20. Juli 2017

Immer mehr Hochbegabte?

Das Kind im Kindergarten fragte, weshalb die Menschen in Israel mit den Palästinensern streiten. Ein anderes löcherte seine Mutter mit Fragen zur Kanalisation. Eine Vierjährige wollte alles über den Tod wissen und wünschte sich, eine Leiche zu sehen: Wenn kleine Kinder solche Fragen stellen, werden manche Eltern hellhörig – und landen zum Beispiel bei Ania Chumachenco. Die Psychologin testet in ihrer Zürcher Praxis­gemeinschaft Kinder auf Hochbegabung, in einzelnen Fällen schon Vier- und Fünfjährige.
Hochbegabte leiden schon im Kindergarten, Sonntagszeitung, 16.7. von Tina Huber


Es sind längst nicht mehr nur Eltern von Schulkindern, die sich sorgen, ihr Nachwuchs sei intellektuell unterfordert. Die Anlaufstelle Hochbegabung in Zürich nahm im letzten Jahr doppelt so viele Anrufe von Eltern von Kindern im Vorschulalter entgegen. Rund 180-mal – also mehr als alle zwei Tage – klingelte deswegen das Telefon. Hochbegabte Fünfjährige? Das klingt nach Tiger Moms, die ihre Kinder am liebsten direkt vom Sandkasten in die Schule schicken würden. Dieser Eindruck sei falsch, sagt Wolfgang Stern. Der Leiter des von der Stiftung für hochbegabte Kinder getragenen Infotelefons nimmt Anrufe aus der ganzen Schweiz entgegen: «Eltern sind unsicher – wenn sich die Tochter oder der Sohn anders als die Nachbarskinder verhält, sorgen sie sich.»

Doch muss ein fünfjähriges Kind wissen, ob es hochbegabt ist? In der Regel gar nicht, findet Stern: «Solange Eltern das Kind mit seinen Fragen ernst nehmen und seine Neugier befriedigen, bringt die Diagnose Hochbegabung in diesem Alter wenig.» Auch Psychologin Letizia Gauck sagt: «Es sollten keine Abklärungen gemacht werden ohne Anlass.» Gauck leitet das Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (Zepp) an der Universität Basel.

Besonders wichtig – in jedem Alter – seien Begabungstests, wenn das Risiko bestehe, dass hohes Potenzial nicht erkannt werde: «Etwa bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache, Kindern mit grossem Potenzial und Aufmerksamkeitsdefizit – und sehr intelligenten Mädchen, die nicht auffallen wollen.» Denn obwohl besondere Intelligenz gleichmässig auf die Geschlechter verteilt ist, werden viel mehr Knaben als hochbegabt erkannt – weil sie auffallen: Mädchen ziehen sich eher zurück, wenn sie unter ihrer Hochbegabung leiden, während Knaben ihren Frust tendenziell nach aussen tragen und laut oder aggressiv werden.

Hochbegabte sind nicht öfter verhaltensauffällig
Solche Kinder sind Fälle für Caroline Benz. Die Fachärztin für Kinderheilkunde leitet die Entwicklungspädiatrische Poliklinik am Kinderspital Zürich. Sie untersucht verhaltensauffällige Kinder – auch solche mit hoher Begabung. Benz berichtet von hyperaktiven und raufenden Schülern, von Kindern, die sich zurückziehen und am Rande einer Depression stehen oder plötzlich über Bauchschmerzen klagen: «Der Kinderarzt überweist sie mir mit der Frage ‹Ist dieses Kind über- oder unterfordert?›.»

Ab einem IQ von 130 gilt jemand als kognitiv hochbegabt – zwei Drittel der Menschen liegen bei einem Wert zwischen 85 und 115. Nur etwa zwei Prozent bringen es auf 130 und mehr. Diagnostiziert Benz eine hohe Begabung, ist diese meist auf ein Gebiet beschränkt: Beispielsweise ist ein Kind sprachlich oder im abstrakt logischen Denken sehr talentiert, dafür im Visuellen durchschnittlich oder sogar darunter.

Etwa 15 Prozent der hochbegabten Kinder leisten nicht das, was ihrem Potenzial entspricht – zum Beispiel weil sie sich im Unterricht nur langweilen oder in der Klasse ausgegrenzt werden. «Doch die meisten Kinder leiden nicht an ihrer speziellen Begabung und werden auch nicht verhaltensauffällig», sagt Caroline Benz.

Begabtenförderung schon in der Kinderkrippe
Und was ist mit jenen Eltern, die überzeugt sind, ihr Sprössling sei hochbegabt – und dann enttäuscht hören, dass das Kind ADHS hat? Das Basler Zentrum Zepp erlebt solche Eltern – «aber nur in einer kleinen Minderheit», wie Psychologin Giselle Reimann sagt. Diese Diagnosen seien schwierig zu kommunizieren: Die Eltern haben sich fixe Erklärungen für das Verhalten ihres Kindes zurechtgelegt – und greifen dann unter Umständen die Experten für deren vermeintliche Fehleinschätzung an. Doch viel öfter, sagt Reimann, reagierten die Eltern erschrocken, wenn sie vom hohen IQ ihres Kindes erfahren – oder sie verheimlichten die Diagnose gar, um dem Stempel «überehrgeizige Eltern» zu entgehen.

Wie kritisch Hochbegabte angegangen werden, zeigt der Fall von Maximilian, dem bekanntesten Wunderkind der Schweiz. Der 13-Jährige mit einem IQ von 149+ bestand mit neun Jahren die Matura, nächstes Jahr geht er an die Uni. Seine Eltern wurden als Rabeneltern bezeichnet, die ihren Sohn der Kindheit beraubten. Dabei sind gemäss Zepp 10 bis 15 Prozent der Schüler in einzelnen Fächern unterfordert – also nicht nur Hochbegabte.

Das kann früh beginnen: Eine Studie zeigte 2005, dass mindestens ein Fünftel der Erstklässler im Kanton Zürich so gut rechnen und lesen konnten, dass sie in der zweiten Klasse zurechtgekommen wären. Experten fordern schon lange einen flexiblen Schuleintritt. Glaubt man Psychologin Ania Chumachenco, bräuchten selbst einige der Kleinsten im Kinder­garten spezielle Förderung. Doch sie ernte oft Kritik, wenn sie vorschlage, dass ein Kind eine Klasse überspringe.

Die Anlaufstelle Hochbegabung kritisiert, dass Krippen und Kindergärten besonders wissensdurstigen Kindern oft nicht gerecht würden. In Deutschland gibt es Bestre­bun­gen, dass bereits Kitas Talente erkennen und fördern. Doch das ist in der Schweiz Wunschdenken: Hochbegabung sei kein Thema, heisst es bei Kibesuisse, dem Verband Kinderbetreuung Schweiz. Auch die Betreuerinnen hören davon nichts in der Ausbildung. Eine verpasste Chance, sagt Sonja Fuchs, Leiterin der Krippe Chinderburg in Zürich. «Das Kita-Personal muss sensibilisiert werden – das hat nichts mit ­Pushen zu tun.» Es gehe darum, dem Kind die Freude am Lernen zu erhalten und Anzeichen von Frustration zu erkennen.

Oder erst einmal dem Kind seine Fragen beantworten: Das vierjährige Mädchen, das vom Tod fasziniert war, wollte einen toten Menschen sehen. Also gingen die Eltern mit ihm ins Krematorium und besichtigten eine Leiche – die Kleine war zufrieden.


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