihrer Herkunft zumindest halten. Statusängste
sind in erster Linie Zukunftsängste. Darum erwarten sie für ihr Kind eine
solide Schulbildung. Diese Erwartungssicherheit schmilzt.
Das führt zu einer stillschweigenden Abkehr von der Volksschule und zum
momentanen Boom von Privatschulen – primär in wohlhabenden Gebieten und
Gemeinden. Allein der Kanton Zürich zählt 165 solcher Institutionen; seit 2010
bedeutet das einen Zuwachs von etwa 20 Prozent. Viele Eltern wünschen homogene
Klassen und greifen darum zum Teil tief in die Taschen. Das Schulgeld ist eine
Art Segregationsprämie.
Noch geniesst die Volksschule breites Vertrauen, doch ihre Kohäsionskraft
bröckelt. Die Emigration ist ein Faktum. Die Zahlen zeigen es: Rund fünf
Prozent der Schüler in der Schweiz gehen in eine Privatschule. Tendenz
steigend. Dadurch geht etwas verloren, was unseren Staat stark gemacht hat:
die soziale Durchmischung. Auch Bundesräte besuchten die Volksschule.
Das öffentliche Bildungssystem muss lernleistungsfähig und damit
attraktiv bleiben. Nur das verhindert den leisen Exodus. Eine Rückkehr zum
Eigentlichen und Wesentlichen tut darum not. Dazu zählt intensives Üben. Jede
junge Geigerin und jeder Juniorenfussballer weiss das; nur in der Schule
finden wir es altmodisch. Zu stärken ist auch die Rolle der Lehrperson. Sie ist
mehr als nur Lernbegleiterin oder Coach, mehr als Zulieferer von
Arbeitsblättern und PC-Programmen. Sie steuert den Unterricht. Wichtig ist ihr
eine intensiv und systematisch genutzte Lernzeit; sie findet dazu den
notwendigen Freiraum. Das wären zwei zentrale Additionen – und Kennzeichen
einer Schule mit hoher Lernwirksamkeit.
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