Stolz eröffnete die Berner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher (GB)
letzten Sommer ein saniertes Schulhaus an der Morgartenstrasse: Am ehemaligen
Standort der Fachhochschule für Wirtschaft neben der Wankdorf-Schule sind
seither 16 Sonderklassen untergebracht: für Kinder, welche die Sprachheilschule
oder heilpädagogischen Unterricht besuchen.
Autorin Sahli: Integration gelingt auch in Regelklassen. Bild: Tanja Buchser
Sind 27 Sonderklassen zu viel? Berner Zeitung, 3.6. von Esther Diener-Morscher
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«Warum richtet die Stadt ein solches sehr teures Sonderschulzentrum ein,
wenn das Ziel der Schulbehörden doch eigentlich sein müsste, alle Kinder in der
normalen Volksschule zu unterrichten?» Das fragt sich die Bildungsexpertin
Caroline Sahli, Leiterin des Forschungsschwerpunkts Inklusive Bildung an der
Pädagogischen Hochschule Bern (PH Bern).
Sonderklassen sind an einem Ort gebündelt
Caroline Sahli und ihr Team haben kürzlich ein Buch und einen Film
fertiggestellt, die zeigen, was Schulen tun können, damit sie alle Kinder –
auch «schwierige» Kinder und solche mit Behinderungen – in der Volksschule
unterrichten können.
Inklusion heisst der Fachbegriff dafür. Die Berner Lorraine-Schule
diente Caroline Sahli in ihrer Arbeit als eines der Beispiele für eine Schule,
die auf dem Weg ist, möglichst alle Kinder in den Regelklassen zu unterrichten.
Das entspricht auch der städtischen Bildungsstrategie.
In der Bildungsforschung sei man sich einig, sagt Caroline Sahli: «Die
Schulen sollten wegkommen von Sonderklassen. Integration kann durchaus gelingen
und ist der richtige Weg, Chancengleichheit für alle herzustellen.»
Deshalb bedauert die Expertin, dass die Stadt im Wankdorf ihre
Sonderklassen an einem Ort bündelt. Und dass sie eine weitere grössere
Sonderschule plant: Die derzeit 7 Klassen der Heilpädagogischen Schule sollen
aus dem sanierungsbedürftigen Schulhaus an der Tscharnerstrasse beim
Eigerplatz ausziehen und in einen Neubau mit mehr Klassenräumen neben dem
Statthalter-Schulhaus in Bümpliz wechseln.
Für Caroline Sahli ist das widersprüchlich: «Einerseits will die Stadt
möglichst viele Kinder in die normalen Klassen integrieren. Andererseits wird
viel Geld in neue Standorte für Sonderschulen und Sonderklassen investiert.»
Solche zentralen Standorte, findet sie, seien einerseits eine sehr
starke Form von Abtrennung. Anderseits kritisiert sie: «Die Mittel, die in eine
Sonderklasse gesteckt werden, fehlen bei der Integration der Kinder in die
Regelklassen.»
Sie befürchtet ausserdem: «Solange es Sonderklassen gibt, haben die
Schulen weniger Motivation, sich um Integration zu bemühen. Mit den
Sonderklassen existiert ja immer ein Hintertürchen.»
Für die Stadt geht es nicht ganz ohne Sonderklassen
Irene Hänsenberger, die Leiterin des Schulamts der Stadt Bern, kontert
Sahlis Kritik. Für sie sind die Sonderklassen kein Hintertürchen, sondern
nötig. «Es gibt Kinder, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie den
normalen Unterricht auch mit der grössten Unterstützung gar nicht
durchstünden.»
In einer normalen Klasse seien sie völlig überfordert, statt dass sie
profitieren würden. Diese Meinung vertritt auch der kantonale Erziehungsdirektor
Bernhard Pulver (Grüne).
Irene Hänsenberger räumt aber auch ein: «Die grosse Herausforderung ist,
herauszufinden: Welche Kinder brauchen den geschützten Rahmen einer
Sonderklasse, und welche könnten mit der geeigneten Unterstützung die
Volksschule besuchen?»
Caroline Sahli hat aufgrund ihrer Forschungsarbeit festgestellt: Ob ein
Kind in eine Sonderschule kommt oder nicht, hängt oft weniger von der Schwere
seiner Beeinträchtigung ab als vielmehr von der Motivation der Eltern und den
Möglichkeiten der Schule, das Kind in eine normale Klasse zu integrieren:
Gebildete Eltern sorgen laut Sahli häufiger dafür, dass ihre Kinder trotz Beeinträchtigung
in eine Regelklasse kommen, als weniger gebildete.
Und: Schulen, die Kinder in eine Sonderklasse abgeben können, nutzen
diese Möglichkeit auch. Was dazu führt, dass es stark vom Schulort abhängt, ob
ein Kind eine Sonder- oder eine Regelklasse besucht.
Integration wird im Kanton kontrovers diskutiert
Irene Hänsenberger betont indessen: «Ich stehe voll dahinter, dass die
Schulen offen sein müssen und keine Kinder ausgrenzen dürfen. Aber dazu braucht
es auch mehr Fachleute und Geld.» Was letztlich teurer ist, Sonderschulen oder
die Integration in den Volksschulen, könne sie nicht beantworten, sagt Irene
Hänsenberger.
Die Frage lässt sich wohl auch kaum beantworten: In Deutschland
kritisieren zum Beispiel viele Eltern und Sonderschullehrer integrative
Regelklassen. Diese seien vor allem eine Sparmassnahme – weil Sonderschulen zu
teuer seien.
Auch im Kanton Bern wird die Integration kontrovers diskutiert. Manche
Lehrpersonen bemängeln, dass sie so nicht mehr allen Schülern gerecht werden
können.
Die Vertreter der Total-Integration/Inklusion beziehen sich gerne auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. In internationalen Abkommen wird immer der kleinste gemeinsame Nenner angestrebt. Die UN-Konvention verlangt deshalb, dass die Staaten „Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden dürfen“ und die „Anerkennung der Notwendigkeit, die Menschenrechte aller Menschen mit Behinderungen, einschliesslich derjenigen, die intensivere Unterstützung benötigen, zu fördern und zu schützen.“ Das heisst, dass sie behinderte Kinder wie die übrigen Kinder (gratis) unter dem Dach der Volksschule beschulen, aber nicht, dass fortschrittliche Länder – wie die Schweiz -, die bereits spezielle Fachleute und Einrichtungen über die UN-Konvention hinaus haben, nun diese (aus Spar- oder ideologischen Gründen) abschaffen, auf das tiefe gemeinsame Niveau herunterfahren und sämtliche Kinder unbesehen in Einheitsklassen (Regelklassen) integrieren. Die spezialisierten Sonderschulen und Kleinklassen, die jetzt bereits grösstenteils abgeschafft wurden, haben bisher in einzigartiger Weise, die „intensivere Unterstützung, Förderung und Schutz“ der behinderten Kinder gemäss UN-Konvention gewährleistet. Was nun offenbar bei der Total-Integration in die Regelklassen nicht mehr gewährleistet ist.
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