4. Juni 2017

"Integration ist richtiger Weg zur Chancengleichheit für alle"

Stolz eröffnete die Berner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher (GB) letzten Sommer ein saniertes Schulhaus an der Morgartenstrasse: Am ehemaligen Standort der Fachhochschule für Wirtschaft neben der Wankdorf-Schule sind seither 16 Sonderklassen untergebracht: für Kinder, welche die Sprachheilschule oder heilpädagogischen Unterricht besuchen.
Autorin Sahli: Integration gelingt auch in Regelklassen. Bild: Tanja Buchser
Sind 27 Sonderklassen zu viel? Berner Zeitung, 3.6. von Esther Diener-Morscher

«Warum richtet die Stadt ein solches sehr teures Sonderschulzentrum ein, wenn das Ziel der Schulbehörden doch eigentlich sein müsste, alle Kinder in der normalen Volksschule zu unterrichten?» Das fragt sich die Bildungsexpertin Caroline Sahli, Leiterin des Forschungsschwerpunkts Inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Bern (PH Bern).

Sonderklassen sind an einem Ort gebündelt
Caroline Sahli und ihr Team haben kürzlich ein Buch und einen Film fertiggestellt, die zeigen, was Schulen tun können, damit sie alle Kinder – auch «schwierige» Kinder und solche mit Behinderungen – in der Volksschule unterrichten können.
Inklusion heisst der Fachbegriff dafür. Die Berner Lorraine-Schule diente Caroline Sahli in ihrer Arbeit als eines der Beispiele für eine Schule, die auf dem Weg ist, möglichst alle Kinder in den Regelklassen zu unterrichten. Das entspricht auch der städtischen Bildungsstrategie.

In der Bildungsforschung sei man sich einig, sagt Caroline Sahli: «Die Schulen sollten wegkommen von Sonderklassen. Integration kann durchaus gelingen und ist der richtige Weg, Chancengleichheit für alle herzustellen.»

Deshalb bedauert die Expertin, dass die Stadt im Wankdorf ihre Sonderklassen an einem Ort bündelt. Und dass sie eine weitere grössere Sonderschule plant: Die derzeit 7 Klassen der Heilpädagogischen Schule sollen aus dem sanierungsbedürftigen Schulhaus an der Tscharner­strasse beim Eigerplatz ausziehen und in einen Neubau mit mehr Klassenräumen neben dem Statthalter-Schulhaus in Bümpliz wechseln.

Für Caroline Sahli ist das widersprüchlich: «Einerseits will die Stadt möglichst viele Kinder in die normalen Klassen integrieren. Andererseits wird viel Geld in neue Standorte für Sonderschulen und Sonderklassen investiert.»

Solche zentralen Standorte, findet sie, seien einerseits eine sehr starke Form von Abtrennung. Anderseits kritisiert sie: «Die Mittel, die in eine Sonderklasse gesteckt werden, fehlen bei der Integration der Kinder in die Regelklassen.»

Sie befürchtet ausserdem: «Solange es Sonderklassen gibt, haben die Schulen weniger Motivation, sich um Integration zu bemühen. Mit den Sonderklassen existiert ja immer ein Hintertürchen.»

Für die Stadt geht es nicht ganz ohne Sonderklassen
Irene Hänsenberger, die Leiterin des Schulamts der Stadt Bern, kontert Sahlis Kritik. Für sie sind die Sonderklassen kein Hintertürchen, sondern nötig. «Es gibt Kinder, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie den normalen Unterricht auch mit der grössten Unterstützung gar nicht durchstünden.»

In einer normalen Klasse seien sie völlig überfordert, statt dass sie profitieren würden. Diese Meinung vertritt auch der kantonale Erzie­hungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne).
Irene Hänsenberger räumt aber auch ein: «Die grosse Herausforderung ist, herauszufinden: Welche Kinder brauchen den geschützten Rahmen einer Sonderklasse, und welche könnten mit der geeigneten Unterstützung die Volksschule be­suchen?»

Caroline Sahli hat aufgrund ihrer Forschungsarbeit festgestellt: Ob ein Kind in eine Sonderschule kommt oder nicht, hängt oft weniger von der Schwere seiner Beeinträchtigung ab als vielmehr von der Motivation der Eltern und den Möglichkeiten der Schule, das Kind in eine normale Klasse zu integrieren: Gebildete Eltern sorgen laut Sahli häufiger dafür, dass ihre Kinder trotz ­Beeinträchtigung in eine Regelklasse kommen, als weniger gebildete.

Und: Schulen, die Kinder in eine Sonderklasse abgeben können, nutzen diese Möglichkeit auch. Was dazu führt, dass es stark vom Schulort abhängt, ob ein Kind eine Sonder- oder eine Regelklasse besucht.

Integration wird im Kanton kontrovers diskutiert
Irene Hänsenberger betont indessen: «Ich stehe voll dahinter, dass die Schulen offen sein müssen und keine Kinder ausgrenzen dürfen. Aber dazu braucht es auch mehr Fachleute und Geld.» Was letztlich teurer ist, Sonderschulen oder die Integration in den Volksschulen, könne sie nicht beantworten, sagt Irene Hänsenberger.

Die Frage lässt sich wohl auch kaum beantworten: In Deutschland kritisieren zum Beispiel viele Eltern und Sonderschullehrer integrative Regelklassen. Diese seien vor allem eine Sparmassnahme – weil Sonderschulen zu teuer seien.

Auch im Kanton Bern wird die Integration kontrovers diskutiert. Manche Lehrpersonen bemängeln, dass sie so nicht mehr allen Schülern gerecht werden können.


1 Kommentar:

  1. Die Vertreter der Total-Integration/Inklusion beziehen sich gerne auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. In internationalen Abkommen wird immer der kleinste gemeinsame Nenner angestrebt. Die UN-Konvention verlangt deshalb, dass die Staaten „Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden dürfen“ und die „Anerkennung der Notwendigkeit, die Menschenrechte aller Menschen mit Behinderungen, einschliesslich derjenigen, die intensivere Unterstützung benötigen, zu fördern und zu schützen.“ Das heisst, dass sie behinderte Kinder wie die übrigen Kinder (gratis) unter dem Dach der Volksschule beschulen, aber nicht, dass fortschrittliche Länder – wie die Schweiz -, die bereits spezielle Fachleute und Einrichtungen über die UN-Konvention hinaus haben, nun diese (aus Spar- oder ideologischen Gründen) abschaffen, auf das tiefe gemeinsame Niveau herunterfahren und sämtliche Kinder unbesehen in Einheitsklassen (Regelklassen) integrieren. Die spezialisierten Sonderschulen und Kleinklassen, die jetzt bereits grösstenteils abgeschafft wurden, haben bisher in einzigartiger Weise, die „intensivere Unterstützung, Förderung und Schutz“ der behinderten Kinder gemäss UN-Konvention gewährleistet. Was nun offenbar bei der Total-Integration in die Regelklassen nicht mehr gewährleistet ist.

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