Das Kind im Kindergarten
fragte, weshalb die Menschen in Israel mit den Palästinensern streiten. Ein
anderes löcherte seine Mutter mit Fragen zur Kanalisation. Eine Vierjährige
wollte alles über den Tod wissen und wünschte sich, eine Leiche zu sehen: Wenn
kleine Kinder solche Fragen stellen, werden manche Eltern hellhörig – und
landen zum Beispiel bei Ania Chumachenco. Die Psychologin testet in ihrer
Zürcher Praxisgemeinschaft Kinder auf Hochbegabung, in einzelnen Fällen schon
Vier- und Fünfjährige.
Hochbegabte leiden schon im Kindergarten, Sonntagszeitung, 16.7. von Tina Huber
Es sind längst nicht mehr nur Eltern von Schulkindern, die sich
sorgen, ihr Nachwuchs sei intellektuell unterfordert. Die Anlaufstelle
Hochbegabung in Zürich nahm im letzten Jahr doppelt so viele Anrufe von Eltern
von Kindern im Vorschulalter entgegen. Rund 180-mal – also mehr als alle zwei Tage
– klingelte deswegen das Telefon. Hochbegabte Fünfjährige? Das klingt nach
Tiger Moms, die ihre Kinder am liebsten direkt vom Sandkasten in die Schule
schicken würden. Dieser Eindruck sei falsch, sagt Wolfgang Stern. Der Leiter
des von der Stiftung für hochbegabte Kinder getragenen Infotelefons nimmt
Anrufe aus der ganzen Schweiz entgegen: «Eltern sind unsicher – wenn sich die
Tochter oder der Sohn anders als die Nachbarskinder verhält, sorgen sie sich.»
Doch muss ein fünfjähriges Kind wissen, ob es hochbegabt ist? In
der Regel gar nicht, findet Stern: «Solange Eltern das Kind mit seinen Fragen
ernst nehmen und seine Neugier befriedigen, bringt die Diagnose Hochbegabung in
diesem Alter wenig.» Auch Psychologin Letizia Gauck sagt: «Es sollten keine
Abklärungen gemacht werden ohne Anlass.» Gauck leitet das Zentrum für
Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (Zepp) an der Universität Basel.
Besonders wichtig – in jedem Alter – seien Begabungstests, wenn
das Risiko bestehe, dass hohes Potenzial nicht erkannt werde: «Etwa bei Kindern
mit Deutsch als Zweitsprache, Kindern mit grossem Potenzial und
Aufmerksamkeitsdefizit – und sehr intelligenten Mädchen, die nicht auffallen
wollen.» Denn obwohl besondere Intelligenz gleichmässig auf die Geschlechter
verteilt ist, werden viel mehr Knaben als hochbegabt erkannt – weil sie
auffallen: Mädchen ziehen sich eher zurück, wenn sie unter ihrer Hochbegabung
leiden, während Knaben ihren Frust tendenziell nach aussen tragen und laut oder
aggressiv werden.
Hochbegabte sind nicht
öfter verhaltensauffällig
Solche Kinder sind Fälle für Caroline Benz. Die Fachärztin für
Kinderheilkunde leitet die Entwicklungspädiatrische Poliklinik am Kinderspital
Zürich. Sie untersucht verhaltensauffällige Kinder – auch solche mit hoher
Begabung. Benz berichtet von hyperaktiven und raufenden Schülern, von Kindern,
die sich zurückziehen und am Rande einer Depression stehen oder plötzlich über
Bauchschmerzen klagen: «Der Kinderarzt überweist sie mir mit der Frage ‹Ist
dieses Kind über- oder unterfordert?›.»
Ab einem IQ von 130 gilt jemand als kognitiv hochbegabt – zwei
Drittel der Menschen liegen bei einem Wert zwischen 85 und 115. Nur etwa zwei
Prozent bringen es auf 130 und mehr. Diagnostiziert Benz eine hohe Begabung,
ist diese meist auf ein Gebiet beschränkt: Beispielsweise ist ein Kind
sprachlich oder im abstrakt logischen Denken sehr talentiert, dafür im
Visuellen durchschnittlich oder sogar darunter.
Etwa 15 Prozent der hochbegabten Kinder leisten nicht das, was
ihrem Potenzial entspricht – zum Beispiel weil sie sich im Unterricht nur
langweilen oder in der Klasse ausgegrenzt werden. «Doch die meisten Kinder
leiden nicht an ihrer speziellen Begabung und werden auch nicht
verhaltensauffällig», sagt Caroline Benz.
Begabtenförderung schon in
der Kinderkrippe
Und was ist mit jenen Eltern, die überzeugt sind, ihr Sprössling
sei hochbegabt – und dann enttäuscht hören, dass das Kind ADHS hat? Das Basler
Zentrum Zepp erlebt solche Eltern – «aber nur in einer kleinen Minderheit», wie
Psychologin Giselle Reimann sagt. Diese Diagnosen seien schwierig zu
kommunizieren: Die Eltern haben sich fixe Erklärungen für das Verhalten ihres
Kindes zurechtgelegt – und greifen dann unter Umständen die Experten für deren
vermeintliche Fehleinschätzung an. Doch viel öfter, sagt Reimann, reagierten
die Eltern erschrocken, wenn sie vom hohen IQ ihres Kindes erfahren – oder sie
verheimlichten die Diagnose gar, um dem Stempel «überehrgeizige Eltern» zu
entgehen.
Wie kritisch Hochbegabte angegangen werden, zeigt der Fall von
Maximilian, dem bekanntesten Wunderkind der Schweiz. Der 13-Jährige mit einem
IQ von 149+ bestand mit neun Jahren die Matura, nächstes Jahr geht er an die
Uni. Seine Eltern wurden als Rabeneltern bezeichnet, die ihren Sohn der
Kindheit beraubten. Dabei sind gemäss Zepp 10 bis 15 Prozent der Schüler in
einzelnen Fächern unterfordert – also nicht nur Hochbegabte.
Das kann früh beginnen: Eine Studie zeigte 2005, dass mindestens
ein Fünftel der Erstklässler im Kanton Zürich so gut rechnen und lesen konnten,
dass sie in der zweiten Klasse zurechtgekommen wären. Experten fordern schon
lange einen flexiblen Schuleintritt. Glaubt man Psychologin Ania Chumachenco,
bräuchten selbst einige der Kleinsten im Kindergarten spezielle Förderung.
Doch sie ernte oft Kritik, wenn sie vorschlage, dass ein Kind eine Klasse
überspringe.
Die Anlaufstelle Hochbegabung kritisiert, dass Krippen und
Kindergärten besonders wissensdurstigen Kindern oft nicht gerecht würden. In
Deutschland gibt es Bestrebungen, dass bereits Kitas Talente erkennen und
fördern. Doch das ist in der Schweiz Wunschdenken: Hochbegabung sei kein Thema,
heisst es bei Kibesuisse, dem Verband Kinderbetreuung Schweiz. Auch die
Betreuerinnen hören davon nichts in der Ausbildung. Eine verpasste Chance, sagt
Sonja Fuchs, Leiterin der Krippe Chinderburg in Zürich. «Das Kita-Personal muss
sensibilisiert werden – das hat nichts mit Pushen zu tun.» Es gehe darum, dem
Kind die Freude am Lernen zu erhalten und Anzeichen von Frustration zu erkennen.
Oder erst einmal dem Kind seine Fragen beantworten: Das
vierjährige Mädchen, das vom Tod fasziniert war, wollte einen toten Menschen
sehen. Also gingen die Eltern mit ihm ins Krematorium und besichtigten eine
Leiche – die Kleine war zufrieden.
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