«Immersion» lautet zurzeit eines der
neudeutschen Schlagworte der Reformpädagogen. Hinter der Idee des
Immersionsunterrichts steht die Auffassung, man lerne eine Fremdsprache viel
besser, wenn man sich mit ihr, neben dem eigentlichen Fremdsprachenunterricht,
in möglichst vielen Situationen auseinandersetze. In Bezug auf das Englische
findet dies im täglichen Leben, etwa bei der Arbeit am Computer oder beim
Anhören der weltweit dominanten englischsprachigen Musik, statt. So weit, so
gut. Seit einigen Jahren wird diese Lernsituation auch im Schulunterricht in
ausgewählten Fächern genutzt. Neben Mathematik, Physik, Biologie, Wirtschaft
und Recht ist es das Fach Geschichte, das in einer immer grösseren Zahl von
Schulen nicht mehr deutsch, sondern englisch unterrichtet wird. Das kann nicht
unwidersprochen bleiben.
Geschichte auf Englisch - eine Kritik, St. Galler Tagblatt, 19.6. von Mario Andreotti
Machen wir uns nichts vor: Die in Pädagogen- und vor allem in Wirtschaftskreisen vielgehörte Meinung, Englisch sei
eine eher leichte Sprache, jedenfalls leichter als Französisch oder gar als
Deutsch, ist eine Mär, mit der wir endlich aufräumen sollten. Englisch ist ganz
im Gegenteil eine hochkomplexe, äusserst differenzierte Sprache (sie hat rund
100000 Wörter mehr als das Deutsche), die sowohl im Bereich der Grammatik als
auch in dem der Idiomatik von den Lernenden sehr viel abverlangt. Und
ausgerechnet in dieser anspruchsvollen Fremdsprache soll in unseren Schulen ein
Fach wie Geschichte unterrichtet werden, in dem es um ein vertieftes
Verständnis vielschichtiger politischer, sozialer und kultureller Prozesse
geht. Das kann nicht gut gehen.
Zum einen bezweifle ich, dass
Geschichtslehrer, die nicht auch Anglistik studiert haben,
in der Lage sind, das Fach Geschichte auf gymnasialem Niveau englisch adäquat
zu unterrichten. Da bringen auch ein paar Weiterbildungskurse nichts. Und zum
andern hat schon Hans Fässler, der als Gymnasiallehrer Historiker und Anglist
ist, zu Recht darauf hingewiesen, dass im Immersionsfach Geschichte «auch gute
Schülerinnen und Schüler noch im Jahr vor der Matura an ihre Grenzen kommen,
wenn es um das Formulieren komplexer Zusammenhänge geht».
Was bedeutet das konkret? Das bedeutet
nichts weiter, als dass im Fach Geschichte eine
vertiefte Bildung gar nicht mehr möglich ist, weil der zu unterrichtende Stoff
irgendwo an der Oberfläche bleibt. Oder sagen wir es noch deutlicher: Das
Immersionsfach Geschichte droht zum reinen Steigbügelhalter für zusätzliche
Englischlektionen zu werden. Dass dabei auch die deutsche Sprache, der
zahlreiche wertvolle Lektionen verloren gehen, einmal mehr zur Verliererin
wird, macht das Ganze nur noch bedenklicher, zumal es an vielen Schweizer
Gymnasien Vorschrift ist, dass selbst Maturaarbeiten im Fach Geschichte in
Englisch verfasst und präsentiert werden müssen.
Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass sich hinter der Idee des Immersionsunterrichts handfeste ökonomische
Interessen verbergen. Englisch ist heute die Weltsprache der Wirtschaft. Über
sie, wenn auch nicht ausschliesslich, zieht die Werbewirtschaft ungefiltert in
unsere Bildungsinstitutionen ein. Kinder und Jugendliche sollen für die
Wirtschaft fit gemacht, sollen letztlich als Konsumenten gewonnen werden.
Diesem ökonomischen Endzweck hat selbst ein Kulturfach wie Geschichte zu
dienen.
Schliesslich ist da noch ein weiteres
Moment, das uns nicht gleichgültig lassen kann.
Geschichte ist ja immer auch Kulturgeschichte, in eine bestimmte Sprache,
Tradition und Mentalität eingebettet. Ist daher die Vermutung, dass hinter der
Geschichte als Immersionsfach eine geheime Agenda, eine politische Absicht
steckt, so verwegen? Die Absicht nämlich, Nationalstolz und Patriotismus
zurückzudrängen, um die Akzeptanz für die internationale Einbindung der
Schweiz, letztlich für die politische und ökonomische Globalisierung zu
erhöhen. Man braucht diese Vermutung nicht zu teilen, aber man soll sie zur
Kenntnis nehmen. Und darüber nachdenken.
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